Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 14.09.2000, Seite 3

Korsika autonom - Frankreich kaputt?

Linke wie Rechte befürchten "Balkanisierung" Frankreichs

Frankreichs Innenminister Jean-Pierre Chevènement ist am 31.August, zum dritten Mal im Laufe seiner politischen Karriere, zurückgetreten. Dieses Mal gilt sein Dissens dem Abkommen, das am 28.Juli zwischen der Jospin-Regierung und den politischen Vertretern der Insel Korsika geschlossen worden war und das eine Art Autonomiestatus für die Mittelmeerinsel vorsieht.
Bis 2002 sollen technische Verwaltungskompetenzen und - in einer zweiten Phase - bis 2004 auchgesetzgeberische Vollmachten auf die politischen Organe der Insel übertragen werden. Dies unter der Bedingung, dass die Gewalt auf Korsika eingestellt wird. Im Wesentlichen soll sich die Insel eigene Regelungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich geben können, die die Entwicklung einer eigenständigen Ökonomie erlaubt.
In den Augen der Parteigänger Chevènements - Chef der linkspatriotischen "Bewegung der Staatsbürger" (Mouvement des Citoyens) - aber auch eines Teils des konservativen Lagers berge das Korsika-Abkommen die Gefahr einer "Balkanisierung", d.h. einer ethnischen Aufsplitterung, und führe somit zum Bruch mit den fundamentalen Prinzipien der Republik.
Eines dieser zentralen Grundsätze, deren Entstehungsgeschichte in die Revolutionsjahre 1789-1794 zurückreicht, ist das Prinzip der Gleichheit aller Bürger und Bürgerinnen vor dem Staat und dem Gesetz. Obwohl dieses Prinzip in der kolonialen Vergangenheit, aber auch gegenwärtig durch Zulassen von sozialer Ungleichheit weitgehend verletzt wird, bildet es weiterhin ein wichtiges Bindemittel für einen Teil der politischen Klasse und der Bevölkerung.
Tatsächlich hatte dieses universalistische und zentralisierende Republik- Modell auch aus Sicht progressiver Opponenten und sozialer Bewegungen seine Vorteile, da es die rasche Ausweitung und Politisierung gesellschaftlicher Debatten und Konflikte auf einem größeren Territorium erlaubt.
In Verbindung mit dem hohen Stellenwert der politisch-staatlichen Intervention im Wirtschaftsleben und des Gesetzes zur Regulierung des ökonomischen und sozialen Lebens erlaubte das Modell ein gesellschaftliches Kräfteverhältnis, das die Regierenden oft starkem Druck von "unten", von der Straße her, aussetzte. Das republikanisch-universalistische Modell (so manche Kritiker auf der Linken) und/oder die nationale Einheit (so die Kritiker auf der Rechten) würden durch die Gewährung von Autonomierechten an regionale "Partikularismen" bedroht.
Tatsächlich müsste eine "Balkanisierung" des französischen Territoriums, die dem Alptraum der einen und dem Wunschtraum manch anderer entsprechen mag, in diesem Sinne als Bedrohung erscheinen. Doch der Hinweis der Kritiker auf den "Bruch der republikanischen Gleichheit" durch das Autonomieabkommen täuscht zugleich darüber hinweg, dass tatsächlich niemals eine Gleichbehandlung zwischen dem französischen Territorium Korsika und dem Festland bestanden hat.
Die Situation Korsikas seit dem frühen 19.Jahrhundert ist im Wesentlichen von zwei Faktoren geprägt: der ökonomischen Nichtentwicklung der Insel und der Herrschaft der Clans mit Billigung der Pariser Zentralregierung. So stellen die Ableger der französischen politischen Parteien auf der Insel im Grunde keine Ideen- oder Interessenvertretungen im modernen Sinne dar, sondern lediglich die Verkleidung der dominierenden Clans bar jeglicher ideologischen Dimension.
Der korsische Nationalismus erscheint denn auch als - möglicherweise falsche - Antwort auf echte Probleme. Als Reaktion auf diese Herrschaftsstrukturen formierte sich in den 70er Jahren die zunächst autonomistische, später nationalistische Bewegung. Einziger radikaler Gegenpol zur Herrschaft der Clans auf der Mittelmeerinsel bildete ein Sammelbecken, in dem sich junge Anhänger aller möglichen Ideologien wiederfanden. Da waren, vor allem in den frühen Jahren, Linke - in den ersten Monaten dominierten die Maoisten - mit einem antikolonialen/antiimperialistischen Diskurs, aber von Anfang auch konservative bis rechtsextreme Elemente.
