Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.19 vom 14.09.2000, Seite 4

23.9. - Halbzeitbilanz:

Zahnlose Opposition

Die Regierung Schröder kann sich die Hände reiben. Nach der Steuer"reform" ist jetzt auch der Rentenkompromiss in Sack und Tüten - nachdem die Gewerkschaften umgefallen sind und darauf verzichtet haben, bei einem so zentralen Thema für den Lebensstandard breiter Bevölkerungskreise eine gesellschaftliche Kraftprobe mit der Regierung zu suchen. Was macht es da schon, dass IG Metall und IG BAU nun doch noch ihre Bauchschmerzen anmelden? Eine Mobilisierung der Unzufriedenheit ergibt sich daraus fürs erste nicht mehr.
Daran wird auch der Aufruf nach Berlin zum 23.September zu einer "Halbzeitbilanz" über die Regierungspolitik nichts ändern. Die steht eher unter dem Motto: Jeder stirbt für sich allein.
Dabei sah es vor der Sommerpause noch anders aus. Die Gewerkschaftsjugend hatte zu einer bundesweiten Mobilisierung unter dem Motto "Her mit dem schönen Leben" aufgerufen. Das Aktionsbündnis "Aufstehen für eine andere Politik" plante seit März eine Konferenz in Berlin, auf der eine Bilanz der "rot"- grünen Regierungspolitik gezogen werden sollte - begleitet von Aktionen verschiedener sozialer Gruppen und einer gemeinsamen Abschlusskundgebung.
Die Gewerkschaftsjugend hielt es aber nicht für nötig, ihre Aktionen mit dem Aktionsbündnis abzusprechen. Die Themen, die beide Veranstalter ansprechen, überschneiden sich zwar teilweise: "Umverteilung von Arbeit und Reichtum". Doch beide bieten eher ein Sammelsurium von Unzufriedenheiten, nicht aber eine zentrale Stoßrichtung des Protests an. Und es wollte wohl keiner auf seine Funktion als "Dachverband" der Mobilisierung verzichten.
Das Thema Rente hätte ein gemeinsames Thema sein können - und müssen. Es hätte auch eins werden können, wenn die Einzelgewerkschaften sich entsprechend dahintergeklemmt und ihre Jugendorganisationen für das Thema sensibilisiert hätten. Aber unter Gewerkschaftsjugendlichen greift die Propaganda von Schröder und Riester, die Jugend sei die Verliererin beim derzeitigen Umlageverfahren. Und die Erwachsenenorganisationen wussten selber nicht, was sie von der Reform halten sollten.
So stand also frühzeitig fest, dass die Aktionen der Gewerkschaftsjugend und des Aktionsbündnisses zu keinem Zeitpunkt zusammenfließen würden: Wenn das Aktionsbündnis um 15 Uhr seine Abschlusskundgebung vor dem Roten Rathaus macht, düst die Gewerkschaftsjugend gerade in Richtung Rockkonzert ab...
Das Aktionsbündnis (mit Sitz in Frankfurt/M.) wiederum, eher eine Gruppe von Generälen ohne Armee, hat sich zu keinem Zeitpunkt darüber Gedanken gemacht, wie in Berlin ein breites Bündnis gesellschaftlicher Organisationen hergestellt werden kann, das seine Aktionsvorstellungen trägt. Resultat ist, dass die Aktionen der Betroffenengruppen teilweise von außerhalb Berlins organisiert werden.
Nicht einmal für die Abschlusskundgebung hat sich ein örtlicher Trägerkreis gefunden. Anmeldung und Logistik (Lautsprecherwagen u.ä.) hat schließlich die Bundestagsfraktion der PDS übernommen, die dafür Gregor Gysi reden lassen wollte, was wiederum für Ärger gesorgt hat…
Die Unfähigkeit zur Zusammenarbeit und Kommunikation geht so weit, dass nicht einmal Uhrzeiten gemeinsamer Aktionen gleichlautend ausgedruckt werden: So rufen die Koordinierungsstelle Bielefeld, das Aktionsbündnis und das Netzwerk gegen Konzernherrschaft zu einer gemeinsamen Aktion gegen Erwerbslosigkeit vor dem Arbeitsministerium auf: die Koordinierungsstelle um 12 Uhr, das Aktionsbündnis auf seinem offiziellen Flugblatt um 13 Uhr. Es scheint kein Druckfehler zu sein, denn selbst bei Nachfrage beharrte man auf diesen Angaben…
Vernetzung ist in diesen Zeiten ein Zauberwort - aber auch ein heftig beargwöhntes. Obwohl schon der Augenschein vom Gegenteil überzeugt, scheint jeder davon auszugehen, er schaffe es ganz gut auch allein. Es bleibt zu hoffen, dass die Erfahrung vom 23.September einige Menschen mehr dazu bringt, sich von diesem Irrtum zu lösen…

Angela Klein


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