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Der 16.Bundeskongress des DGB beschloss 1998 die Einrichtung einer Kommission Rechtsextremismus, die
"aus gewerkschaftlicher Sicht die Entwicklung des Rechtsextremismus in der BRD analysieren und Handlungsperspektiven für
Gewerkschaften erarbeiten" sollte. Den entsprechenden Antrag reichte damals der DGB-Landesverband Sachsen ein mit der
Begründung, Neonazis bemächtigten sich gewerkschaftlicher Politikfelder. Rechte Gruppierungen und Parteien beherrschten auf
militante Weise zunehmend den öffentlichen Raum, Parteien und Regierungen seien jedoch immer weniger in der Lage, dem erfolgreich
entgegenzutreten.
Am 7.März 2000 legte die Kommission ihren Abschlussbericht dem DGB-
Bundesvorstand vor, der ihn zustimmend zur Kenntnis nahm. Der Bericht offenbart eine Hilflosigkeit gegenüber dem sich ausbreitenden
Rechtsextremismus, die der der "Parteien und Regierungen" in nichts nachsteht.
Zunächst zitiert der Bericht soziologische Untersuchungen, die ein recht
differenziertes Datenmaterial über rechtsextreme Einstellungen und Verhaltensweisen enthalten. Das Material bestätigt empirisch
die These, dass der ansteigende Rechtsextremismus kein Randgruppenphänomen ist, sondern sich "aus der Mitte der
Gesellschaft" entwickelt.
Eine Erhebung von Richard Stöss aus dem Jahr 1998 kommt zu dem Ergebnis,
dass in Westdeutschland 12%, in Ostdeutschland 17% der Bevölkerung rechtsextreme Einstellungen aufweisen. Diesem Oberbegriff
werden autoritäre, nationalistische, fremdenfeindliche bzw. ethnozentrische, rassistische, wohlstandschauvinistische, antisemitische und
pronazistische Äußerungen zugeordnet.
Der Erhebung zufolge tendieren bundesweit überdurchschnittlich ältere
Menschen zu rechtsextremistischen Einstellungen. Während in Westdeutschland rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung ab
45 Jahre jedoch doppelt bis dreimal so häufig registriert werden wie in der Bevölkerung bis 45 Jahre, verteilen sie sich in
Ostdeutschland relativ gleichmäßig auf alle Altersgruppen von 14 bis über 75, mit Spitzen in der Altersgruppe von 25 bis 34
Jahre und von 65 bis 74 Jahre. Erstere umfasst Menschen in der Phase ihrer Eingliederung in das Berufsleben, zweitere in der Phase ihres
Ausscheidens - unter diesen befinden sich nicht wenige abgewickelte Funktionsträger der DDR, die zu einer Zielgruppe der NPD in
Ostdeutschland gehören.
Den höchsten Anteil an rechtsextremen Einstellungen misst die Erhebung in
West und Ost bei Arbeitern (18% bzw. 24%), den zweithöchsten Anteil im Osten bei Arbeitslosen (22%; im Westen 7%), es folgen
Nichterwerbspersonen und Selbständige.
Stöss kommt bei seinem Ost-West-Vergleich zum Ergebnis, dass rechtsextreme
Einstellungen in Ostdeutschland in der zweiten Hälfte der 90er Jahre dramatisch zugenommen haben: Noch im Frühjahr 1994 sei in
Westdeutschland das rechtsextreme Einstellungspotenzial mehr als doppelt so hoch gewesen wie im Osten, drei Jahre später habe sich
die Situation umgekehrt.
Dies habe sich auch im Wahlverhalten niedergeschlagen: Bei den Bundestagswahlen
1990 und 1994 verbuchten rechtsextremistische Parteien die größeren Erfolge in den alten Bundesländern, bei der
Bundestagswahl 1998 in den neuen Bundesländern.
Stöss erklärt sich die Verschiebung von West nach Ost so:
"Anfänglich beurteilten die neuen Bundesbürger den Einigungsprozess optimistischer als die alten. Knapp die Hälfte
glaubte 1994 an eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse in den kommenden Jahren. Drei Jahre später war der Anteil
der Optimisten im Osten auf 14% abgeschmolzen. Mithin dürfte der Ernüchterungsprozess in Ostdeutschland dramatischer
ausgefallen sein als im Westen, wie auch die zunächst große Zuversicht in das marktwirtschaftliche und demokratische System
inzwischen in eine herbe Enttäuschung umgeschlagen ist." (Zitiert nach dem Kommissionsbericht.)
Einstellungen schlagen sich nicht ungebrochen im Verhalten nieder. Ohnehin
berücksichtigt der Kommissionsbericht nur das Wahlverhalten, und zitiert dafür wiederum die Erhebung von Stöss 1998:
Demnach sind in Westdeutschland 19% der Arbeiter und 14% der Erwerbslosen bereit, eine rechtsextreme Partei zu wählen, in
Ostdeutschland stehen die Selbständigen mit 16% an erster Stelle, gefolgt von Arbeitern mit 15%.