Das Hauptmerkmal der Bewegung, neben der heterogenen ideologischen Herkunft ihrer AktivistInnen, war ihre theoretische Schwäche, die sich zum Teil aus dem Fehlen an politischen Erfahrungen (mangels kollektiver Klassenstrukturen auf der Insel) und an intellektuellem Potenzial erklärte. An die Stelle der Theorie trat so der Waffenkult und der Mythos des heroischen Kapuzenträgers, die wiederum tief in den sozialen Traditionen der Insel - Clanstrukturen, Blutrache und Widerstand gegen wechselnde Eroberer - wurzeln.
Hinzu kam die Struktur der nationalistischen Bewegung, in denen die "militärische" Struktur stets die politischen, legalen Vorfeldorganisationen dominierte. Bereits ab 1983 konstatierten innere wie äußere Beobachter ein "Abgleiten der Bewegung ins Mafiawesen", da die Geld- und Waffenbeschaffungsprobleme zunehmend die Oberhand über die politische Dimension zu gewinnen begannen.
Dennoch erhielt ihr legaler, politischer Arm in den 90er Jahren Wahlerfolge, den größten davon im März 1999. 23,45% erhielten die konkurrierenden nationalistischen Listen zusammen, davon entfielen 16,5% auf die größte Fraktion, Corsica Nazione.
Der Erfolg ist auf die rabiaten Methoden zurückzuführen, mit denen der französische Präfekt Bernard Bonnet 1998/99 die Insel "normalisieren" und auf den rechtsstaatlichen Weg führen wollte, sich selbst aber weit außerhalb der Gesetze stellte. Seine James-Bond-Allüren haben Bonnet wenig später, im Mai 1999, in Untersuchungshaft befördert. Der höchste Repräsentant des Staates auf der Insel hatte illegal errichtete Gebäude kurzerhand nächtlich abfackeln lassen.
In den späten 90er Jahren bildete sich in der korsischen Territorialversammlung eine neue Allianz aus dem rechten "Erneuerer" José Rossi (Mitglied der radikal- wirtschaftsliberalen Démocratie Libérale, Präsident des korsischen Parlaments) und den korsischen Nationalisten. Deren gemeinsame materielle Basis, u.a. durch zwielichtige Geschäfte in Afrika, sollen künftig in einer Art Freihandelszone in Korsika investiert werden können.
Teils aufgrund der Aussicht auf eine solche Entwicklung, teils aufgrund ihrer eigenen inneren Probleme hat ein Teil der Nationalisten mittlerweile auf die Forderung der staatlichen Unabhängigkeit verzichtet. Im Gegenzug suchen sie ihr Heil in der Verbindung zu EU-Institutionen in Brüssel, um diese als Gegengewicht zu Paris zu benutzen und um von dort Unterstützung für eine wirtschaftliche Liberalisierungsperspektive sowie Subventionen aus den EU-Strukturhilfefonds einzuholen. Es ist kein Zufall, dass Jean-Guy Talamoni - Fraktionschef von Corsica Nazione im Territorialparlament in Ajaccio - Präsident der Kommission für europäische Angelegenheiten ist, eine Funktion, die ihn häufig nach Brüssel und Straßburg führt.
Wenn derzeit in Paris und Ajaccio beide Seiten mit dem geschlossenen Abkommen relativ zufrieden sind, dann ist dies auf einander diametral entgegengesetzte Bewertungen des bisherigen Verhandlungsstands zurückzuführen. Für das Pariser Regierungskabinett bedeutet das jetzige Abkommen, dass die Gewalt auf der Insel abgestellt werden muss, dass ein kontrollierter Prozess stattfinden und in den "Rahmen der Republik" gestellt werden soll. Umgekehrt bedeutet es für einen Teil der Nationalisten nur den ersten Schritt hin zu ihrem letztendlichen Ziel, der Unabhängigkeit - die freilich wohl bald nur mehr ein rhetorisch bemühtes "Fernziel" darstellen wird, wenn erst die Fleischtöpfe winken.
Dies hatte sich in der Vergangenheit bei der Stellung der Nationalisten zu den Investoren auf der Insel gezeigt. Zunächst hatten diese eine radikale Opposition gegen die Gefahr einer Zubetonierung und Verschandelung Korsikas durch Investoren vom Festland geübt, teilweise durch Sprengen von (oft gesetzwidrig errichteten) Gebäuden. Doch in den frühen 90er Jahren hatten Wach- und Security-Gesellschaften, die durch Nationalisten kontrolliert werden, Aufträge zur Überwachung des einen oder anderen Luxustouristenkomplexes erhalten - die plötzlich keine Kritik mehr auf sich zogen.

Bernhard Schmid (Paris)


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