| Sozialistische Zeitung |
Als "weitere ethnische Säuberung" bezeichnete der zimbabwische Gesundheitsminister,
Timothy Stamps, die Weigerung westlicher Pharmahersteller, preiswerte Varianten von AIDS-Medikamenten auf den Markt zu bringen. Das
war im Januar. Vier Monate später erklären die UNO und fünf internationale Pharmakonzerne, dass man sich geeinigt habe,
größere Mengen Arzneimittel billiger als bisher anzubieten. Dazu bedurfte es erst des Drucks mehrerer großer internationaler
Konferenzen, afrikanischer Regierungen und NGOs. Und horrender Statistiken: Das südöstliche Afrika stellt laut WHO 4,8% der
Weltbevölkerung, aber die Hälfte der mit AIDS infizierten Menschen.
Abegail Ngoako hat zwei Schrankfächer voller Medikamente, ein
winziges Büro im Pfarrhaus, Zeit und jede Menge Mut und Kraft. Vor zwei Jahren hatte die 42-jährige Pfarrersfrau aus dem
Township Galeshewe nahe der Diamantenstadt Kimberley einen Workshop über AIDS-Aufklärung absolviert. Dann hatte sie auf
zahlreichen Veranstaltungen ihre Kenntnisse über den Umgang mit AIDS-Kranken weitergegeben. Schließlich fand sie es sinnlos,
nur über AIDS zu reden, anstatt die Betroffenen direkt zu betreuen.
Die gläubige Anglikanerin wollte nichts predigen, was sie nicht
selbst in die Tat umsetzte. Im Mai 1999 liefen ihr dann Gladis und Elizabeth über den Weg. Sie waren auf der Suche nach Spenden
für ihre Gruppe People With AIDS (PWA). Die Frauen kamen ins Gespräch. "Am Ende gestanden sie mir, dass sie selbst
HIV-positiv sind", erinnert sich Abegail, "und ich hatte mir nichts mehr gewünscht, als solche Menschen zu treffen. Trotzdem
war ich ganz durcheinander. Ich hatte kleine, dünne Menschen im Bett erwartet. Nicht Leute, die so aussahen wie ich."
Abegail machte sich an die Arbeit. Sie erfuhr, dass die AIDS-Kranken im
letzten Stadium kein Bett in den Krankenhäusern bekamen und dass auch die Schwestern in den ambulanten clinics damit völlig
überfordert waren.
In einem halben Jahr baute Abegail ein einzigartiges Projekt auf. Sie ist die
einzige gesunde Person, die alle 96 AIDS-Kranken in Galeshewe kennt. In Kimberley, im Herzen Südafrikas, leben die Bergarbeiter der
Diamantenminen und ihre Familien in den typischen, viel zu kleinen Häuschen südafrikanischer Schwarzensiedlungen. Auch nach
sechs Jahren Demokratie hat sich dort nicht viel verändert. Viele Menschen sind arbeitslos; Armut ist weit verbreitet. Es gibt nur eine
kleine Gesundheitsstation. Die Schwestern sind froh, die AIDS-Kranken zu Abegail schicken zu können. Die sammelt Geld für
Medikamente, macht Krankenbesuche, berät die Familienangehörigen und bringt den Todgeweihten Trost.
AIDS ist Abegails Alltag. Und den zeigt sie ganz nüchtern auch den
Besuchern aus dem Ausland. Als erste besuchen wir Elizabeth, die damals an Abegails Gartentor aufgetaucht war. Die 31-jährige
stämmige Frau wirkt sehr kindlich. Die möglicherweise krankheitsbedingte Naivität macht es ihr möglich, ohne Scham
über ihr Schicksal zu sprechen. Denn sie wurde als 22-Jährige von drei ihr flüchtig bekannten Männern vergewaltigt.
Fünf Jahre später erkrankte sie an schwerem Durchfall. Sie stimmte dem Bluttest zu. "Und dann hörte ich das Ergebnis -
ich habe viel geweint! Aber das Weinen hilft ja nicht. Es war hart, aber jetzt geht es mir gut."
Elizabeth hat seinerzeit Anzeige gegen die Männer erstattet, sie aber
später aus Angst wieder zurückgezogen. Jetzt überlegt sie, den Fall erneut aufzurollen. Denn letzte Woche hat sie bei einem
Vortrag über AIDS einen der Vergewaltiger wieder erkannt.
