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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2000, Seite 11

Erwerbslosendemo in Erfurt am 14.Juni

Damit Thüringen nicht ausblutet

Post der etwas besonderen Art erhielten Anfang Juni viele Thüringer Arbeitslose. Einmal fragte das Landesarbeitsamt Sachsen-Anhalt/Thüringen in einem Schreiben rund 3000 erwerbslose Fachkräfte, "ob sie sich vorstellen könnten, in Baden-Württemberg zu arbeiten". Dort würden dringend Fachkräfte gebraucht, besonders im Maschinenbau und in der Elektrotechnik. Stellenangebote an Thüringer für einen Arbeitsplatz im fernen Baden-Württemberg würden "passend zu ihrer Qualifikation unterbreitet", Mobilitätshilfen wie Trennungs- und Umzugkostenbeihilfe sollten "die Arbeitsaufnahme in einem anderen Bundesland" unterstützen.
Die andere Post kam vom DGB, der Arbeitsloseninitiative Thüringen e.V., Beschäftigungsgesellschaften und weiteren Trägern auf dem 2.Arbeitsmarkt. Sie boten keine Unterstützung an, sondern forderten die Erwerbslosen auf, sich am 14.Juni an der Großdemonstration für Arbeit und Beschäftigung vor der Messehalle Erfurt zu beteiligen.
In der nagelneuen ega-Messehalle fand zur gleichen Zeit eine Arbeitsmarktkonferenz des Thüringer Wirtschaftsministeriums statt, auf der u.a. die weiteren Linien der Arbeitsmarktpolitik im Freistatt festgezurrt und auch gleich noch belobigt werden sollten.
Zu den neuen Leitlinien gehört eine strikte Abkehr von der Arbeitsmarktpolitik der alten CDU/SPD-Landesregierung. Die war schon nicht ausreichend gewesen; die neue CDU-Alleinregierung will sie nun aber gänzlich opfern zugunsten einer immer rigoroseren Hinwendung zur "Förderung des 1.Arbeitsmarkts".
Rund 3000 erwerbslose Frauen und Männer, Facharbeiter und Ingenieure, Hochschulabsolventen und Jugendliche folgten am 14.Juni dem gemeinsamen Aufruf nach Erfurt.
Mit Bussen kamen sie aus ganz Thüringen, um "ihrem" Wirtschaftsminister Schuster (CDU), der seit den Landtagswahlen im September 1999 außer für die Wirtschaft auch noch für den Arbeitsmarkt zuständig ist, ihre Meinung zu seiner Politik zu sagen und notwendige Veränderungen zu fordern.
Thüringens DGB-Chef Frank Spieth konstatierte angesichts "übriggebliebener" 219000 Erwerbsloser im Freistaat ein "Ende der Thüringer Arbeitsmarktpolitik".
Während Wirtschaftsminister Schuster und seine aufgeblähte Presseabteilung eine Erfolgsbilanz nach der anderen verkünden, rechnete Spieth vor: Allein 1999 seien in Thüringen über 35000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze weggefallen. Seit April 1999 seien noch dazu 43000 Arbeitsplätze im öffentlich geförderten Arbeitsmarkt gestrichen worden.
Statt jedoch unter dem Druck der immer lauteren Rufe nach Effektivität angesichts solcher Zahlen seine Arbeitsmarktpolitik zu überdenken, regiere im Wirtschaftsministerium die Politik des "Weiter so!".
Die "direkte Wirtschaftsförderung" ist eine heilige Kuh, obwohl ihre Resultate vernichtend sind: Im vergangenen Jahr wurden über die Arbeitsmarktpolitik und über Instrumente wie die OFW-Förderung über eine Milliarde Mark in die Thüringer Wirtschaft gepumpt, die Zahl der Arbeitsplätze aber hat sich verringert, nicht erhöht!
Der 2.Arbeitsmarkt, die vielfältigen sozialen, kulturellen und anderen Träger geraten dabei an den Rand ihrer Existenz - und viele Erwerbslose an den Rand des sozialen Abgrunds. Für Schuster und Co. ist das jedoch kein Thema.
