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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.17 vom 17.08.2000, Seite 16

Marxismus im Kopfstand

Das "Manifest gegen die Arbeit" - ein elegant formulierter Irrtum

Gespenstisches geschieht auf der Welt, und ich habe es nicht gemerkt! Zumindest muss es so sein, sollte das "Manifest gegen die Arbeit" Recht haben. Denn dann ist die Arbeit verschwunden, gestorben, für immer weg, und einer ganzen Gesellschaft fiel es nicht auf. "Früher
haben Menschen gearbeitet, um Geld zu verdienen." Und weshalb arbeiten sie heute? "Nicht etwa bloß deswegen, weil sie sich gezwungenermaßen verkaufen müssen, um überhaupt leben zu ‚dürfen‘, sondern weil sie sich tatsächlich mit diesem bornierten Dasein identifizieren." Krupp, Bayer, RWE… alles nur riesige Freizeitparks? Ich bin verwirrt und grübele. Die Arbeit ist tot und weshalb wurden wir nicht zur Beerdigung eingeladen?

Manifest gegen die Atmung?

Es ist Nonsens zu streiten, wenn nicht die gleiche Sprache gesprochen wird. Was also meint das "Krisis"-Manifest mit dem Begriff Arbeit? Jede menschliche Tätigkeit? Dann wäre es ein Manifest gegen die Atmung. Aber nein, bereits (!) im Kapitel 5 heißt es: "Arbeit ist keineswegs identisch damit, dass Menschen die Natur umformen und sich tätig aufeinander beziehen." Somit ist nicht jede Form der Arbeit gemeint. Welche also? Die Lohnarbeit? Die entfremdete Arbeit? (Was nicht das gleiche ist.) Oder?
Das "Krisis"-Manifest vermischt die Erscheinungsformen der Arbeit und verwandelt sie in eine metaphysische Kategorie: Die "Arbeit" wurde im ausgehenden Mittelalter (in verwerflicher Absicht) erfunden, beherrschte und bedrückte seitdem die Gesellschaft, um schließlich wieder zu verschwinden, sich in nichts aufzulösen, so wie die Nacht, wenn der Morgen kommt, oder der Schnee im Frühling. Sie hat keinen Vorläufer, es gibt in ihr keine eigene Entwicklung, sie verändert und wandelt sich nicht.

Die Entwicklung der Arbeit

Ich kann hier quasi nur mit dem Rennwagen durch die Geschichte brausen: In der Urgesellschaft war das ganze Leben Arbeit. Es gab keine Trennung in Arbeit, Freizeit, Kultur, stets war mensch kollektiv bemüht, das Überleben zu sichern. Das wurde erst anders, als verbesserte Werkzeuge eine höhere Produktivität ermöglichten, es einen Überschuss gab. Nun erst war es möglich und sinnvoll, Menschen auszubeuten. Die Sklaverei wurde erfunden.
Für die Sklaven, schließlich die gesellschaftliche Mehrheit, war wieder das ganze Leben Arbeit (und durchaus oft entfremdete!), wobei den Sklaven z.B. in Rom kaum die Möglichkeit der körperlichen Reproduktion gegeben wurde. Rom war also gezwungen sich immer weiter auszudehnen, um immer neue Sklaven zu "fangen", sonst wären ihm die Arbeitskräfte ausgestorben. Die herrschende Klasse dagegen hatte Zeit zur Muße, aber auch zur Entwicklung von Kultur und Wissenschaft. Zuletzt war diese Gesellschaftsformation am Ende, sie ging unter und machte dem Feudalismus Platz.
Aus den Sklaven wurden Leibeigene. Diese arbeiteten auf eigenen Feldern, mussten jedoch "den Zehnten" oder mehr, an ihren Herrn abliefern und zu weiteren Fronarbeiten zur Verfügung stehen. Ihre Arbeit war aber ebenso wenig wie die der Sklaven Lohnarbeit, da sie ihre Arbeitskraft nicht verkauften. Sie hatten vielmehr von ihrem Erabeiteten einen Anteil abzugeben. Anders war es bei den Handwerksburschen, wo es zwar auch keine Begrenzung des Arbeitstags gab, die jedoch durch die Zunftgesetze relativ geschützt waren.
Auch im Feudalismus war die tägliche Schufterei endlos und der Ertrag meist gering. Noch im zaristischen Russland des 19.Jahrhunderts war die Landwirtschaft nicht in der Lage die Bevölkerung zu ernähren. Selbst leibeigene Bauern, die doch an der "Quelle" saßen, verhungerten. Auch anderswo, z.B. am Niederrhein, beschwerten sich noch Ende des 19.Jahrhunderts die Knechte darüber, dass ihnen die Bauern kaum Zeit zum Essen ließen. Die ewige Plackerei auf den Feldern war neben dem Idiotismus des Landlebens der Hauptgrund, massenweise in die erbärmlichen Verhältnisse der städtischen Industrie zu flüchten.
In der ersten Phase des Kapitalismus setzte sich mit der Industrie die Lohnarbeit allmählich durch, die dann in der zweiten Phase des Kapitalismus beherrschend wurde. Eine neue Stufe der Arbeitsteilung, die immer stärker perfektioniert wird, zwingt die Arbeiter wie die Soldaten zur Maloche, immer stärker der Zeitkontrolle unterworfen, in immer ausgeklügelteren und durchoptimierten Abläufen. Doch schließlich war die Produktivkraftentwicklung über den Fordismus hinausgewachsen, eine dritte Phase des Kapitalismus setzte sich durch.
War die zweite Phase des Kapitalismus durch das Fließband geprägt, so die dritte durch den Computer. Er lässt eine völlig neue Qualität der Arbeitsteilung zu. Der Produktionsablauf kann an verschiedenen Stellen des Planeten organisiert werden, kleinere und kleinste Einheiten werden integriert, die bisherigen Riesenwerke mit ihren Arbeiterarmeen werden zunehmend überflüssig. Zusammen mit den enorm gewachsenen Konzernen, die ihre staatliche Einbindung gesprengt haben, wurde noch etwas Neues möglich: Der Ausbau unterschiedlicher Produktivkraftniveaus in den imperialistischen Zentren, analog der von Marx im Kapital so genannten "Stufenleiter der Produktivität" zwischen den Staaten.

