Sozialistische Zeitung |
Hinter der scheinbaren Zwangsläufigkeit der ökonomischen Entwicklungen wenigstens der letzten
beiden Jahrzehnte verbirgt sich in Wahrheit eine Politik, die freilich paradox ist - insofern es sich dabei nämlich um eine Politik der
Entpolitisierung handelt. Denn ihr Ziel bestand und besteht darin, den Kräften der Ökonomie, indem sie all ihre Fesseln löst,
einen sich schicksalhaft auswirkenden Einfluss zu geben: sie will nichts anderes, als die Staaten und ihre Bürger den derart entfesselten
Gesetzen der Ökonomie unterwerfen.
Alles das, was man unter dem zugleich deskriptiven und normativen Begriff der
"Globalisierung" fasst, ist keineswegs das Ergebnis zwangsläufiger ökonomischer Entwicklungen, sondern einer
ausgeklügelten und bewusst ins Werk gesetzten, ihrer verheerenden Folgen allerdings kaum bewussten Politik. Diese Politik hat liberale
oder gar sozialdemokratische Regierungen einer ganzen Reihe von wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern dazu verleitet, ihren
früheren Einfluss auf die Kräfte der Ökonomie völlig aufzugeben.
Es ist vor allem diese Politik, die in den geheimen Sitzungen der großen
internationalen Organisationen wie der WTO oder der EU, oder innerhalb all der "Netzwerke" multinationaler Unternehmen
entwickelt wurde, die heute ihren Willen auf den verschiedensten Wegen - und das sind in erster Linie juristische - den einzelnen Staaten
aufzunötigen imstande scheint.
Deshalb geht es nun darum, gegen diese Politik der Entpolitisierung und
Entmobilisierung die Politik, politisches Denken und Handeln wiederherzustellen, und für dieses Handeln eine geeignete Ansatzstelle zu
finden, der heute jenseits der Grenzen des Nationalstaats liegen müsste, und die dazu erforderlichen Mittel, die sich nun nicht mehr auf
die politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens beschränken können. Zugegeben
ist ein solches Unternehmen aus verschiedensten Gründen nur sehr schwer umzusetzen. […]
Dazu kommt noch, dass bestimmte Ziele eines wirkungsvollen politischen Handelns
auf europäischer Ebene angesiedelt sein müssen - zumindest insoweit europäische Unternehmen und Organisationen ein
bestimmendes Element der herrschenden Kräfte im globalen Maßstab geworden sind. Das heißt nichts anderes, als dass die
Schaffung einer vereinigten europäischen Sozialbewegung, die unterschiedlichste, gegenwärtig noch gespaltene Bewegungen
sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene vereinigen müsste, sich zu einem unabweisbaren Ziel für all jene darstellt, die
den herrschenden Kräften des Marktes wirkungsvoll begegnen wollen.
Vereinigen, ohne zu vereinheitlichen
Diese
sozialen Bewegungen, so unterschiedlich sie auch aufgrund ihrer jeweiligen Ursprünge, Anliegen und Ziele sind, besitzen eine ganze
Reihe gemeinsamer Züge, die ihnen eine Art Familienähnlichkeit verleihen. An erster Stelle besitzen diese Bewegungen eine
ausgeprägte Abneigung gegen jede Monopolisierung durch kleine Minderheiten, sie beruhen im Gegenteil auf einer eine unmittelbaren
Einbindung aller Beteiligten.
Dies vor allem, weil sie oft aus der Ablehnung traditioneller Formen der politischen
Mobilisierung, insbesondere der Parteien sowjetischen Typs hervorgegangen sind. In dieser Hinsicht stehen sie der libertären Tradition
nahe, ziehen selbstverwaltete Organisationsformen vor, die, wendig und schlagkräftig, den beteiligten die Möglichkeit
eröffnen, wieder als aktive Subjekte ins Geschehen einzugreifen - gegen jene Parteien, deren Monopol auf politisches Handeln sie in
Frage stellen.