Gewalt gegen Frauen
Wie bei Elizabeth sind
Vergewaltigungen ein wichtiger Grund dafür, dass immer mehr Frauen in Südafrika an der Immunschwäche erkranken. Fast
ein Viertel der Frauen, die zu vorgeburtlichen Untersuchungen in die Kliniken kommen, sind mit HIV infiziert. Alle anderthalb Minuten wird in
Südafrika eine Frau vergewaltigt; wie in unseren Breiten häufig von Bekannten und Verwandten.
Gewalt gegen Frauen ist Teil der allgemein gestiegenen
Kriminalitätsrate. Nach Jahrzehnten gewaltsamer Unterdrückung der Schwarzen durch die weiße Minderheit scheinen sich
aufgestaute Aggressionen und Frustrationen über zerstörte Lebenswege auch gegen die Nächststehenden zu wenden.
Außerdem hat sich die Lebensrealität der Frauen im neuen Südafrika bisher nur auf dem Papier geändert.
Fortschrittliche Gleichstellungsgesetze und eine Frauencharta haben Armut, Analphabetismus und wirtschaftliche Abhängigkeit bislang
nicht beseitigen können. Vor allem auf dem Land und in den Kleinstädten, wo traditionelle Verhaltensregeln und Tabus noch volle
Geltung besitzen.
Zum Beispiel in Kuruman, 500 Kilometer nördlich der
Provinzhauptstadt Kimberley, in der Halbwüste Karoo. Auf der Gesundheitsstation warten zahlreiche Mütter mit ihren Kindern in
der Mittagshitze auf die Behandlung. Die clinic ist ein enger Flur, von dem rechts und links zwölf winzige Räume abgehen. In
einem hält Yvonne Holben Sprechstunde. Eingezwängt zwischen Liege, Waschbecken und Medizinschrank sitzt sie an einem
kleinen Schreibtisch.
Yvonne Holben arbeitet seit 40 Jahren als Krankenschwester und
beobachtet AIDS seit den späten 80er Jahren. Sie weiß, wie schwer es die Frauen haben, sich vor HIV/AIDS zu schützen.
"Die Männer weigern sich einfach, Kondome zu nehmen. Und das bringt die Frauen sehr in Verlegenheit," erklärt sie.
"Sie schauen mich mit großen Augen an, wenn ich sie auffordere, nicht mit ihren Männern zu schlafen, wenn die kein Kondom
benutzen wollen."
Und dann erzählt sie das Beispiel einer 30-jährigen Frau,
deren Mann nicht verhüten wollte. Aber diese junge Frau habe keine weiteren Kinder haben wollen. "Sie hatte den Verdacht, dass
der Mann das Kondom durchlöcherte, weil sie darauf bestanden hatte." Die Mutter von vier Kindern hatte Recht. Der
Schwangerschaftstests war positiv. "Und die Frau saß da und weinte sich die Augen aus", erzählt Yvonne Holben
grimmig, "‚Wie soll ich ein weiteres Kind aufziehen?, fragte sie immer wieder. Der Mann saß arbeitslos zu Hause und sie
hatte auch keine Arbeit."
Solche Geschichten treiben der engagierten Krankenschwester Yvonne
Holben, einer emanzipierten Frau, die in England und Zambia gelebt hat, die Zornesröte ins Gesicht. "Männer behandeln
Frauen wie Vieh," sagt sie düster. Frauen seien für südafrikanische Männer Bürger zweiter Klasse. Sie
müssten jedes Jahr Kinder kriegen, weil der Mann der Welt seinen Nachwuchs präsentieren wolle.
Dass es dem weiblichen nicht besser ergeht als den Müttern,
erschüttert Yvonne Holben ganz besonders. Als sie kürzlich die Mädchen einer Schulklasse aufforderte: "Ihr
müsst euch an Kondome gewöhnen, sonst werdet ihr sterben!", lautete der Einwand: "Aber, Schwester, sie
vergewaltigen uns." Täglich werden statistisch fünf Kinder in Südafrika vergewaltigt. Die Rate ist enorm gestiegen.
Auch weil die inzestuösen Übergriffe seit AIDS gestiegen sind.
Kinder und AIDS
Männer vergehen sich
an Kindern und Frauen. Mit welchen Konsequenzen, wird vielen erst beim HIV-Test im Rahmen der Schwangerschaftsbetreuung klar. Pieter
Jooste, Kinderarzt am Gemeindekrankenhaus in Kimbeley, fasst die Katastrophe in seinem Bereich nüchtern in Zahlen: Zwischen 10 und
30% der schwangeren Frauen sind HIV positiv. Ein Viertel der Babys dieser Frauen werden AIDS bekommen.