Die Dritte Welt schwappt in die Erste

Aus der Sicht des "Krisis"-Manifests ist der "zweite Arbeitsmarkt" eine fiese Schikane: "Welchen anderen Sinn sollte es sonst machen, Arbeitslose zur Spargelernte auf die Felder zwangszuverpflichten?" Und es erklärt sich die moderne Welt so: "Durch die Simulation von ‚Beschäftigung‘ und das Vorgaukeln einer positiven Zukunft der Arbeitsgesellschaft wird die moralische Legitimation geschaffen, um so härter gegen Arbeitslose und Arbeitsverweigerer vorzugehen … So wird der wuchernde Sektor von Billiglohn und Armutsarbeit massiv gefördert."
Doch es handelt sich weder um eine ideologisch begründete Niedertracht, noch zeigt das abstrakte Arbeitsethos hier seine wahre Fratze. Das Kapital nutzt nur seine neuen Möglichkeiten: Wenn ein Konzern so groß geworden ist wie ein mittlerer Staat, benötigt er die wirtschaftliche Vermittlungsfunktion eines "Heimatlands" kaum mehr. Er wird zur unabhängigen, nicht mehr kontrollierbaren Struktur mit eigenem Produktivkraftniveau. Warum sollte er weiter der arbeitenden Klasse irgendeines Landes von seinem imperialistischen Extraprofit Krümel zuwerfen?
Hiermit verstärken sich auch in den Zentren parallele Bereiche mit unterschiedlicher organischer Zusammensetzung des Kapitals. Die Dritte Welt schwappt in die Erste. Dadurch wird, national gesehen, die durchschnittliche organische Zusammensetzung des Kapitals gedrückt (niedrigere organische Zusammensetzung = weniger Maschinen). Das wirkt wiederum dem von Marx formulierten Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate entgegen. Zweiter Arbeitsmarkt, Niedriglohn, Scheinselbständigkeit und der ganze Rattenschwanz haben hier eine handfeste ökonomische Ursache. Sie sind nicht etwa eine bösartige Erfindung neoliberaler Ideologen oder "repressive Arbeitssimulation", sondern ein strategisches Projekt und Ausdruck des Entwicklungsstands der Produktionsverhältnisse.
Oder aber glaubt das "Krisis"-Manifest an den Endsieg des Robotereinsatzes ("In logischer Fortsetzung der Rationalisierung ersetzt elektronische Robotik menschliche Energie")? Dann hat es die neuere Entwicklung verschlafen. Denn die neue robotisierte Fabrik (CIM) steckt längst in der Krise, und nicht umsonst wurde das human capital in den Vorstandsetagen neu entdeckt. Denn die robotisierte Fabrik erzwingt so etwas wie "Dienst nach Vorschrift" - und das ist eine Streikform.
So kam es z.B., dass der VW-Konzern keine zweite "Halle 56" mehr errichtete und General Motors 20 Milliarden Dollar in die CIM-Autoproduktion gesteckt hatte, mit dem Ergebnis, dass die neuen Anlagen nie die Effektivität der alten erreichten. Der Computer hat die Produktion revolutioniert, aber nur durch eine neuartige Einbeziehung des Menschen. Die menschenleere Fabrik bleibt ein frommer Wunsch des Kapitals. Eine vom Menschen konstruierte Maschine kann ihn nicht ersetzen oder "überholen". Zudem: wenn das "Krisis"-Manifest an den Ersatz von Menschen durch Maschinen glaubt, so schlägt es dem System eine erhöhte organische Zusammensetzung des Kapitals vor (= Fall der Profitrate). Das ist für den Kapitalismus so attraktiv, wie für den Vampir das Tageslicht.

