Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 28.09.2000, Seite 11

Nizza 2000

EU hebelt Recht auf Stütze aus

Auf dem Ratsgipfel von Nizza am 7. und 8.Dezember werden zwei Fragen behandelt:
1. Die Proklamation eines EU-Grundrechtekatalogs (s. SoZ Nr.19). In Nizza ist nicht vorgesehen, den Katalog in den neuen EU-Vertrag aufzunehmen; die Diskussion darüber bleibt jedoch offen. Zeitgleich findet eine Debatte um eine EU-Verfassung statt. Der Grundrechtekatalog könnte zum Bestandteil einer künftigen solchen Verfassung werden.
2. Die Revision des EU-Vertrags. Die bestehenden EU-Institutionen müssen dem Ziel der Osterweiterung angepasst werden. Die Hauptpunkte dabei sind:
die Verallgemeinerung der Abstimmung nach qualifizierter Mehrheit (bisher gilt, bis auf Ausnahmen, das Prinzip der Einstimmigkeit);
die Neufestlegung der Zahl der EU-Kommissare;
die Gewichtung der Stimmen der Mitgliedstaaten.
Die fällige Reform wirft erneut die Frage auf, wieviel einzelstaatliche Kompetenzen und welche der EU übertragen werden sollen. Dabei ist die Entwicklung widersprüchlich: Zum einen wachsen der EU mit der Formulierung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der Entscheidung für eine Militärunion, der Aushebung einer gemeinsamen Schnellen Eingreiftruppe (in der Debatte sind 60.000 Mann), der Schaffung einer europäischen Polizei und der Aufnahme des Schengener Abkommens in den Vertrag mehr und mehr Kompetenzen zu, die Hoheits- und Obrigkeitsrechte betreffen (Sicherung nach außen und nach innen) und die bisher von den Nationalstaaten wahrgenommen wurden; hier wird, wie auch auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik, Gemeinschaftsrecht geschaffen.
Dasselbe soll es jedoch im Hinblick auf Sozialstandards und Arbeitsmarkt nicht geben. Das Stichwort heißt hier Subsidiarität: Soviel wie möglich soll auf regionaler oder einzelstaatlicher Ebene, so wenig wie möglich auf Gemeinschaftsebene geregelt werden. Ein sinnvolles Prinzip, wenn es auf Wirtschaftskreisläufe mit dem Ziel angewandt würde, einen möglichst großen Bedarf vor Ort zu decken und damit sinnlose und umweltschädigende Produktionsabläufe und Transportwege zu verhindern. So ist es aber nicht gemeint; die Produktion wird weltweit zerstreut, die ökologische und soziale Belastung durch vermehrte Transporte nimmt rasant zu — hier herrscht Globalisierung pur.
Hingegen wird die Keule der Subsidiarität mit Vorliebe gegen die sozialen Sicherungssysteme und die Arbeitsmarktregelungen geworfen. Hier hat das Prinzip: "regional handeln" die Auswirkung, dass die Ungleichheit der Lebensbedingungen zunimmt. Das Grundgesetz enthält noch die Verpflichtung zur Herstellung einheitlicher Lebensbedingungen in Deutschland, die EU-Verträge höhlen diese Verpflichtung nach und nach aus.