"Konkret heißt das: In unserer Provinz, dem Nord Kap, werden
jährlich 24000 Kinder geboren. Wenn 10% HIV positive Mütter sind, wären das 2400, und ein Viertel der Babys hieße
allein in dieser Provinz, dass 600 Kinder an AIDS erkranken, und 1800 werden wahrscheinlich irgendwann Waisen sein. Also reden wir
wirklich über ein sehr großes Problem."
Der HIV-Virus wird entweder während der letzten Phase der
Schwangerschaft, während der Geburt oder durchs Stillen von der Mutter auf das Ungeborene übertragen. Dieser
Übertragungsweg von den Müttern auf die Kinder ist neben dem Geschlechtsverkehr der zweithäufigste in Südafrika.
Die Ärzte diagnostizieren dann bei den Säuglingen und Kleinkindern die sog. "opportunistischen" Infektionen, die
aufgrund der Immunschwäche wiederholt auftreten: Lungen- und Lymphknotenentzündungen, Magenbeschwerden und Tuberkulose.
Den Ärzten bleibt nichts anderes zu tun, als diese Krankheiten zu
behandeln. "Wir stärken das Immunsystem mit Vitamin A und guter Ernährung", sagt Pieter Jooste, "und wir
beobachten, dass die Kinder die ersten Infektionen gut überstehen. Aber dann kommen sie immer wieder. 80% der Kinder unter zwei
Jahren sterben, die meisten an den opportunistischen Infektionen."
Ärzte, Krankenschwestern, Familien, Politiker - die ganze
südafrikanische Gesellschaft ist angesichts dieser Zahlen wie gelähmt, bewegt sich zwischen namenlosem Entsetzen und
hartnäckiger Verdrängung. Der Kinderarzt reagiert mit einer Mischung aus Durchhaltewillen und Pragmatismus. Es gehe in Afrika
nicht wie in der westlichen Medizin nur darum, zu heilen.
"Es geht auch um lindernde Fürsorge. Wir haben heute das
gleiche Gefühl wie die Menschen des Mittelalters während der großen Plagen. Manche Leute laufen davon. Aber andere
versuchen, ihrem Nächsten zu helfen. Und von diesem Standpunkt aus macht man weiter, verschafft dem Patienten ein wenig
Erleichterung, behandelt den Schmerz, versucht, die Unterernährung zu verhindern - und den Patienten nicht einfach zu entlassen, weil er
eine tödliche Krankheit hat."
Obwohl genau das in vielen Krankenhäusern passiert, wie
Schwestern und Ärzte hinter vorgehaltener Hand zugeben. Äußerst knappe Mittel - Mangel an Personal, Betten und vor allem
an Medikamenten - zwingen die Helfer vor Ort, knallhart zu entscheiden, für wen sich der Einsatz lohnt. Je höher die
Überlebenschancen, desto höher der Mitteleinsatz. Die anderen werden beraten und dann nach Hause geschickt. Dort sind sie der
Krankheit meist hilflos ausgeliefert.
Wie anfangs auch hierzulande oder in den USA gilt AIDS in
Südafrika als "schmutzige" Krankheit. Weil sie durch Sexualität übertragen wird, ist sie mit dem Stigma des
unlauteren Lebenswandels behaftet. Das ist der Grund, warum viele Kranke ihre Immunschwäche selbst der eigenen Familie
verheimlichen. Auch wenn die Ansteckungsgefahr durch falsche Behandlung dadurch erheblich steigt.
Die Kranken haben Angst, aus der Familie verstoßen oder aus dem
Haus geworfen zu werden. Eine Kollegin der Krankenschwester Yvonne Holben, Priscilla Diemene, erzählt im Krankenhaus von
Kuruman, dass viele Mütter ihre AIDS-kranken Kinder bei den Großmüttern zurücklassen und erst wieder kurz vor dem
Tod die letzte Pflege übernehmen.
"Viele Kranke werden auch auf der Straße gefunden", sagt
Priscilla Diemene weiter, "manche werden drangsaliert, beschimpft oder sogar körperlich angegriffen. Ich denke da an die
Geschichte einer Frau, die 1998 auf offener Straße gesteinigt wurde, weil sie sich öffentlich zu AIDS bekannt
hatte."
Aufklärung ja - Vorbeugung nein
Reichlich spät, im Herbst 1998, hat die südafrikanische
Regierung die erste landesweite AIDS-Konferenz veranstaltet und AIDS ein Jahr später zur nationalen Priorität erklärt.
Seitdem rufen Poster mit einem Kondom in den Farben der Nationalflagge in unzähligen öffentlichen Gebäuden den
Besuchern "Viva Condom!" zu. Überall liegen Faltblätter aus, Lehrer wurden in AIDS-Kurse geschickt und
Schüler aufgeklärt.
