Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.20 vom 28.09.2000, Seite 14

Ost-West-Gegeninformationen

Die westdeutsche Linke tut sich nach wie vor schwer mit einer gründlichen Beschäftigung mit den gesellschaflichen und politischen Verhältnissen in Osteuropa und der Russischen Föderation. Dabei ist Osteuropa nicht nur mit dem Fall der Mauer, sondern vor allem mit der NATO-Osterweiterung und den Beitrittswünschen der Eliten wie großer Teile der Bevölkerung zur EU "nähergerückt", als dies zur Zeit des Kalten Krieges und der atomar gerüsteten "friedlichen Koexistenz" der konkurrierende Blöcke der Fall war.
Die Tradition aus den 80er Jahren wirkt fort — Unsicherheit und gewisse Sympathien mit den Staaten des sog. "real existierenden Sozialismus" (als Gegengewicht zum übermächtigen Imperialismus der USA und Westeuropas, übernommen von den "nationalen Befreiungsbewegungen" und der kubanischen Staats- und Parteiführung), das vorwiegende Schweigen zur Repression gegen die oppositionellen Bürgerrechts- und Friedensgruppen. Der Zusammenbruch der politbürokratischen Regime im Osten hat in manchen Milieus die Verunsicherung eher noch gefördert. Bei manchen Strömungen, ob mit "maoistischer" oder "trotzkistischer" Vergangenheit, sprießen klammheimliche nostalgische Sehnsüchte, die zu einer Blocklogik und simplen Freund- Feind-Schemata führen und Sympathien mit dem Milosevic-Regime oder dem Jelzin-Putin-Autoritarismus zugrundeliegen.
Nicht nur wegen des Agierens der Herrschenden, auch mit dem Ziel, Dialog und Kooperation der sozialen Bewegungen, von unten zu fördern, sollte die sozialistische Linke nicht nur auf westeuropäische Ebene internationalistisch denken und handeln.
Exzellentes Material für eine kritische Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in Osteuropa und Russland liefert die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift Ost-West-Gegeninformationen, die seit zwölf Jahren in Graz erscheint.
Das Selbstverständnis der kleinen Redaktionsgruppe wird im Impressum so beschrieben: "Unsere Berichterstattung wird vor allem von der Absicht bestimmt, den Leserinnen und Lesern unserer Zeitschrift authentische Beiträge und Originaldokumente aus den betreffenden Ländern zugänglich zu machen; in diesem Rahmen nimmt die (Selbst-)Darstellung alternativer Parteien und politischer, sozialer und kultureller Gruppierungen einen wichtigen Platz ein. Daneben verzichten wir natürlich nicht auf Analysen und Einschätzungen westlicher Fachleute. Wir sehen uns einer möglichst pluralistischen Berichterstattung verpflichtet, verwechseln dies jedoch nicht mit Standpunktlosigkeit, wir fühlen uns solidarisch mit jenen Gruppen und Personen in den Transformationsgesellschaften, die demokratische, solidarische und ökologische Wege abseits von Kapitalismus, Nationalismus und autoritären Bestrebungen beschreiten."
In den letzten Monaten sind kurz nacheinander zwei neue Hefte erschienen: im August (Nr.1, 2000) mit einem Schwerpunkt über "Frauen im Osten", im September (Nr.2) mit einem Schwerpunkt über Russland. Im ersten Heft sind Thesen der Leiterin eines ungarischen Netzwerks über die Situation der Frauen, ein Interview mit einer kasachischen Informatikerin, ein Artikel einer Kroatin über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, ein Beitrag über die Migration junger Frauen, ein bulgarischer Journalist schreibt über das Netzwerk der Ost-West-"Sexindustrie", neben weiteren Texten über Frauenhandel und Prostitution in Mazedonien, Tschechien, Montenegro; schließlich findet man ein umfangreiches Verzeichnis der Internet-Adressen von Frauenorganisationen in Ost- und Südosteuropa. In einem zusätzlichen Dossier wird eine heftige Debatte dokumentiert, die zwei Grazer Universitätsdozenten über die Einschätzung der Rambouillet-Verhandlungen und der Politik der NATO und Jugoslawiens geführt haben.
Das Dossier in Nr.2/2000 enthält drei Beiträge von serbischen Autoren über die gegenwärtige Lage in ihrem Land. Im Hauptteil werden von Kai Ehlers und deutschen und österreichischen WissenschaftlerInnen unter anderem folgende Aspekte der russischen Gesellschaft behandelt: Föderalismus und Zentralstaat, Gasprom, Medien zwischen Freiheit, Selbstzensur und politischer Manipulation, Menschenrechtspolitik, Kunst. Schließlich stellt eine polnische Politikwissenschaftlerin die außerparlamentarische radikale Linke in Polen vor.
In beiden Ausgaben ist eine detaillierte Chronologie der aktuellen Ereignisse in den osteuropäischen und GUS-Staaten enthalten, nützliches Material, wie stets zusammengestellt vom Mitbegründer der Zeitschrift, Johann Gaisbacher.
Die Lektüre dieser Zeitschrift ersetzt nicht eine eigenständige politische Beschäftigung, sie ist eher wissenschaftlich orientiert; manchmal mag und muss man die politische Orientierung kritisieren (wenn etwa — ganz im Stile der Denkweise der Grünen — "die internationale Staatengemeinschaft" aufgefordert wird, sich stärker für "die Demokratie in Serbien" zu engagieren). Die Ost-West-Gegeninformationen können aber der kritischen sozialistischen Linken im deutschsprachigen Raum wesentlich dabei helfen, über verlegenes Schweigen oder Schlagwörter hinauszukommen und Positionen auf der Höhe der Zeit zu entwickeln.

Friedrich Dorn

Ost-West-Gegeninformationen, c/o Abt. für Südosteuropäische Geschichte, Mozartgasse 3, A-8010 Graz, Fax 0043-316- 3809375, E-Mail: ostwest@gewi.kfunigraz.ac.at, Website: www- gewi.kfunigraz.ac.at/csbsc/ostwest. Jahresabonnement: 30 DM.



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