Sozialistische Zeitung |
Frankreichs Innenminister Jean-Pierre Chevènement ist am 31.August, zum dritten Mal im Laufe seiner
politischen Karriere, zurückgetreten. Dieses Mal gilt sein Dissens dem Abkommen, das am 28.Juli zwischen der Jospin-Regierung und
den politischen Vertretern der Insel Korsika geschlossen worden war und das eine Art Autonomiestatus für die Mittelmeerinsel vorsieht.
Bis 2002 sollen technische Verwaltungskompetenzen und - in einer zweiten Phase -
bis 2004 auchgesetzgeberische Vollmachten auf die politischen Organe der Insel übertragen werden. Dies unter der Bedingung, dass die
Gewalt auf Korsika eingestellt wird. Im Wesentlichen soll sich die Insel eigene Regelungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich geben
können, die die Entwicklung einer eigenständigen Ökonomie erlaubt.
In den Augen der Parteigänger Chevènements - Chef der
linkspatriotischen "Bewegung der Staatsbürger" (Mouvement des Citoyens) - aber auch eines Teils des konservativen Lagers
berge das Korsika-Abkommen die Gefahr einer "Balkanisierung", d.h. einer ethnischen Aufsplitterung, und führe somit zum
Bruch mit den fundamentalen Prinzipien der Republik.
Eines dieser zentralen Grundsätze, deren Entstehungsgeschichte in die
Revolutionsjahre 1789-1794 zurückreicht, ist das Prinzip der Gleichheit aller Bürger und Bürgerinnen vor dem Staat und
dem Gesetz. Obwohl dieses Prinzip in der kolonialen Vergangenheit, aber auch gegenwärtig durch Zulassen von sozialer Ungleichheit
weitgehend verletzt wird, bildet es weiterhin ein wichtiges Bindemittel für einen Teil der politischen Klasse und der Bevölkerung.
Tatsächlich hatte dieses universalistische und zentralisierende Republik-
Modell auch aus Sicht progressiver Opponenten und sozialer Bewegungen seine Vorteile, da es die rasche Ausweitung und Politisierung
gesellschaftlicher Debatten und Konflikte auf einem größeren Territorium erlaubt.
In Verbindung mit dem hohen Stellenwert der politisch-staatlichen Intervention im
Wirtschaftsleben und des Gesetzes zur Regulierung des ökonomischen und sozialen Lebens erlaubte das Modell ein gesellschaftliches
Kräfteverhältnis, das die Regierenden oft starkem Druck von "unten", von der Straße her, aussetzte. Das
republikanisch-universalistische Modell (so manche Kritiker auf der Linken) und/oder die nationale Einheit (so die Kritiker auf der Rechten)
würden durch die Gewährung von Autonomierechten an regionale "Partikularismen" bedroht.
Tatsächlich müsste eine "Balkanisierung" des
französischen Territoriums, die dem Alptraum der einen und dem Wunschtraum manch anderer entsprechen mag, in diesem Sinne als
Bedrohung erscheinen. Doch der Hinweis der Kritiker auf den "Bruch der republikanischen Gleichheit" durch das
Autonomieabkommen täuscht zugleich darüber hinweg, dass tatsächlich niemals eine Gleichbehandlung zwischen dem
französischen Territorium Korsika und dem Festland bestanden hat.
Die Situation Korsikas seit dem frühen 19.Jahrhundert ist im Wesentlichen von
zwei Faktoren geprägt: der ökonomischen Nichtentwicklung der Insel und der Herrschaft der Clans mit Billigung der Pariser
Zentralregierung. So stellen die Ableger der französischen politischen Parteien auf der Insel im Grunde keine Ideen- oder
Interessenvertretungen im modernen Sinne dar, sondern lediglich die Verkleidung der dominierenden Clans bar jeglicher ideologischen
Dimension.
Der korsische Nationalismus erscheint denn auch als - möglicherweise falsche
- Antwort auf echte Probleme. Als Reaktion auf diese Herrschaftsstrukturen formierte sich in den 70er Jahren die zunächst
autonomistische, später nationalistische Bewegung. Einziger radikaler Gegenpol zur Herrschaft der Clans auf der Mittelmeerinsel bildete
ein Sammelbecken, in dem sich junge Anhänger aller möglichen Ideologien wiederfanden. Da waren, vor allem in den frühen
Jahren, Linke - in den ersten Monaten dominierten die Maoisten - mit einem antikolonialen/antiimperialistischen Diskurs, aber von Anfang auch
konservative bis rechtsextreme Elemente.