Aber bis heute gibt es keine Erstattung für Medikamente zur HIV-
Prävention oder AIDS-Behandlung. Südafrika hatte 1997 versucht, per Gesetz die Herstellung von Generika, billigen
Medikamenten, sowie Billigimporte etwa aus Thailand oder Indien zu erlauben. Daraufhin hatten 42 US-Firmen gegen die
südafrikanische Regierung geklagt und diese Klagen erst nach heftigen Protesten in den USA und Südafrika im Herbst letzten Jahres
zurückgezogen. Inzwischen haben einige dieser Konzerne Südafrika sogar hohe Rabatte für den Bezug von Medikamenten
eingeräumt. Aber die Regierung reagiert nicht.
Hermann Reuter von der Nichtregierungsorganisation Treatment Action
Campaign, die sich für AIDS-Kranke einsetzt, kritisiert, dass sich die Regierung "weigert, Lizenzen für Medikamente
herauszugeben". Die Kampagne fordert vor allem die staatlich finanzierte Behandlung schwangerer Frauen mit dem Medikament AZT, um
die Übertragung des HIV-Virus auf ihre Babys zu verhindern.
Eine Behandlung kostet umgerechnet etwa 120 Mark. Das könne die
Regierung durchaus finanzieren, meint Reuter. Außerdem würden dann mehr Frauen getestet und mehr Infektionen früher
diagnostiziert. "Zurzeit wissen nur 10% der Leute, die mit HIV leben, dass sie mit HIV leben." Doch die südafrikanische
Regierung winkte ab. Die Kosten seien zu hoch, hieß es. Der Kinderarzt Jooste aus Kuruman hält das für eine
Milchmädchenrechnung. Denn die Behandlung der opportunistischen Infektionen eines AIDS-infizierten Kindes koste rund 1700 Mark pro
Jahr.
Im März dieses Jahres nun kündigte die südafrikanische
Regierung eine Politik an, die in der Öffentlichkeit völliges Unverständnis hervorrief. Präsident Thabo Mbeki will
einen 30-köpfigen Beirat einsetzen, dem prominente sog. AIDS-Dissidenten aus den USA angehören sollen - also Wissenschaftler,
die alle bisherigen Erkenntnisse über die Seuche anzweifeln. Der Beirat soll grundsätzliche Fragen in Bezug auf AIDS neu
aufrollen: etwa ob HIV überhaupt AIDS verursacht, ob AIDS überhaupt ansteckend ist, ob AIDS sexuell übertragen wird und
ob Anti-HIV-Medikamente lebensverlängernde Wirkung haben.
Die bekannte Wochenzeitung Mail and Guardian kommentierte:
"Angesichts der Krise können wir von unserem Präsidenten legitimerweise erwarten, dass er für eine kohärente,
der breiten Öffentlichkeit verständliche, energische Politik nach besten wissenschaftlichen Erkenntnissen sorgt. Wir und andere
Kritiker des Präsidenten wollen niemandem, nicht mal einem Spinner, das Recht verweigern, konventionelle Wahrheiten in Frage zu
stellen. Der Punkt ist, dass Mbeki seinen Beruf völlig verfehlt, wenn er wissenschaftliche Erkenntnisse überprüfen will,
anstatt Politik zu machen, für die er gewählt worden ist."
Auch die Treatment Action Campaign reagierte scharf: "Das ist eine
Rechtfertigung für die unmoralische, unwissenschaftliche und ungesetzliche Entscheidung, schwangeren Frauen AZT oder Nevirapine
vorzuenthalten."
Die neue südafrikanische AIDS-Politik ist derart befremdlich, dass
einige Kommentatoren dahinter tiefe Ratlosigkeit vermuten und die irre Hoffnung, dass es das Monster AIDS vielleicht gar nicht gibt. Das
britische Bulletin South Scan hält dagegen, dass der kühl kalkulierende Mbeki Mittel sucht, um den politischen Druck der Anti-
AIDS Aktivisten durch Grundsatzfragen abzulenken.
Für diese Sicht der Dinge spricht auch die Tatsache, dass die
südafrikanische Regierung zwar das Budget für die AIDS-Politik um über 70% angehoben, die Mittel für NGOs wie
etwa die Treatment Action Campaign aber um über 40% gekürzt hat. Auch im Nationalen AIDS-Rat sitzt kein Vertreter der fast 200
AIDS-Organisationen.
Birgit Morgenrath (Rheinisches JournalistInnenbüro)