In den anderen Berufsgruppen liegt die Bereitschaft im einstelligen Prozentbereich.
Im Westen, sagt der Kommissionsbericht, wächst die Wahlbereitschaft mit sinkendem Einkommen, im Osten verhält es sich genau
umgekehrt: je höher das Einkommen, desto größer sind die Erfolgsaussichten für den organisierten Rechtsextremismus.
Leider wird dazu kein Zahlenmaterial geliefert.
Der empirische Befund ergibt also einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der
Verarbeitung des Anschlusses der DDR und seiner gesellschaftlichen, ökonomischen und identitären Folgen und dem Anwachsen
des Rechtsextremismus. Die sozialen Ursachen bleiben allerdings unverstanden, will man sie auf den platten Nenner "Keine Arbeit,
geringes Einkommen = anfällig für rechts" bringen.
Der Kommissionsbericht zitiert dazu abermals Stöss: "Die die
Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik für ungerecht halten, neigen mit 10% im Osten und 11% im Westen deutlich stärker zur
Wahl einer rechtsextremen Partei als die Zufriedenen - 4% in Ost und West. Noch markanter macht sich der Unterschied bei den
‚Gewinnern und ‚Verlierern der deutschen Einheit bemerkbar. Von denen, die sich selbst zu den Gewinnern rechnen, tendieren
7% in Westdeutschland und 8% in Ostdeutschland zur Rechtswahl. Die Vergleichswerte der Verlierer lauten 7% in Ostdeutschland und 19% im
Westen."
Der Zusammenhang ist also offenkundig komplex und die Gleichung "Verlierer
= rechtslastig" unzulässig; die Erhebung von Stöss stellt dies nur fest. Es wäre die Aufgabe der DGB-Kommission
gewesen, den Mentalitäten und Lebenseinstellungen nachzuspüren, die sich jeweils in Ost und West in den unterschiedlichen
Zeiträumen und Berufsgruppen hinter den nackten Zahlen verbergen. Erst nach einer solchen Arbeit könnte man darangehen, ein
gesellschaftlich differenziertes Handlungsinstrumentarium für die Bekämpfung rechtsextremer Sicht- und Verhaltensweisen zu
entwickeln.
Diese Arbeit hat sich die Kommission aber nicht gemacht. Ohne weitere Analyse
zieht sie ein Fazit, das dem zitierten empirischen Befund sogar entgegengesetzt ist: "Die Hinwendung zu rechtsextremen Parteien
hängt also weniger von der sozialen Lage als von den Wertorientierungen und politischen Einstellungen ab."
Andere Schlussfolgerungen klingen eher beschwichtigend, so wenn es heißt:
"Die Wahlbereitschaft bei den Systemverdrossenen [was immer das sein mag] und den Verlierern der Einheit ist im Osten geringer
ausgeprägt, weil mit der PDS noch eine linke Oppositionspartei existiert, die dieses Potenzial binden kann. Sie mobilisiert primär
unzufriedene Leute aus der Mittel- und Oberschicht, während sich das Wählerpotenzial der rechtsextremistischen Parteien
vornehmlich aus Arbeitern und einfachen Angestellten zusammensetzt."
Damit wird nichts anderes ausgesagt, als dass die PDS in Ostdeutschland nach wie
vor nicht in der Lage ist, Arbeiter anzusprechen, und dieses Feld den Rechten überlassen bleibt, die es ziemlich konkurrenzlos beackern
können. Hier entfaltet die PDS gerade keine Bindewirkung.
Wenig beruhigend ist in diesem Zusammenhang die mit offenkundigem Stolz
vorgetragene Äußerung von André Brie, in Ostdeutschland gäbe es längst eine machtvolle rechte Partei, wenn
es die PDS nicht gäbe. "Wir integrieren Wähler mit rechten Wertorientierungen."
Wenn die PDS-Führung eine offensive Auseinandersetzung mit den nicht
wenigen Parteimitgliedern und Wählern führen würde, die nationales, autoritäres und Ausländer abweisendes
Gedankengut äußern, könnte man dem Satz zustimmen. Das tut sie aber gerade nicht, und oft genug haben PDS-
Verantwortliche in den Kreisen und Gemeinden die notwendige öffentliche Reaktion auf nazistische Provokationen mit dem Hinweis
unterlassen, "ihren Menschen" sei das nicht zu vermitteln.