Zieht der Karren den Gaul?

"Die Geschichte der Moderne ist die Durchsetzungsgeschichte der Arbeit, die auf dem ganzen Planeten eine breite Spur der Verwüstung und des Grauens gezogen hat", sagt das "Manifest gegen die Arbeit" und erklärt weiter: "Am Anfang stand nicht die angeblich ‚wohlfahrtssteigernde‘ Ausdehnung der Marktbeziehungen, sondern der unersättliche Geldhunger der absolutistischen Staatsapparate, um die frühmodernen Militärmaschinen zu finanzieren. Nur durch das Interesse dieser Apparate, die erstmals in der Geschichte die ganze Gesellschaft in einen bürokratischen Würgegriff nahmen, beschleunigte sich die Entwicklung des städtischen Kaufmanns- und Finanzkapitals über die traditionellen Handelsbeziehungen hinaus. Erst auf diese Weise wurde das Geld zu einem zentralen gesellschaftlichen Motiv und das Abstraktum Arbeit zu einer zentralen gesellschaftlichen Anforderung ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse." Die Gründer des Kapitalismus waren "die Condottieri der frühmodernen Söldnerhaufen, die Arbeits- und Zuchthausverwalter, Pächter der Steuereintreibung, Sklavenaufseher und andere Halsabschneider, die den sozialen Mutterboden für das moderne ‚Unternehmertum‘ bildeten." Waren sie es wirklich?
Kam die Herrschaft der (Lohn-)Arbeit vor der des Kapitals? Beherrscht sie die Gesellschaft ("Arbeit ist ein gesellschaftliches Zwangsprinzip") und nicht das Kapital? Übrigens: wäre das "Krisis"-Manifest konsequent, dürfte es nicht dauernd den Begriff "kapitalistisch" verwenden, es müsste ihn ersetzen durch "arbeitistisch" oder etwa "workoholistisch".
Betrachten wir die Entstehung des Kapitalismus in Deutschland: Die ersten Industriezentren bildeten sich in der Textilproduktion, z.B. in Krefeld, und sie entstanden aus dem Handwerk, das zunächst zur Hausindustrie wurde. So beschäftigte der Krefelder Seidenfabrikant von der Leyen bereits vor 1848 über 3000 Arbeiter, die daheim mit geliehenen Webstühlen arbeiteten. Dann sorgte die Erfindung der Dampfmaschine dafür, dass diese Arbeiter in Fabriken zusammengezogen wurden. Der Hunger der Dampfmaschinen nach Kohle machte den Aufbau der Zechen gewinnträchtig. Aus damals kleinen Dörfern, wie Duisburg oder Essen, wurden schnell große Städte.
Die so erreichte Akkumulation von Kapital trieb die Industrialisierung voran. Doch noch im Jahr 1882 hatten in Deutschland von 1000 Betrieben nur 3 mehr als 50 Beschäftigte. Und noch 1907 waren über 60% der Beschäftigten nicht in der Industrie tätig. Nicht die Lohnarbeit, sondern das akkumulierte Kapital hatte das Land fest im Griff. Schon dies eine Beispiel zeigt: Das "Krisis"-Manifest lässt die Geschichte Purzelbaum schlagen, um schließlich den Marx mit der Peitsche zum Kopfstand zu zwingen.

