Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 31.08.2000, Seite 5

Callcenter

Mitarbeiter wehren sich gegen ‘Tagelöhnerverträge‘

Verlassen Sie sofort mein Haus", herrschte Markus Broschk, der Geschäftsführer des Berliner Callcenters AudioService eine Gruppe von Beschäftigten an. Sie wollten ihm vor einigen Wochen in seinem Büro einen Protestbrief überreichen. Darin verweigerten 16 Beschäftigte ihre Zustimmung zur Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen, verlangten die Rücknahme von der Geschäftsleitung in der letzten Woche ausgesprochenen Kündigungen und forderten Vermittlergespräche zwischen Belegschaft und Beschäftigten. Das war Höhepunkt einer länger schwelenden Auseinandersetzung in dem Berliner Callcenter, dass unter Anderem den BVG-Club und die Siemens-Ausbildungshotline betreut.
Aktuelle Auslöser waren neue Abrechnungsbögen, die Anfang Juli eingeführt wurden. Danach konnten die Mitarbeiter nur noch Tagesarbeitsverhältnisse abschließen. Die entsprechende Klausel lautet: "Das befristete Arbeitsverhältnis beginnt mit der für den jeweiligen Tag angegebenen Uhrzeit und endet automatisch mit der angegebenen Beendigungszeit, ohne dass es einer Kündigung bedarf."
Schon bisher gab es für die Neudeutsch "Agents" genannten Callcenter-Mitarbeiter keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, keinen bezahlten Urlaub, keine Zuschläge für Nachtarbeit.
Die Beschäftigten sprachen von Tagelöhnerverträgen und begannen mit ihren Protesten. Doch die Geschäftsleitung stellte sich stur. Die Protestierenden wurden in Einzelgesprächen aufgefordert ihre Forderungen zurückzuziehen. Dann wolle man so tun, als sei nichts geschehen. Ansonsten drohte ihnen ebenfalls die Kündigung. Mittlerweile hat sich die Zahl der Entlassenen auf 16 erhöht.
Die Beschäftigungsverhältnisse in den Callcentern steht schon seit Längerem im Interesse von Gewerkschaftspresse wie Tageszeitungen. Aber auch Wissenschaftszeitungen nahmen sich des Themas an. Schließlich ist der studentische Anteil unter den Callcenterbeschäftigen nicht nur in Berlin sehr hoch.
In der Frankfurter Universitätspublikation Diskus beschäftigte sich Sandra Arzbächer ausführlich mit den "Beschäftigungsverhältnissen in Callcentern".
So lautet auch die Überschrift ihres Artikels, in dem sie jene Ambivalenzen beschreibt, die auch die Unterstützerkomitees in Berlin registrierten. Für die Einen handelt es sich bei den Callcentern um Garanten für die Sicherung des Arbeitsmarktes, mit denen sie sich Wege aus der Massenarbeitslosigkeit erhoffen. Für die Anderen sind es Prototypen für postfordistische Arbeitsverhältnisse, durch die tariflich gesicherte Langarbeitsplätze vernichtet und prekäre Niedriglohnarbeit dauerhaft etabliert werden sollen.
Tatsächlich ist die Gründung der Callcenter, die in der BRD seit Mitte der 80er Jahre an Bedeutung gewonnen haben, eine Folge des Outsourcing, der Auslagerung ursprünglich unternehmensintensiver Arbeitsbereiche an Fremd- oder Tochterfirmen. Damit wurde ein weitgehend deregulierter Arbeitsbereich geschaffen, der sich dem Einfluss der fordistischen Institutionen weitgehend entzogen hatte.
Untersuchungen von Industriesoziologen in einem Callcenter im Rhein-Main-Gebiet ergaben, dass die Arbeitsbedingungen von der Mehrzahl der weitgehend akzeptiert werden. Wie in vielen anderen deregulierten Branchen stand auch hier weniger der Inhalt der Tätigkeit im Vordergrund, sondern das Gefühl, durch die spezifischen Arbeitsbedingungen individuelle Gestaltungsspielräume zu erhalten.
Viele Beschäftige begreifen es bspw. als persönliche Herausforderung, dass ihnen trotz hochstandardisierter Computerprogramme und vorgegebener Gesprächsmuster gleichzeitig ständig ein Stück Autonomie in Form von individuellen Entscheidungen abverlangt wird - etwa, wenn es darum geht, situativ auf spezielle Kundenbedürfnisse zu reagieren. Selbst der extreme Eingriff der Teamleiter in die Arbeitsverhältnisse, wie das Mitschneiden oder Aufschneiden von Gesprächen, werden von den Mitarbeitern erstaunlich klaglos akzeptiert, so die Untersuchung.
Die Argumentation des Management, es handle sich um Maßnahmen zur Förderung des Personals und nicht um Überwachung, wurden scheinbar überwiegend übernommen. Die Callcenter waren nicht nur gewerkschaftsfreie Zonen.
Auch ein Callcenterarbeitgeberverband existiert nicht, so dass die Aushandlung von Arbeitszeiten oder Lohnniveau zur Verhandlungssache zwischen Management und Belegschaft des jeweiligen Betriebs wurde. In der Praxis lief es auf ein Diktat des Unternehmens hinaus. Die Ergebnisse zeigten sich bei AudioService in Berlin. Wer die Vorgaben von oben nicht akzeptiert, der fliegt. Schließlich gibt es ja genügend neue Arbeitskräfte, die den Traum vom selbstbestimmten Arbeiten zumindest für einige Zeit träumen können.
Der weltweit erste Arbeitskampf in einem Callcenter fand bei der Citibank in Bochum und Duisburg statt. Den Kern der Streikenden bildeten allerdings schon vorher politisch aktive Studierende, die teilweise schon Jahre vorher Betriebsräte installiert haben.
"Das Argument, bestimmte Standards seien im Citibank-Konzern ‚weltweit‘ so, veranlasste die Bochumer Beschäftigten und ihre Interessenvertretung erst recht dazu, ihren Ruf als ‚kleines, gallisches Dorf‘ in der von Citibank-Unternehmen besetzten Welt zu kultivieren: eine Oase des Widerstands gegen eine Konzernpolitik, die auf die globale Gleichmacherei der Beschäftigteninitiative bis in den Bereich des Verhaltens, der Ethik und der Gesinnung setzte", so der Sprecher der Beschäftigten bei der Citibank Hannes Oberlindober.
Das Beispiel aus dem Ruhrgebiet könnte demnächst in Berlin Schule machen. Auch dort wurde der Ruf nach Gründung eines Betriebsrats laut. Ein überbetriebliches Unterstützungskomitee, dass sich für die Belange der Callcenter-Arbeiter stark macht, wurde gegründet. An den Treffen beteiligen sich Agents von vier Berliner Callcentern. Dabei geht es in erster Linie um einen Erfahrungsaustausch sowie um juristische Beratung der meist studentischen Mitarbeiter. Doch gemeinsame Kampfmaßnahmen sind für die Zukunft nicht ausgeschlossen.

Peter Nowak


zum Anfang