Bedingtes Recht auf Stütze

Der revidierte Vertragsentwurf, der in Nizza zur Debatte steht, ist ein Paradebeispiel dafür — und zugleich Höhepunkt der Deregulierungspolitik der EU seit dem Vertrag von Maastricht. In dem Maße, wie die EU vom Prinzip der Einstimmigkeit abrückt, mit dem ein einziger Staat Entscheidungen, die ihm nicht passen, blockieren kann, und Mehrheitsentscheidungen einführt, in dem Maße wächst die "Gefahr", dass gegen den Willen einzelner Staaten neue Kompetenzen der EU, z.B. auf sozialem Gebiet, eingeführt werden. Deshalb üben einige Staaten, aber auch die Unternehmerverbände, Druck aus, dass solche Kompetenzen genau eingeschränkt werden.
Der revidierte Vertragsentwurf enthält ausführliche Passagen, mit denen nicht nur die Entstehung eines EU-weit einheitlichen sozialen Sicherungssystems, sondern auch die Durchsetzung einheitlicher Sozialstandards verhindert werden soll. Er befindet:
"Die Gemeinschaft unterstützt und ergänzt die Aktion der Mitgliedstaaten … in Bezug auf die Bedingungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld im Falle der Kündigung eines Arbeitsvertrags [sofern diese "unabhängig vom Willen der Arbeitenden" erfolgt) — mit Ausnahme der Regelungen über die rechtlichen und technischen Strukturen der Arbeitslosenversicherung und der Regelungen über die Dauer des Leistungsbezugs, die Höhe des Arbeitslosengelds und die Höhe der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung."
Die EU mischt sich also in die konkrete Ausgestaltung der sozialen Versicherungsysteme nicht ein, deren Vielfalt und unterschiedliches Leistungsniveau bleibt erhalten. Die EU definiert aber Bedingungen, unter denen künftig in der EU Arbeitslosengeld gezahlt wird — und zwar Mindestbedingungen, die heute schon von allen Staaten der Gemeinschaft garantiert wird.
Das Subsidiaritätsprinzip wird damit zu einem Instrument, die Angleichung der Lebensstandards nach unten durchzusetzen. Im Vertragsentwurf heißt es dazu: "Der Rat kann über Direktiven Mindestvorschriften durchsetzen, die die Bedingungen und technischen Regelungen in jedem Mitgliedstaat berücksichtigen. Diese Direktiven vermeiden es, administrativen, finanziellen und juristischen Zwang auszuüben, der die Schaffung und Entwicklung von kleinen und mitteleren Betrieben behindern würde." Die sich daraus ergebende Absenkung der Leistungsniveaus bezeichnet die EU als "Maßnahme zum Schutz der Arbeitenden"!
Die Bedingungen zur Gewährung von Arbeitslosengeld, die der neue EU-Vertrag definiert, bedeutet faktisch die Abschaffung des Rechts auf Arbeitslosengeld und dessen Bindung an eng definierte Voraussetzungen. Zu diesen Bedingungen gehört:
die Vereinbarkeit bzw. Nichtvereinbarkeit der Zahlung von Arbeitslosengeld mit einem Vollzeit-, Teilzeit- und Zeitarbeitsjob bzw. dem Erhalt anderer Zuwendungen;
die Festsetzung von Untergrenzen für den Bezug von Arbeitslosengeld (das können zeitliche Begrenzungen, Begrenzungen der Höhe und eine Eingrenzung der Umstände für den Leistungsbezug sein);
die Festsetzung, ob Arbeitslosengeld nur gezahlt wird, wenn man einen Vollzeitjob, oder auch wenn man einen Teilzeitjob verloren hat.
Darüber hinaus soll präzisiert werden, was es heißt, dass der/die Arbeitslose dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen hat, um ein Anrecht auf Arbeitslosengeld zu haben. Zum Beispiel ob er als Arbeitssuchender registriert sein muss, ob er jede angemessene (zumutbare) Arbeit annehmen muss, und ob er sich gegebenenfalls einer Überprüfung seiner Arbeitslosigkeit durch die zuständigen Ämter unterziehen muss.
In den EU-Vertrag werden damit massive Einschränkungen für den Bezug von Arbeitslosengeld eingebaut, die die Regierungen in den Mitgliedstaaten entweder nicht durchsetzen können oder sich dies noch nicht trauen. Die Kommission greift den Vorstoß des französischen Unternehmerverbands Medef aus diesem Frühjahr (sie SoZ 13/00) auf. Dessen "Plan zur Hilfe zur Rückkehr in Arbeit" (PARE) sieht vor:
eine Begrenzung des Leistungsbezugs auf sechs Monate, nach deren Ablauf ein Arbeitsangebot nicht mehr "ohne legitimen Grund" abgelehnt werden kann.; die Periode kann maximal einmal verlängert werden, also insgesamt höchstens zwölf Monate umfassen;
die Verpflichtung, sich einer "personalisierten Betreuung" zu unterziehen;
die Festlegung von Sanktionen bei Arbeitsverweigerung, bis hin zur vollständigen Streichung des Leistungsbezugs;
der/die Erwerbslose ist verpflichtet, beruflichen Eingliederungsmaßnahmen zuzustimmen, die den Unternehmer drei Jahre lang bei den Lohnnebenkosten entlasten.
Der Plan hat bislang die Unterstützung der CFDT, aber nicht der CGT und anderer Gewerkschaften. Arbeitsministerin Martine Aubry will ihn vor ihrem Rücktritt im Herbst noch unter Dach und Fach bringen, aber es ist unklar, ob dies gelingt. Mindestens Teile der französischen Regierung geben sich bisher den Anschein, sich den Plänen des Medef widersetzen zu wollen; hintenherum aber bereitet sie den Weg für deren Übernahme in allen EU-Staaten.
Offenkundig rechnet man in der EU damit, dass deren Entscheidungen für die meisten Erwerbslosen so weit weg sind, dass sie sie nicht registrieren, und jedenfalls die EU immer noch nicht als Adressat von Forderungen begriffen wird.
Die bisher geltenden Großen Wirtschaftspolitischen und Beschäftigungspolitischen Leitlinien, die jährlich vom Rat verabschiedet werden, stellen eine Empfehlung, also einen moralischen Zwang, aber keinen rechtlichen Zwang dar. Wenn der EU-Vertrag im genannten Sinne geändert wird, müssen die nationalen Gesetze diesem angepasst werden. EU-Recht bricht Staatenrecht.
Die geplanten Maßnahmen stellen die schärfste Einschränkung des Rechts auf Arbeitslosengeld seit dessen Neuformulierung nach dem Krieg dar. In ihrer Tragweite sind sie nur mit dem Ende der Weimarer Republik vergleichbar, als die Regierung Brüning im April 1930 über einer halben Million Erwerbslosen die Stütze strich. Für die Erwerbslosenbewegung ist dies eine gewaltige Herausforderung; sie unterstreicht nur die Notwendigkeit, Europa zu einem zentralen Handlungsfeld der sozialen Bewegungen zu machen.

Angela Klein

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