Das Ende ist nah?

Hoffnung schöpft das "Manifest" aus einem von ihm vorhergesagten Zusammenbruch des Kapitalismus. Weshalb? "Industrielle Unternehmen machen Gewinne, die gar nicht mehr aus der längst zum Verlustgeschäft gewordenen Produktion und dem Verkauf von realen Gütern stammen, sondern aus der Beteiligung einer ‚cleveren‘ Finanzabteilung an der Aktien- und Devisenspekulation." Und dort, wo spekuliert wird, an den Börsen, "geht es längst nicht mehr um die Dividende, den Gewinnanteil an der realen Produktion, sondern nur noch um den Kursgewinn, die spekulative Wertsteigerung der Eigentumstitel". Kurz: wir haben es heute mit einer "kasinokapitalistischen Simulation der Arbeitsgesellschaft" zu tun. Das kann nicht gut gehen: "Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die Finanzmärkte der kapitalistischen Zentren in den USA, der EU und Japan kollabieren."
Das Grundprinzip eines Kasinos ist es, dass viele verlieren und ganz wenige Gewinne einstreichen. Da die meisten Konzerne aber durchweg in den letzten Jahren satte Profite eingefahren haben, wäre die Börse die erste Spielhölle, die Geld aus dem Nichts schaffen kann. Das "Manifest" erklärt dies als "fiktives Kapital", das folgendermaßen entsteht: "Die Vernutzung gegenwärtiger Arbeit wird ersetzt durch den Zugriff auf die Vernutzung zukünftiger Arbeit, die nie mehr stattfinden wird."
Nach diese Erläuterung glaubt mensch es aufs Wort, dass der Kapitalismus bald zusammenbrechen muss. Erstaunlich, dass obwohl dieses "fiktive Kapital" selbst in den Massenkonsum einfließt, es noch nicht zu einer weltweiten rasanten Inflation gekommen ist. Auch irritiert mich die danach verwunderliche Dummheit der Konzernvorstände, die immer noch Geld für deutlich erhöhte Dividenden ausgeben, wo es doch an der Börse darum nicht mehr geht.
Nebenbei: wenn die "Krisis"-Autoren vom "rapiden Konzentrationsprozess des Kapitals" sprechen, meinen sie wohl den Zentralisationsprozess des Kapitals. Zur Erläuterung: von Zentralisation des Kapitals wird gesprochen, wenn etwa Deutsche Bank und US Bankers Trust sich zusammenschließen. Konzentration des Kapitals bedeutet dagegen die Einbeziehung neuer Arbeitskraft in den Akkumulationsprozess. Eine rapide Kapitalkonzentration wäre damit das glatte Gegenteil vom Ende der Arbeit.
Doch zurück zum "Kasinokapitalismus". Ähnlich braven deutschen Finanzbeamten glauben die "Manifest"-Schreiber anscheinend die Konzernbilanzzahlen und berücksichtigen nicht, dass die Gewinne aus der Produktion in Niedrigsteuerländern geparkt oder gegen fiktive Auslandsverluste auf Null gerechnet werden. Völlig neu ist auch die Expansion der Finanzmärkte nicht. Bereits Anfang unseres Jahrhunderts gab es ähnliches in England als Folge der Ausbeutung von Kolonien. 1899 waren in Großbritannien die Einnahmen der "Kuponschneider" fünfmal so groß wie die Jahreseinnahmen aus dem Außenhandel.
So schrieb 1906 der Ökonom Gerhart von Schulze-Gaevernitz: "England wächst aus dem Industriestaat allmählich in den Gläubigerstaat. Trotz absoluter Zunahme der industriellen Produktion, auch der industriellen Ausfuhr, steigt die relative Bedeutung der Zins- und Dividendenbezüge, der Emissions-, Kommissions- und Spekulationsgewinne für die Gesamtvolkswirtschaft. Es ist diese Tatsache meiner Meinung nach die wirtschaftliche Grundlage des imperialistischen Aufschwungs. Der Gläubiger hängt mit dem Schuldner dauernder zusammen als der Verkäufer mit dem Käufer."
Analog halte ich die heutige Situation auf dem Finanzmarkt für eine Widerspiegelung der durch den ungleichen Tausch mit der Dritten Welt angehäuften Werte. Die Finanzspekulation wird zudem durch die Bedürfnisse der Produktivkraft Wissenschaft angeheizt. Denn die enorme Extraprofite versprechenden Techniken wie Mikroelektronik, Gentechnik, Mikrotechnik… verbrauchen zur Produktentwicklung Geldmengen, die früher unvorstellbar waren.
Dabei ist es unklar, ob diese Investitionen realisiert werden können oder ob die aufgewendeten Milliarden in den Wind geschrieben werden müssen. Anders gesagt: kauft wer den neuen PC oder warten alle, bis wiederum ein noch neuerer erscheint? Das ist der reale Boden, auf dem die aufgeblasene Börsenspekulation gedeiht. Zusammenbrechen wird das System dadurch so wenig wie durch die Arbeitslosigkeit, die stets eine Bedingung des Kapitalismus war. Mit Lenin bin ich der Meinung, dass es für den Kapitalismus keine ausweglosen Situationen gibt.