Ein weiterer gemeinsamer Zug besteht darin, dass sie auf greifbare und wesentliche
Ziele hin ausgerichtet sind (Wohnung, Arbeit, Gesundheit usw.), umsetzbare Lösungen anbieten, und immer wieder zu
gewährleisten versuchen, dass ihre Vorschläge oder auch ihre Ablehnung exemplarisch und direkt in Aktionen verbunden sind, in
denen das betreffenden Problem Gestalt annimmt.
Eine dritte Gemeinsamkeit: sie alle lehnen die neoliberale Politik ab, die
willfährig den Zielen der multinationalen Großunternehmen zur Durchsetzung verhilft. Und ein letztes gemeinsames Merkmal ist
ihre solidarische Haltung, eine Art unausgesprochener Grundsatz, der sich auf die Betroffenen (die "-losen", Obdachlosen,
Arbeitslosen usw.) ebenso bezieht wie auf die Unterstützung anderer Bewegungen.
Die Feststellung einer solchen Nähe bei Mitteln und Zielen des politischen
Kampfes erfordert vielleicht nicht unbedingt eine Vereinigung der überall und verstreut tätigen Gruppen (die zweifellos weder
machbar noch erstrebenswert wäre), ein Schulterschluss, der gerade von den jungen Aktivisten häufig gefordert wird, weil die
tatsächlichen Übereinstimmungen und Überschneidungen immer wieder deutlich werden: aber sie verlangen doch eine
Koordination der Forderungen und des Vorgehens, ohne dass damit irgendwelche Vereinnahmungsabsichten verbunden wären.
Diese Koordination müsste die Form eines Netzwerks annehmen, in dem sich
Einzelne und Gruppen zusammenschließen könnten, ohne dass irgendwer die anderen beherrschen oder einschränken kann,
und in dem der gesamte Reichtum der unterschiedlichen Erfahrungen, Sichtweisen und Ziele gewahrt bliebe. Ihm käme vor allem die
Aufgabe zu, die noch zersplitterten sozialen Bewegungen aus ihrem Partikularismus, den lokalen, temporären und punktuellen
Zusammenhängen zu reißen und ihnen dabei zu helfen, die Regellosigkeit, den andauernden Wechsel zwischen intensiver
Mobilisierung und einer latenten, vor sich hin treibenden Existenz zu überwinden, ohne dabei jener bürokratischen Konzentration
Raum zu geben, die gerade ihre besonderen Möglichkeiten zerstört.
Gleichzeitig flexibel und stabil, müsste diese Organisation dann zwei
verschiedene Vorhaben in Angriff nehmen: zum einen bei jeweils kurzfristig anberaumten und auf die jeweiligen Umstände bezogenen
Treffen aufeinander abgestimmte und auf greifbare Ziele gerichtete Aktionen vorbereiten. Zum anderen während fester und
regelmäßiger Zusammenkünfte (wie bei den für Wien und Athen vorgesehenen Veranstaltungen) der Vertreter aller
betroffenen Gruppen allgemein bedeutsame Fragen zur Diskussion stellen und gemeinsam an langfristigen Zielsetzungen arbeiten.
Es käme hier darauf an, im Überschneidungsbereich der Praxisfelder der
einzelnen Gruppen allgemeine Ziele auszumachen und zu entwickeln, bei deren Verwirklichung alle mitwirken und dabei ihre jeweiligen
Möglichkeiten und Mittel beisteuern könnten - man darf getrost hoffen, dass sich aus dieser demokratischen Begegnung einer
Vielzahl von Menschen und Gruppen, die einige wesentliche Vorstellungen und Überzeugungen teilen, allmählich ein Bündel
von zusammenhängenden und sinnvollen Antworten auf jene grundlegenden Fragen ergibt, für die weder die Gewerkschaften noch
die Parteien weltumspannende Lösungen anbieten können.
Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung
Eine
europäische Sozialbewegung ist natürlich kaum denkbar, ohne dass die Gewerkschaften in ihr mitwirken, vorausgesetzt allerdings,
sie überwinden die äußeren und inneren Hürden, die ihrem Erstarken und ihrer Einigung auf europäischer Ebene
im Wege stehen. Es wirkt nur dem Anschein nach paradox, den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung für eine mittelbare und zeitlich
verzögerte Wirkung ihres Triumphs zu halten. Viele Forderungen, die hinter den gewerkschaftlichen Kämpfen standen, sind zu
Institutionen geworden, die nun, als soziale Rechtsbestände, wesentliche Streitfragen zwischen den Gewerkschaften selbst aufwerfen.
Als parastaatliche, oft vom Staat selbst finanzierte Instanzen sind die
Gewerkschaftsbürokratien an der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums beteiligt, sie sichern einen sozialen Kompromiss, der
dazu anhält, Konfrontationen zu meiden. Es kommt immer wieder vor, dass die Verantwortlichen in den Gewerkschaften zu Verwaltern
dieses Kompromisses werden, denen die Sorgen und Nöte ihrer Mandanten fern gerückt sind. Und es kann dann geschehen, dass sie
die Logik der Konkurrenz zwischen den Apparaten oder innerhalb der Apparate dazu verführt, die eigenen Interessen eher zu verteidigen
als die Interessen derer, die sie eigentlich vertreten sollten. Dies hat zu einem nicht geringen Teil dazu beigetragen, die Beschäftigten den
Gewerkschaften zu entfremden und sogar den Gewerkschaftsmitgliedern eine aktive Mitgestaltung in der Organisation zu verleiden.
Freilich können diese Entwicklungen im Innern alleine nicht erklären,
dass die organisierten Gewerkschafter immer weniger und zunehmend weniger aktiv werden. Die neoliberale Politik trägt auch hier ihren
Teil zur Schwächung der Gewerkschaften bei. Die "Flexibilisierung" und vor allem die Prekarisierung einer wachsenden
Zahl von Beschäftigungsverhältnissen und der daraus sich ergebende Wandel der Arbeitsbedingungen und Arbeitsanforderungen
bewirken, dass ein gemeinsames Vorgehen und selbst die einfache Informationsarbeit immer schwieriger werden, während die Reste der
sozialen Sicherung weiterhin einen Teil der Beschäftigten unterstützen.
Dies hält vor Augen, wie unerlässlich, aber auch wie schwierig eine
Reform gewerkschaftlicher Arbeit ist, eine Reform, die eigentlich Ämterrotation, eine Infragestellung des Modells der
uneingeschränkten Delegation ebenso voraussetzte wie die Erfindung neuer Techniken zur Mobilisierung der neuen, ungesicherten und
randständigen Beschäftigten.
Die vollkommen neuartige Organisation, auf deren Schaffung es hier ankäme,
müsste also imstande sein, die Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung selbst, ihre unterschiedlichen Ziele und nationalen
Zugehörigkeiten gleichermaßen zu überwinden wie die Teilung in Gewerkschaften und "Bewegungen", und all
dies unter Umgehung der über all diesen Gruppen schwebenden Gefahr der Monopolisierung und Resistenz gegenüber
Veränderungen, die sich oft in einer beinahe schon neurotischen Furcht ausdrücken.
Die Schaffung eines solchen dichten und wirksam arbeitenden internationalen
Netzwerks von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die durch gegenseitigen Austausch, etwa bei den "Generalständen der
europäischen Sozialbewegung" (Etats généraux) neue Anstöße erhielten, müsste ein mit
bestimmten Forderungen auftretendes internationales Vorgehen nach sich ziehen, das nichts mehr gemein hätte mit der Arbeit solch
offizieller Institutionen, in denen die Gewerkschaften ja vertreten sind (wie der Europäische Gewerkschaftsbund), ein Vorgehen, das
auch die Arbeit all jener Bewegungen einbegriffe, die sich jeden Tag ihren ganz besonderen und scheinbar begrenzten Schwierigkeiten
gegenüber sehen.