Schon jetzt ist es so, dass ABM, SAM und andere arbeitsmarktpolitische Fördermaßnahmen in Thüringen höchstens für sechs Monate bewilligt werden, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld begründen. Gleichzeitig startet das Wirtschaftsministerium mit den Arbeitsämtern und privaten Unternehmern abgestimmte Offensiven für Billigarbeitsplätze in Call-Centern oder bei Leiharbeitsfirmen. "Klare Perspektiven zur Beschäftigungssicherung sind das nicht", erklärte da nicht nur Frank Spieth.
Unter großem Beifall der erwerbslosen DemonstrantInnen übergab an diesem Vormittag der Präsident des Thüringer Erwerbslosnparlaments, Hans Hermann Hoffmann, dem Wirtschaftsminister einen Forderungskatalog.
Dieser Katalog "Für mehr soziale Sicherheit und öffentlich geförderte Beschäftigung" wurde im Mai auf der 5.Tagung des Erwerbslosenparlaments beschlossen. Die Erwerbslosenparlamentarier fordern darin nicht weniger als die "Aufrechterhaltung und Verstetigung einer aktiven Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau; tarifliche Entlohnung in öffentlich geförderter Beschäftigung; nachhaltige Beschäftigungsprogramme für Menschen ab 50 Jahre".
Zusammen mit diesen Forderungen unterbreiteten die Erwerbslosen gleichzeitig praktikable Vorschläge für einen dauerhaften zweiten Arbeitsmarkt: z.B. die Entwicklung eines "Jobrotationsprogramms", wo Erwerbslose zeitweilig, mindestens aber zwölf Wochen, auf qualifizierte Abeitsplätze mit tariflicher Entlohnung kommen; tarifliche Jobangebote von den Arbeitsämtern, aber auch eine "Sozialpauschale" zur Absicherung dringend notwendiger Arbeiten im kommunalen Sozialbereich.
Mit der Forderung nach einem thüringenweiten Sozialpass für Bedürftige und der Verabschiedung eines Thüringer Ehrenamtsgesetzes, einschließlich finanzieller Absicherung, bekräftigte das Thüringer Erwerbslosenparlament Positionen, die seit längerem auch von der parlamentarischen Opposition im Thüringer Landtag erhoben werden.
Michael Gerstenberger, arbeitsmarktpolitischer Sprecher in der Landtagsfraktion der PDS, bekräftigte in seiner Rede vor der Messehalle die Forderung der Erwerbslosen, es dürften den Unternehmern nicht Milliardengeschenke ohne jede Arbeitsplatzgarantie gemacht werden; er verlangte klare Perspektiven zur Beschäftigungssicherung und für mehr Arbeitsplätze im Land.
Wirtschaftsminister Schuster hatte zuvor noch versucht, den 3000 Erwerbslosen wortreich seine "neue Politik" schmackhaft zu machen, indem er "bessere Möglichkeiten auf dem 1.Arbeitsmarkt durch höhere Qualifikation" anpries. In seiner Weltfremdheit hat der Westimport Schuster aber nicht begriffen, dass der 2.Arbeitsmarkt in Ostdeutschland eben nicht in erster Linie der Überleitung in den sog. 1.Arbeitsmarkt dient, sondern durch seine öffentliche Förderung nichtprofitorientierter Arbeitsplätze eine neue, eigene Qualität erreicht hat, die es auch aus sozialen Gründen zu verteidigen gilt.
Michael Gerstenberger nahm vielen Demonstrierenden weitere Illusionen, als er erzählte, was denn auf der Arbeitsmarktkonferenz drinnen in der Messehalle wirklich diskutiert wurde. Da ging es nicht so sehr darum, in Thüringen Arbeitsplätze zu schaffen als darum, die Menschen, besonders Jugendliche mit und ohne Lehrstelle zu ermutigen, dahin zu gehen, "wo Arbeit ist". "Die wollen euch hier raus haben, damit ihre Statistik stimmt!"
Es bleibt zu hoffen, dass diese Großdemonstration ihre Wirkung auf die Politiker wie auf die erwerbslosen Thüringer nicht verfehlt hat. Noch ist offen, ob spätestens im Herbst noch mehr Menschen mit ihrer Empörung auf die Straße gehen, oder ob immer mehr "ihr Glück" in anderen Regionen versuchen, wie es im Schreiben des Arbeitsamts Sachsen-Anhalt/Thüringen heißt.

gedo


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