Ist das "Krisis"- Manifest selbst Aspirin fürs Kapital?

Verdienste hat das "Manifest gegen die Arbeit" überall dort, wo es die bornierte ökonomistische Sicht der Linken ans Licht bringt. Und dort, wo es konkrete Kritik der entfremdeten Arbeit leistet, sowie aller Verhältnisse, in denen der Mensch Anhängsel oder Objekt der Technik ist. In seinen Kernaussagen ist es jedoch ein elegant formulierter Irrtum.
Welche Alternative zur heutigen Gesellschaft schlägt das "Krisis"-Manifest vor und wie könnte sie erreicht werden? Durch nichts, was aus den gesellschaftlichen Verhältnissen kommt, sondern durch "Verweigerung und Rebellion ohne irgendein ‚Gesetz der Geschichte‘ im Rücken. Ausgangspunkt kann kein neues abstrakt-allgemeines Prinzip sein, sondern nur der Ekel vor dem eigenen Dasein als Arbeits- und Konkurrenzsubjekt und die kategorische Weigerung, auf immer elenderem Niveau weiter so funktionieren zu müssen." Das ist schon logisch, denn wer die Geschichte der Arbeitsgesellschaft für eine bloße Schurkerei hält, für den ist auch eine neue Gesellschaft durch einen bloßen Willensakt möglich.
Des Weiteren bleiben die Vorstellungen verwaschen: "Die Eroberung der Produktionsmittel durch freie Assoziationen gegen die staatliche und juristische Zwangsverwaltung kann daher nur bedeuten, dass diese Produktionsmittel nicht mehr in der Form der Warenproduktion für anonyme Märkte mobilisiert werden." Ist das ein Aufruf zur Gründung von Landkommunen und Tauschkooperativen, die sich jenseits von Warenproduktion, Geld und Staat die Hände reichen? Falls ja, wodurch unterscheiden diese sich von vorherigen Versuchen? Und wieso sollte das Kapital (bzw. die Arbeit), falls es ihm gefährlich wäre, so etwas akzeptieren? Bisher hat der Imperialismus keine Mittel gescheut, gegen alle sozialistischen Ansätze, von Russland 1917 bis Kuba, konzentriert vorzugehen. Ist ein kleiner schwacher Gegner etwa schwerer zu bekämpfen als ein großer starker?
Unangenehm wird das "Krisis"-Manifest für die Linke dadurch, dass es eine prima Rechtfertigungsideologie für politische Aussteiger abgibt. Die in Nischenexistenzen abgedrängten GenossInnen, die als Trödelmarktverkäufer o.ä. ihr schmales Auskommen haben, können nun ihren begonnenen politischen Rückzug theoretisch überhöhen. Mensch kann passiv sein und sich ohne Gewissensbisse wunderbar dabei fühlen, hat mensch doch der Arbeitsgesellschaft den Rücken gekehrt. Zudem ist der Kampf gegen das System ein "antipolitischer", wie das "Manifest" meint, also good bye "alte Linke" und politische Arbeit, ich bin doch der Bessere. Sollte die Linke dem Kapital zurzeit überhaupt Kopfschmerzen bereiten, könnte das "Krisis"-Manifest zur leichten Pille werden.

Herbert Steeg

Es gibt im Internet ein Diskussionsforum des Autors zu diesem Thema unter: http://f17.parsimony.net/forum29406/ .


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