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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2000, Seite 4

Kosovo-Krieg ‘völkerrechtswidrig‘

Verfolgung von Kriegsgegnern vor dem Ende

Ein Plakat mit der Aufschrift "Ja, morden" und den Köpfen von Gerhard Schröder, Rudolf Scharping und Joseph Fischer, dazu der Satz "Kriegsdienste verweigern! Desertiert aus allen kriegsführenden Armeen!" - ist das eine Straftat? Nach Auffassung der Berliner Staatsanwaltschaft schon, die das Plakat als Aufruf zu einer Straftat, nämlich Fahnenflucht, wertete. Das Amtsgericht Berlin-Tiergarten schloss sich dem an und verurteilte im Dezember letzten Jahres Ralf Siemens von der Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär. Im Berufungsverfahren vor dem Landgericht Berlin wurde Siemens jetzt freigesprochen. Das Gericht teilte Siemens‘ Auffassung zum Kosovo-Krieg zwar nicht, gestand ihm aber das Recht auf freie Meinungsäußerung zu.
Bundesweit hatten Staatsanwaltschaften während und nach des Krieges gegen Jugoslawien Verfahren gegen KriegsgegnerInnen angestrengt, die zur Desertion aufgerufen hatten. Fälle von Fahnenflucht wurden in der Bundeswehr allerdings nicht bekannt. Die meisten Prozesse sind inzwischen beendet. So wurde im Juni auch Tobias Pflüger von der Informationsstelle Militarisierung (IMI) freigesprochen, "aufgrund Verjährung" wurde in Münster das Verfahren gegen Bernd Drücke, den presserechtlich Verantwortlichen der Zeitung Graswurzelrevolution, eingestellt.
In Berlin wurden im Laufe des Jahres die meisten UnterzeichnerInnen eines Aufrufes freigesprochen, der im April 1999 in der Taz erschienen war. Auch der Geschäftsführer der Taz wurde freigesprochen. In dem Aufruf hatte es an die Soldaten der Bundeswehr gerichtet geheißen: "Beteiligen Sie sich nicht mehr an dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Verweigern Sie die Befehle. Verlassen Sie die Bundeswehr!"
In einem der Prozesse urteilte ein Richter sogar, dass der Krieg der NATO gegen Jugoslawien völkerrechtswidrig gewesen sei. Es gab allerdings auch Verurteilungen, so gegen den Berliner Professor für Politikwissenschaft Wolf-Dieter Narr. Er wurde nach Angaben von ProzessbeobachterInnen mit der Begründung verurteilt, dass die Rechtmäßigkeit des Krieges für die Urteilsfindung keine Rolle spiele. Narr bezeichnete das Urteil als unsinnig und ging in Berufung.
Die Freisprüche in den Prozessen gegen die UnterzeichnerInnen der Taz-Anzeige wurden in der Regel mit dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung oder mit "Verbotsirrtum" begründet. Ein Verbotsirrtum liegt vor, wenn der/die TäterIn nicht weiß, dass seine/ihre Handlung verboten ist, und er/sie diesen Irrtum auch nicht vermeiden konnte. Konnte der Irrtum allerdings vermieden werden, so kann die Strafe gemildert werden. Bisher gab es in Berlin 32 Freisprüche, denen 7 Verurteilungen gegenüber stehen.
Eine Ausnahme von der Urteilsbegründung Meinungsfreiheit bzw. Verbotsirrtum machte ein Richter im Verfahren gegen Aris Christidis vor dem Amtsgericht Tiergarten. Er beurteilte den Krieg als "objektiv rechtswidrig, da er dem geltenden Völkerrecht zuwiderlief". Wären "die angesprochenen Soldaten der Bundeswehr dem Aufruf gefolgt, so hätten sie sich weder wegen Fahnenflucht noch wegen Gehorsamsverweigerung strafbar gemacht. Die Tatbestände der Gehorsamsverweigerung und der Fahnenflucht waren nicht eröffnet, weil der Einsatz der Bundeswehr gegen die Bundesrepublik Jugoslawien rechtswidrig war", so die Urteilsbegründung.
Im einzelnen sei mit dem Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien das absolute Gewaltverbot der UN-Charta gemäß Art.2 Abs.4 verletzt worden. Die von der Charta anerkannten Rechtfertigungsgründe für gewaltsames militärisches Handeln seien nicht gegeben gewesen. So habe kein Sicherheitsratsbeschluss vorgelegen und Jugoslawien haben kein Mitglied der Vereinten Nationen angegriffen. "Daran vermochte auch das gewaltsame Vorgehen des jugoslawischen Staates gegen die albanische Volksgruppe im Kosovo nichts zu ändern. Menschenrechtsverletzungen, die ein Staat gegen seine eigenen Bürger verübt, lassen sich nach herkömmlichem Völkerrecht nicht mit einem Angriff auf einen fremden Staat gleichsetzen."
Das Urteil aus Berlin wurde von der Friedensbewegung begeistert aufgenommen. "Deutscher Richter verurteilt Krieg und nicht Kriegsgegner", titelte etwa die Zeitschrift antimilitarismus information. Aus Sicht mancher KriegsgegnerInnen konnte über die Frage, ob der Aufruf zu Fahnenflucht strafbar ist, nur entschieden werden, wenn geklärt ist, ob der Krieg völkerrechtswidrig war. Während sie mit Grundgesetz und UN-Charta argumentierten, bemühten die Staatsanwaltschaften vor allem das Strafgesetzbuch und dessen §111 über "öffentlichen Aufruf zu einer Straftat".
Auch Tobias Pflüger, Geschäftsführer der Informationsstelle Militarisierung, hatte 1999 in Reden auf mehreren Ostermärschen die Soldaten aller Kriegsparteien aufgefordert, den Einsatzbefehl zu verweigern und zu desertieren. Insofern bestritt er die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft auch nicht, als im die Klageschrift zugestellt wurde, und erklärte, zukünftig in vergleichbaren Situationen genau so zu handeln. Vor Gericht bemühte er sich um den Nachweis, dass der Krieg völkerrechtswidrig war, und wurde am 28.Juni freigesprochen.
Prozessbeobachtern zufolge ließ der Tübinger Amtsrichter Hirn die Frage der Völkerrechtswidrigkeit des Krieges bewusst offen. Er gestand aber Pflüger zu, in der Situation des Krieges alle Erkenntnismittel ausgeschöpft zu haben. Pflüger habe daher von der Völkerrechtswidrigkeit des Krieges ausgehen dürfen und unterliege einem "Verbotsirrtum".
Pflüger selber bezeichnete den Freispruch als "zweitbestes" Ergebnis. Ihm wäre die Verurteilung des Krieges als völkerrechtswidrig am liebsten gewesen. Laut Jürgen Wagner von der IMI habe der Richter durchblicken lassen, dass er froh sei, nicht über die Völkerrechtswidrigkeit des Krieges entscheiden zu müssen. Zudem sei es auch bei ihm zu einem Umdenken über den Krieg gekommen, seit eine Vielzahl neuer Fakten in den Medien bekannt geworden seien, berichtet Wagner.

Dirk Eckert

Die taz-Anzeige ist im Internet zu finden unter www.userpage.fu-berlin.de/~ami/pdf/aufruf.pdf. Das zitierte Urteil findet sich unter www.userpage.fu- berlin.de/~ami/extra/prozesse/begruendung.htm.


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