Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.18 vom 31.08.2000, Seite 13

Alerce-Preis für Luis Vitale

Der Alerce-Preis "Oreste Plath" für das Jahr 1999 des chilenischen Schriftstellerverbands ging Anfang dieses Jahres an den marxistischen Historiker Luis Vitale. Er war 1965 Mitbegründer der "Bewegung der Revolutionären Linken" (MIR). Nach dem Militärputsch von 1973 war Vitale in unterschiedlichen Konzentrationslagern inhaftiert, bevor er 1974 Asyl in der BRD erhielt. In Lateinamerika ist Vitale als linker Intellektueller ebenso bekannt wie als politischer Aktivist.
Er erhielt die Auszeichnung des chilenischen Schriftstellerverbands für sein Essay "Ein halbes Jahrhundert Diskriminierung des Volkes der Mapuche" in dem er sich mit dem Konflikt zwischen dem modernen Staat und dem indigenen Volk der Mapuche in Chile auseinandersetzt. Damit zeichnet Vitale die historischen Konturen eines Konflikts nach, der heute beginnend bei den Protesten anlässlich des 500.Jahrestags der Eroberung Lateinamerikas 1992 über die zunehmenden Mobilisierungen 1997 bis zu den aktuellen Auseinandersetzungen für die chilenische Gesellschaft von höchster Aktualität ist.
Zudem greift der im April erschienene Essay in einen gerade offen ausgebrochenen Historikerstreit über die Mapuche ein. Der Historiker Sergio Villalobos veröffentlichte am 15.Mai in der konservativen Tageszeitung Mercurio einen Artikel, in dem er in sozialdarwinistischer und rassistischer Manier die Beziehung zwischen Mapuche und Chilenen/Spaniern als friedlichen Assimilationsprozess der "unterlegenen" an die "überlegene" Kultur darstellt.
Diejenigen, die sich diesem Prozess entgegenstellen, werden zu Feinden von Entwicklung und Fortschritt erklärt. Diese Auseinandersetzung, die sich vordergründig auf die Kolonialzeit bezieht, hat aber einen tiefergründigen aktuellen Bezug. Denn derzeit protestieren tausende Mapuche gegen technokratische Großprojekte des "modernen, fortschrittlichen" Chiles, wie gegen den Staudammbau am oberen Bío-Bío, Forstmonokulturen und Verkehrsinfrastrukturprojekte.
Damit sägen die Mapuche ebenso an zentralen Pfeilern des neoliberalen Wirtschaftsmodells wie sie das aus der Diktatur stammende politische System sowie das nationale Selbstverständnis der Chilenen als "die Engländer Südamerikas" in Frage stellen. Als konservative Reaktion auf die massiven Proteste der Mapuche wird in der chilenischen Gesellschaft zunehmend ein Gegensatz von Entwicklung der Gesamtgesellschaft auf der einen und Minderheitenschutz für die Mapuche auf der anderen Seite aufgebaut.
Fazit dieser Position wäre, dass der Fortschritt der gesamten Gesellschaft nicht durch eine "handvoll Wilde" gefährdet werden könne. Historiker wie Villalobos liefern für diesen Diskurs, der sich in der offiziellen Regierungspolitik widerspiegelt, die ideologische Basis.
Gegen diese Art von mit Rassismus durchsetzter Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Herrschenden wendet sich Vitales Essay und greift in diesem Sinne direkt in einen Kampf um ideologische Hegemonie ein. Zunächst dekonstruiert Vitale gekonnt und mit Esprit den Mythos der kulturellen Überlegenheit Europas gegenüber den Kulturen der beiden Amerikas, um darauf das in der chilenischen Gesellschaft vorherrschende Bild des Mapuche als "Faulpelz und Säufer" zu demontieren.
Danach macht er mit vielen historischen Zitaten angereichert deutlich, dass es zwar nicht immer einen offenen Krieg, wohl aber einen jahrhundertelangen permanenten Konflikt zwischen der Mapuche-Gesellschaft und der spanischen Kolonial- bzw. der chilenischen Mestizengesellschaft gab und gibt. Dieser bis heute nicht gelöste Widerstreit war der Ausgangspunkt für den Essay.
Ein erster Schritt zur Annäherung von Mapuche und Chilenen sind für Vitale - ähnlich der großen Treffen der Zapatistas mit der mexikanischen Zivilgesellschaft - die Konstruktion von Räumen des Dialogs. Vitales Essay ist sicherlich einer dieser Räume, in dem zahlreiche Mapuche-Intellektuellen und AktivistInnen durch längere Zitate zu Wort kommen. Er bietet damit Anknüpfungspunkte zwischen der Mapuche-Bewegung und anderen sozialen Bewegungen, die Protest gegen das neoliberale Modell artikulieren und revolutionären Wandel für eine alternative Gesellschaft schaffen wollen.

Olaf Kaltmeier

Von Luis Vitale veröffentlichte die SoZ: Projekt alternative Gesellschaft. Annäherung an eine neue lateinamerikanische Theorie des gesellschaftlichen Wandels;, in SoZ 7/00; .


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