Sozialistische Zeitung |
Der Alerce-Preis "Oreste Plath" für das Jahr 1999 des chilenischen Schriftstellerverbands
ging Anfang dieses Jahres an den marxistischen Historiker Luis Vitale. Er war 1965 Mitbegründer der "Bewegung der
Revolutionären Linken" (MIR). Nach dem Militärputsch von 1973 war Vitale in unterschiedlichen Konzentrationslagern
inhaftiert, bevor er 1974 Asyl in der BRD erhielt. In Lateinamerika ist Vitale als linker Intellektueller ebenso bekannt wie als politischer
Aktivist.
Er erhielt die Auszeichnung des chilenischen Schriftstellerverbands für sein
Essay "Ein halbes Jahrhundert Diskriminierung des Volkes der Mapuche" in dem er sich mit dem Konflikt zwischen dem modernen
Staat und dem indigenen Volk der Mapuche in Chile auseinandersetzt. Damit zeichnet Vitale die historischen Konturen eines Konflikts nach, der
heute beginnend bei den Protesten anlässlich des 500.Jahrestags der Eroberung Lateinamerikas 1992 über die zunehmenden
Mobilisierungen 1997 bis zu den aktuellen Auseinandersetzungen für die chilenische Gesellschaft von höchster Aktualität ist.
Zudem greift der im April erschienene Essay in einen gerade offen ausgebrochenen
Historikerstreit über die Mapuche ein. Der Historiker Sergio Villalobos veröffentlichte am 15.Mai in der konservativen
Tageszeitung Mercurio einen Artikel, in dem er in sozialdarwinistischer und rassistischer Manier die Beziehung zwischen Mapuche und
Chilenen/Spaniern als friedlichen Assimilationsprozess der "unterlegenen" an die "überlegene" Kultur darstellt.
Diejenigen, die sich diesem Prozess entgegenstellen, werden zu Feinden von
Entwicklung und Fortschritt erklärt. Diese Auseinandersetzung, die sich vordergründig auf die Kolonialzeit bezieht, hat aber einen
tiefergründigen aktuellen Bezug. Denn derzeit protestieren tausende Mapuche gegen technokratische Großprojekte des
"modernen, fortschrittlichen" Chiles, wie gegen den Staudammbau am oberen Bío-Bío, Forstmonokulturen und
Verkehrsinfrastrukturprojekte.
Damit sägen die Mapuche ebenso an zentralen Pfeilern des neoliberalen
Wirtschaftsmodells wie sie das aus der Diktatur stammende politische System sowie das nationale Selbstverständnis der Chilenen als
"die Engländer Südamerikas" in Frage stellen. Als konservative Reaktion auf die massiven Proteste der Mapuche wird
in der chilenischen Gesellschaft zunehmend ein Gegensatz von Entwicklung der Gesamtgesellschaft auf der einen und Minderheitenschutz
für die Mapuche auf der anderen Seite aufgebaut.
Fazit dieser Position wäre, dass der Fortschritt der gesamten Gesellschaft
nicht durch eine "handvoll Wilde" gefährdet werden könne. Historiker wie Villalobos liefern für diesen Diskurs,
der sich in der offiziellen Regierungspolitik widerspiegelt, die ideologische Basis.
Gegen diese Art von mit Rassismus durchsetzter Geschichtsschreibung aus der
Perspektive der Herrschenden wendet sich Vitales Essay und greift in diesem Sinne direkt in einen Kampf um ideologische Hegemonie ein.
Zunächst dekonstruiert Vitale gekonnt und mit Esprit den Mythos der kulturellen Überlegenheit Europas gegenüber den
Kulturen der beiden Amerikas, um darauf das in der chilenischen Gesellschaft vorherrschende Bild des Mapuche als "Faulpelz und
Säufer" zu demontieren.
Danach macht er mit vielen historischen Zitaten angereichert deutlich, dass es zwar
nicht immer einen offenen Krieg, wohl aber einen jahrhundertelangen permanenten Konflikt zwischen der Mapuche-Gesellschaft und der
spanischen Kolonial- bzw. der chilenischen Mestizengesellschaft gab und gibt. Dieser bis heute nicht gelöste Widerstreit war der
Ausgangspunkt für den Essay.
Ein erster Schritt zur Annäherung von Mapuche und Chilenen sind für
Vitale - ähnlich der großen Treffen der Zapatistas mit der mexikanischen Zivilgesellschaft - die Konstruktion von Räumen
des Dialogs. Vitales Essay ist sicherlich einer dieser Räume, in dem zahlreiche Mapuche-Intellektuellen und AktivistInnen durch
längere Zitate zu Wort kommen. Er bietet damit Anknüpfungspunkte zwischen der Mapuche-Bewegung und anderen sozialen
Bewegungen, die Protest gegen das neoliberale Modell artikulieren und revolutionären Wandel für eine alternative Gesellschaft
schaffen wollen.
Olaf Kaltmeier
Von Luis Vitale veröffentlichte die SoZ: Projekt alternative Gesellschaft. Annäherung an eine neue lateinamerikanische
Theorie des gesellschaftlichen Wandels;, in SoZ 7/00; .