Das Hauptmerkmal der Bewegung, neben der heterogenen ideologischen Herkunft
ihrer AktivistInnen, war ihre theoretische Schwäche, die sich zum Teil aus dem Fehlen an politischen Erfahrungen (mangels kollektiver
Klassenstrukturen auf der Insel) und an intellektuellem Potenzial erklärte. An die Stelle der Theorie trat so der Waffenkult und der
Mythos des heroischen Kapuzenträgers, die wiederum tief in den sozialen Traditionen der Insel - Clanstrukturen, Blutrache und
Widerstand gegen wechselnde Eroberer - wurzeln.
Hinzu kam die Struktur der nationalistischen Bewegung, in denen die
"militärische" Struktur stets die politischen, legalen Vorfeldorganisationen dominierte. Bereits ab 1983 konstatierten innere
wie äußere Beobachter ein "Abgleiten der Bewegung ins Mafiawesen", da die Geld- und Waffenbeschaffungsprobleme
zunehmend die Oberhand über die politische Dimension zu gewinnen begannen.
Dennoch erhielt ihr legaler, politischer Arm in den 90er Jahren Wahlerfolge, den
größten davon im März 1999. 23,45% erhielten die konkurrierenden nationalistischen Listen zusammen, davon entfielen
16,5% auf die größte Fraktion, Corsica Nazione.
Der Erfolg ist auf die rabiaten Methoden zurückzuführen, mit denen der
französische Präfekt Bernard Bonnet 1998/99 die Insel "normalisieren" und auf den rechtsstaatlichen Weg führen
wollte, sich selbst aber weit außerhalb der Gesetze stellte. Seine James-Bond-Allüren haben Bonnet wenig später, im Mai
1999, in Untersuchungshaft befördert. Der höchste Repräsentant des Staates auf der Insel hatte illegal errichtete
Gebäude kurzerhand nächtlich abfackeln lassen.
In den späten 90er Jahren bildete sich in der korsischen
Territorialversammlung eine neue Allianz aus dem rechten "Erneuerer" José Rossi (Mitglied der radikal-
wirtschaftsliberalen Démocratie Libérale, Präsident des korsischen Parlaments) und den korsischen Nationalisten. Deren
gemeinsame materielle Basis, u.a. durch zwielichtige Geschäfte in Afrika, sollen künftig in einer Art Freihandelszone in Korsika
investiert werden können.
Teils aufgrund der Aussicht auf eine solche Entwicklung, teils aufgrund ihrer eigenen
inneren Probleme hat ein Teil der Nationalisten mittlerweile auf die Forderung der staatlichen Unabhängigkeit verzichtet. Im Gegenzug
suchen sie ihr Heil in der Verbindung zu EU-Institutionen in Brüssel, um diese als Gegengewicht zu Paris zu benutzen und um von dort
Unterstützung für eine wirtschaftliche Liberalisierungsperspektive sowie Subventionen aus den EU-Strukturhilfefonds einzuholen.
Es ist kein Zufall, dass Jean-Guy Talamoni - Fraktionschef von Corsica Nazione im Territorialparlament in Ajaccio - Präsident der
Kommission für europäische Angelegenheiten ist, eine Funktion, die ihn häufig nach Brüssel und Straßburg
führt.
Wenn derzeit in Paris und Ajaccio beide Seiten mit dem geschlossenen Abkommen
relativ zufrieden sind, dann ist dies auf einander diametral entgegengesetzte Bewertungen des bisherigen Verhandlungsstands
zurückzuführen. Für das Pariser Regierungskabinett bedeutet das jetzige Abkommen, dass die Gewalt auf der Insel abgestellt
werden muss, dass ein kontrollierter Prozess stattfinden und in den "Rahmen der Republik" gestellt werden soll. Umgekehrt
bedeutet es für einen Teil der Nationalisten nur den ersten Schritt hin zu ihrem letztendlichen Ziel, der Unabhängigkeit - die freilich
wohl bald nur mehr ein rhetorisch bemühtes "Fernziel" darstellen wird, wenn erst die Fleischtöpfe winken.
Dies hatte sich in der Vergangenheit bei der Stellung der Nationalisten zu den
Investoren auf der Insel gezeigt. Zunächst hatten diese eine radikale Opposition gegen die Gefahr einer Zubetonierung und
Verschandelung Korsikas durch Investoren vom Festland geübt, teilweise durch Sprengen von (oft gesetzwidrig errichteten)
Gebäuden. Doch in den frühen 90er Jahren hatten Wach- und Security-Gesellschaften, die durch Nationalisten kontrolliert werden,
Aufträge zur Überwachung des einen oder anderen Luxustouristenkomplexes erhalten - die plötzlich keine Kritik mehr auf
sich zogen.
Bernhard Schmid (Paris)