Wissenschaftler und Aktivisten
Diese Arbeit zur Überwindung der Spaltungen zwischen den
sozialen Bewegungen und zur Sammlung aller verfügbaren Kräfte gegen die ihrerseits bewusst und fein aufeinander abgestimmten
(man denke etwa an das Forum von Davos) herrschenden Kräfte muss sich auch auf die Überwindung einer ebenso unheilvollen
Spaltung richten, nämlich die zwischen Wissenschaftlern und Aktivisten.
Angesichts des gegenwärtigen Stands der ökonomischen und politischen
Kräfteverhältnisse, wo die Mächte der Ökonomie in der Lage sind, in einer noch nie dagewesenen Weise und bisher
unbekanntem Ausmaß wissenschaftliche, technische und kulturelle Ressourcen in ihren Dienst zu stellen, kommt der Arbeit der Forschung
größte Bedeutung zu, gerade um solche Strategien aufzudecken und auseinander zu nehmen, die von bestimmten multinationalen
Unternehmen und internationalen Organisationen erarbeitet und umgesetzt werden, Organisationen, die wie die WTO universell gültige
Regeln beschließen und durchsetzen, durch die eine neoliberale Utopie allgemeiner Deregulierung zunehmend Wirklichkeit zu werden
droht.
Die gesellschaftlichen Hürden für einen solchen Schulterschluss sind
nicht weniger hoch als die, die zwischen verschiedenen Bewegungen oder zwischen ihnen und den Gewerkschaften stehen. Trotz ihrer
Unterschiedlichkeit, der oft verschiedenen Ausbildungen und meist ganz anderen sozialen Karrieren müssen Forscher, die sich aktiv in
einer Bewegung engagieren ebenso wie die dort Aktiven noch lernen, miteinander zu arbeiten und alle Vorbehalte ablegen, die sie
möglicherweise den anderen gegenüber haben, müssen sich der vielen eingeschliffenen Vorurteile entledigen, die mit ihrer
Zugehörigkeit zu ganz unterschiedlichen Welten und der Unterwerfung unter ihre besonderen Gesetzen einhergehen, und das kann nur mit
Hilfe neuartiger Formen der Kommunikation und Diskussion vonstatten gehen.
Auch dies ist eine der Voraussetzungen dafür, dass es zur kollektiven
Erfindung eines kohärenten, durch die kritische Konfrontation der jeweiligen Erfahrungen aufeinander abgestimmten Bündels von
Antworten kommen kann, die ihre politische Überzeugungskraft dem Umstand schulden, dass sie zugleich systematisch entworfen und
kollektiv gestützt, in gemeinsamen Wünschen und Überzeugungen verankert sind.
Einzig und allein eine europäische Sozialbewegung, die sich der in den
unterschiedlichen Organisationen der verschiedensten Länder angesammelten Kräfte und Mittel bedient, die sich der bei
ähnlichen Treffen wie den "Generalständen" ausgetauschten Informationen, der dort gemeinsam erarbeiteten Instrumente
des Widerstands versichern kann, wird überhaupt in der Lage sein, der ökonomischen und symbolischen Macht der multinationalen
Unternehmen und ihren Armeen von Beratern und Experten etwas entgegenzusetzen, in der Lage auch, an die Stelle jener allein dem Gebot
kurzfristiger Profitmaximierung gehorchenden und zynisch durchgesetzten Vorgaben die in jeder Hinsicht demokratischen Ziele eines mit
ausreichend politischen, juristischen und finanziellen Mitteln ausgestatteten europäischen Sozialstaats zu stellen, um der rohen und
gewalttätigen Kraft engstirniger ökonomischen Interessen Einhalt gebieten zu können.
Pierre Bourdieu