Sozialistische Zeitung |
Nach dem jüngsten Skandal um den Chef des thüringischen Verfassungsschutzes (VS) Roewer und den VS-Spitzel und Neonazi
Thomas Dienel haben Sie für die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) die Amtsenthebung von Roewer gefordert.
Stellt sie die vorläufige Suspendierung Roewers zufrieden? Erwarten Sie, dass sich damit etwas an der Arbeit des Verfassungsschutzes
ändern wird?
Angelo Lucifero: Unsere Hoffnung ist ja, dass es nicht bei der vorläufigen Suspendierung bleibt und danach sieht es ja auch aus. Das
bedeutet allerdings nicht, dass damit das Problem des Handelns des Verfassungsschutzes gelöst ist. Roewer ist zwar ein Problem an sich,
in ihm verbinden sich Inkompetenz mit gleichzeitiger großer Blindheit auf dem rechtem Auge, höflich formuliert - man könnte
auch sagen mit einer starken Rechtslastigkeit
Aber es gibt noch das zweite Problem, nämlich die Funktion und
Struktur von Verfassungsschutzorganen, die nur einer Logik folgen: Die Mitte der Gesellschaft ist in Ordnung und an den Rändern, rechts
wie links, gibt es störende Faktoren, die es zu bekämpfen gilt. Diese Problem ist natürlich mit dem Rückzug von
Roewer nicht gelöst.
Die Affäre um Dienel belegt nur insgesamt das Problem des
thüringischen Verfassungsschutzes. Dienel ist im Grunde genommen seit 1993 in der thüringischen Nazi-Szene bedeutungslos. Er
wurde sogar seinerzeit aus dem Rudolf-Hess-Aktionskomitee ausgeschlossen. Eigentlich hat er keine Funktion mehr gehabt, von der man
hätte vermuten können, dass er an wertvolle Informationen für den Verfassungsschutz herankommt.
Thüringen ist dafür bekannt, dass Rechtsextremisten hier in großen Teilen der Bevölkerung Akzeptanz
genießen. Wie kommt es, dass gerade in Weimar mehrfach erfolgreich NPD-Aufmärsche verhindert werden konnten?
Auch Thüringen ist natürlich kein monolithischer Block und in
Weimar wirkten auch mehrere Komponenten zusammen: Einerseits ein Bürgermeister, der stark besorgt ist um das Ansehen Weimars. In
der Stadtführung besteht ebenfalls großes Interesse an einer weltoffenen Stadt. Neben der Sorge um das Ansehen der Stadt ging es
aber auch um eine Ablehnung neonazistischer und rassistischer Haltungen. Außerdem musste die Stadt befürchten, dass sich eine
ähnliche Konstellation wie in Saalfeld entwickelt, wenn sie nicht selbst agiert und ein offenes Bündnis eingeht. Gewerkschaften
und Antifaschisten hätten mobilisiert und damit wäre eine Situation entstanden, in der die Stadt sich de facto hinter die Nazis stellt.
So konnte unter dem Motto "Bunte Vielfalt statt braune Einfalt", dass auch die Stadt getragen hat, Widerstand organisiert werden. Es
hat sich dann ein Bündnis entwickelt, das von der CDU bis zu autonomen Gruppen reichte. Diese Konstellation ist in Thüringen
noch einmalig.
In Bad Blankenburg oder in Pößneck, die man schon als
national befreite Zonen bezeichnen kann, ist die Reaktion der Städte eine völlig andere, nämlich das Problem kleinreden und
links und rechts gleichsetzen. Anlässlich des Brandanschlages auf die Erfurter Synagoge wurde mit der Stimmen der CDU/SPD/PDS eine
Extremismuserklärung des Thüringer Landtages verabschiedet, die sich gleichermaßen gegen rechts und links
wenden.
Welche Rolle spielen diese Aufmärsche für die Strategie der NPD?
Die NPD ist dabei sich, neu zu strukturieren. Einerseits sieht sie, dass sie
vorläufig keine Chancen hat auf parlamentarischem Wege erfolgreich sein und setzt daher auf außerparlamentarische Aktionen. Der
zweite Punkt ist, dass sie versucht, immer mehr Neonazis und andere Faschisten aus der militanten Szene an sich zu binden, wie die Freien
Kameradschaften, den Thüringer Heimatschutz, oder die Anti-Antifa, um aktionsfähig zu sein.
Die Aufmärsche haben daher weniger die Funktion, in der
Bevölkerung für sich zu werben, als vielmehr Kraft zu dokumentieren und solche Leute an sich zu binden, die sie über
parlamentarische Strategien eher abschrecken würden. Das war ja auch die Erfahrung der NPD in den letzten Jahren, dass sie es
über die "Nadelstreifen-Faschisten-Strategie" nicht geschafft hat, ihre Basis zu verbreitern. Seit sie seit etwa einem Jahr
zusätzlich eine außerparlamentarische Strategie eingeschlagen hat, die bis zur Unterstützung terroristischer Aktivitäten
reicht, entwickelt sich eine breite Basis und die Möglichkeit, auch militante Gruppen an sich zu binden.
Mit den Aufmärschen am 1.Mai versuchen sie natürlich auch
Leute, die mit der sozialen Entwicklung unzufrieden sind, zu binden. Dazu benutzen sie eine pseudolinke Position, die antikapitalistisch und
antiimperialistisch formuliert wird - und das ist zur Zeit relativ erfolgreich.
Dieser angebliche Antikapitalismus ist also reine Taktik?
Ja. Aber es wäre eine Unterschätzung der Gefahr das als reine
Sozialdemagogie abzutun. Für die Menschen, die dem folgen, ist das natürlich keine taktische Variante, sondern sie glauben, dass
das der richtige Weg ist. Deshalb haben die Neonazis auch besonderen Erfolg in der ehemaligen DDR, weil sie nur die Versatzstücke des
DDR-Internationalismus für das Scheitern der DDR verantwortlich machen. Deshalb fühlen sich auch Leute angesprochen, die
eigentlich PDS-Klientel wären, oder früher SED-Leute waren.
Inwiefern tragen nicht auch die Gewerkschaften Schuld daran, dass die soziale Frage zunehmend national besetzt wird?
Ich denke, die Gewerkschaften haben unbewusst dazu beigetragen.
Einerseits durch das Vertreten der Standortlogik und andererseits durch die Illusion, dass die soziale Frage per se fortschrittlich sei - das ist
eine Legende. Historisch gesehen ist dieses nationalsozialistische Programm, mit der Betonung auch auf Sozialismus keine neue Strategie der
Nazis. Im italienischen Faschismus wurde es sogar zur Regierungszeit in den 20er und 30er Jahren praktiziert und auch in der NSDAP gab es
entscheidende Strömungen, die sich nur nicht durchsetzen konnten.
Wir haben nicht dafür gesorgt, dass wenn "Arbeit für alle
gefordert wird oder wir von Solidarität sprechen, wirklich alle Menschen, gleichgültig ob illegale Einwanderer oder
Flüchtlinge, gemeint sind und nicht nur die InländerInnen. Deshalb können die Neonazis die soziale Frage teilweise für
sich besetzen. Allerdings gibt es mittlerweile einen Umdenkungsprozess in den Gewerkschaften. Es wird zunehmend erkannt, dass wir in der
Vergangenheit zu wenig dafür gesorgt haben, dass Gewerkschaftsmitglieder gegen national-sozialistische und rassistische Forderungen
immun sind.