Sozialistische Zeitung |
Die westdeutsche Linke tut sich nach wie vor schwer mit einer gründlichen Beschäftigung mit den
gesellschaflichen und politischen Verhältnissen in Osteuropa und der Russischen Föderation. Dabei ist Osteuropa nicht nur mit dem Fall der
Mauer, sondern vor allem mit der NATO-Osterweiterung und den Beitrittswünschen der Eliten wie großer Teile der Bevölkerung zur EU
"nähergerückt", als dies zur Zeit des Kalten Krieges und der atomar gerüsteten "friedlichen Koexistenz" der
konkurrierende Blöcke der Fall war.
Die Tradition aus den 80er Jahren wirkt fort Unsicherheit und gewisse Sympathien mit den
Staaten des sog. "real existierenden Sozialismus" (als Gegengewicht zum übermächtigen Imperialismus der USA und Westeuropas,
übernommen von den "nationalen Befreiungsbewegungen" und der kubanischen Staats- und Parteiführung), das vorwiegende
Schweigen zur Repression gegen die oppositionellen Bürgerrechts- und Friedensgruppen. Der Zusammenbruch der politbürokratischen Regime
im Osten hat in manchen Milieus die Verunsicherung eher noch gefördert. Bei manchen Strömungen, ob mit "maoistischer" oder
"trotzkistischer" Vergangenheit, sprießen klammheimliche nostalgische Sehnsüchte, die zu einer Blocklogik und simplen Freund-
Feind-Schemata führen und Sympathien mit dem Milosevic-Regime oder dem Jelzin-Putin-Autoritarismus zugrundeliegen.
Nicht nur wegen des Agierens der Herrschenden, auch mit dem Ziel, Dialog und Kooperation der
sozialen Bewegungen, von unten zu fördern, sollte die sozialistische Linke nicht nur auf westeuropäische Ebene internationalistisch denken und
handeln.
Exzellentes Material für eine kritische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in
Osteuropa und Russland liefert die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Ost-West-Gegeninformationen, die seit zwölf Jahren in Graz erscheint.
Das Selbstverständnis der kleinen Redaktionsgruppe wird im Impressum so beschrieben:
"Unsere Berichterstattung wird vor allem von der Absicht bestimmt, den Leserinnen und Lesern unserer Zeitschrift authentische Beiträge und
Originaldokumente aus den betreffenden Ländern zugänglich zu machen; in diesem Rahmen nimmt die (Selbst-)Darstellung alternativer Parteien
und politischer, sozialer und kultureller Gruppierungen einen wichtigen Platz ein. Daneben verzichten wir natürlich nicht auf Analysen und
Einschätzungen westlicher Fachleute. Wir sehen uns einer möglichst pluralistischen Berichterstattung verpflichtet, verwechseln dies jedoch
nicht mit Standpunktlosigkeit, wir fühlen uns solidarisch mit jenen Gruppen und Personen in den Transformationsgesellschaften, die demokratische,
solidarische und ökologische Wege abseits von Kapitalismus, Nationalismus und autoritären Bestrebungen beschreiten."
In den letzten Monaten sind kurz nacheinander zwei neue Hefte erschienen: im August (Nr.1, 2000) mit
einem Schwerpunkt über "Frauen im Osten", im September (Nr.2) mit einem Schwerpunkt über Russland. Im ersten Heft sind Thesen
der Leiterin eines ungarischen Netzwerks über die Situation der Frauen, ein Interview mit einer kasachischen Informatikerin, ein Artikel einer Kroatin
über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, ein Beitrag über die Migration junger Frauen, ein bulgarischer Journalist schreibt über
das Netzwerk der Ost-West-"Sexindustrie", neben weiteren Texten über Frauenhandel und Prostitution in Mazedonien, Tschechien,
Montenegro; schließlich findet man ein umfangreiches Verzeichnis der Internet-Adressen von Frauenorganisationen in Ost- und Südosteuropa. In
einem zusätzlichen Dossier wird eine heftige Debatte dokumentiert, die zwei Grazer Universitätsdozenten über die Einschätzung
der Rambouillet-Verhandlungen und der Politik der NATO und Jugoslawiens geführt haben.
Das Dossier in Nr.2/2000 enthält drei Beiträge von serbischen Autoren über die
gegenwärtige Lage in ihrem Land. Im Hauptteil werden von Kai Ehlers und deutschen und österreichischen WissenschaftlerInnen unter anderem
folgende Aspekte der russischen Gesellschaft behandelt: Föderalismus und Zentralstaat, Gasprom, Medien zwischen Freiheit, Selbstzensur und
politischer Manipulation, Menschenrechtspolitik, Kunst. Schließlich stellt eine polnische Politikwissenschaftlerin die außerparlamentarische
radikale Linke in Polen vor.
In beiden Ausgaben ist eine detaillierte Chronologie der aktuellen Ereignisse in den
osteuropäischen und GUS-Staaten enthalten, nützliches Material, wie stets zusammengestellt vom Mitbegründer der Zeitschrift, Johann
Gaisbacher.
Die Lektüre dieser Zeitschrift ersetzt nicht eine eigenständige politische
Beschäftigung, sie ist eher wissenschaftlich orientiert; manchmal mag und muss man die politische Orientierung kritisieren (wenn etwa ganz im
Stile der Denkweise der Grünen "die internationale Staatengemeinschaft" aufgefordert wird, sich stärker für "die
Demokratie in Serbien" zu engagieren). Die Ost-West-Gegeninformationen können aber der kritischen sozialistischen Linken im
deutschsprachigen Raum wesentlich dabei helfen, über verlegenes Schweigen oder Schlagwörter hinauszukommen und Positionen auf der
Höhe der Zeit zu entwickeln.
Friedrich Dorn