Auch den Erfolg von Nazigruppen unter ostdeutschen Jugendlichen verharmlost der
Kommissionsbericht eher. Zwar stellt er richtig fest, dass es sich bei den rassistisch motivierten Anschlägen "keineswegs um eine
Rebellion gegen die Erwachsenenwelt und Obrigkeit handelt: die rechtsstehenden Jugendlichen stimmen in hohem Maße mit den Norm-
und Wertvorstellungen der Eltern überein". Doch ein kohärentes rechtsextremistisches Weltbild sei in den Orientierungen der
Jugendlichen nicht vorfindbar. Mit Ausnahme der Fremdenfeindlichkeit (30-40% bei Jugendlichen) wären alle anderen Einstellungen, die
dem Rechtsextremismus zugeordnet werden, nur mit geringen Anteilen vertreten, "weshalb die Mehrheit der fremdenfeindlichen
Jugendlichen keineswegs der äußersten Rechten zuzurechnen ist".
Was nicht ist, kann noch werden: Wenn der Bundeskanzler in Aussicht stellt, dass
Ostdeutschland noch mindestens zehn Jahre am Tropf des Westens hängen wird, wenn die Abwanderung junger und erwerbstätiger
Menschen in den Westen anhält, wo sie sich als Gastarbeiter und Deutsche zweiter Klasse fühlen, wenn also der
ökonomische und kulturelle Kolonialstatus Ostdeutschlands nicht aufgehoben wird, die PDS diesen Zustand eher verwaltet als dagegen
mobilzumachen, und die Gewerkschaften das Thema als ein zweitrangiges behandeln, ist kaum auszumachen, wo die jungen Leute eine andere
Orientierung hernehmen sollen.
Solche praktischen Fragen diskutiert der Kommissionsbericht aber nicht, damit
würde ja die Frage nach der Rolle der Gewerkschaften aufgeworfen, und die zu diskutieren war wohl nicht beabsichtigt. Stattdessen
flüchtet er sich - nachdem er ziemlich allgemein verschiedene theoretische Ansätze der Forschung über Rechtsextremismus
dargelegt hat, ohne wirklich dazu Stellung zu beziehen (Kritische Theorie, Deprivationstheorien, Heitmeyer) - in das bekannte und wohlfeile
liberale Bekenntnis, es müssten stärker demokratische Werte wie Gleichheit, Toleranz, Solidarität und Selbstbestimmung
eingeübt werden.
Wie dies fruchten soll, wenn junge Menschen im alltäglichen Leben erfahren,
dass sie mit den entgegengesetzten Verhaltensweisen weiter kommen und die herrschende Ideologie Ungleichheit, gnadenlose Konkurrenz,
Ichbezogenheit und Fremdbestimmung predigt, bleibt ein Geheimnis.
Eine Gewerkschaft ist per Definition dazu da, Solidargemeinschaften der
Unterdrückten gegen die Unterdrücker zu organisieren. Die Gewerkschaftsbewegung hat sich jedoch in allen imperialistischen
Ländern in den 80er und 90er Jahren dem herrschenden Diskurs der Individualisierung, der Standortkonkurrenz und des Leistungsprinzips
angepasst. Die Solidargemeinschaft der Ausgebeuteten wurde durch die Partnerschaft mit den Unternehmen im Konkurrenzkampf um
Marktanteile ersetzt. Was haben Gewerkschaften, die derartige Prinzipien anerkennen, noch gegen reaktionäre Ausgrenzungsstrategien
und ausgrenzendes Verhalten vorzubringen?
Immerhin wirft der Kommissionsbericht diese Frage auf, wenn er sie auch nicht
beantwortet. Er konstatiert den Wandel der Gewerkschaften von "traditionellen Wertegemeinschaften zu modernen
Dienstleistungsorganisationen":
"Die Umstellung der Mitgliedermotivation von Gemeinschaftsgefühlen
auf Nutzenkalküle erweist sich für die Ausprägung der Sozialbeziehungen in Betrieb und Gesellschaft als zweischneidiges
Schwert. Denn dieselben Nutzenkalküle, die zum Eintritt in die Gewerkschaft bewegen und unter stabilen gesellschaftlichen Bedingungen
ein funktional-kollegiales Verhalten nahelegen, können in Krisenzeiten zur Diskriminierung und Ausgrenzung ausländischer
Arbeitnehmer führen."
Ausdrücklich verweist der Kommissionsbericht auf jüngere
Untersuchungen, die belegen, dass junge Gewerkschaftsmitglieder in überdurchschnittlichem Ausmass rechtsextreme Einstellungen
aufweisen. Er stellt sich also der unangenehmen Wahrheit und diskutiert sie nicht weg.
Die Antwort darauf aber bleibt in Frageform stehen: "Warum haben es
Gewerkschaften versäumt, die Standortdebatte und das darin absolut gesetzte Konkurrenz- und Leistungsprinzip als mitverantwortlich
für die rechtsextremen Orientierungen ihrer Klientel ins öffentliche Bewusstsein zu rücken? Warum haben sie deren
Ausgrenzungsbereitschaft nicht in Verbindung gebracht mit einer Gesellschaft, die einen wachsenden Teil ihrer Mitglieder von der politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Teilhabe ausschließt?"
Angela Klein