Sozialistische Zeitung |
Der Euro fällt, weil der Dollar steigt. Diese starke Behauptung erklärt nicht viel, denn die wirkliche
Überraschung ist der Anstieg des Dollars. Er fällt in der Tat zusammen mit einer dramatischen laufenden Vergrößerung des Defizits
der US-Handelsbilanz: 220 Milliarden Dollar 1998, 330 Milliarden 1999 und laut Schätzungen mehr als 400 Milliarden im Jahr 2000 das sind
4,3% des Bruttoinlandprodukts. Für jedes andere Land würde ein solches Außenhandelsdefizit einen Absturz der Währung mit sich
bringen.
Nicht für die vorherrschende Großmacht. Die USA erfreuen sich des Privilegs, vom Rest
der Welt genügend Kapitaleingänge zu erhalten, um dieses Defizit auszugleichen. Diese ganz spezielle Konstellation war durch die paradoxen
Auswirkungen der Finanzkrise von 1998 noch verstärkt worden: Die Kapitalien auf der Flucht aus den "Schwellenländern" fanden
auf ganz "natürliche" Weise Zuflucht in den USA.
Doch geht das Ganze noch weiter. Die USA erleben zur Zeit einen Aufschwung der Investitionen, der
das Wort von der "Neuen Ökonomie" hervorgebracht hat. Diese zusätzliche Kapitalakkumulation wird von Kapitaleingängen
aus dem Rest der Welt finanziert: Alles läuft so, als werde der in Europa und Japan produzierte Mehrwert in den USA investiert. Der Prozess wird somit
kumulativ, denn dieser Investitionsschub erlaubt, den technologischen Vorsprung der USA wiederherzustellen und dort Profitraten zu garantieren, die
wiederum Kapitalien anziehen.
Aus europäischer Sicht ist der Fall des Euro keine Katastrophe: Seit 1997 hilft die Euro-
Schwäche den europäischen Exporten und somit dem Wirtschaftsaufschwung. Man kann sogar sagen, dass der Aufwärtstrend des Dollars
erst den Spielraum geschaffen hat, um die Hürde vom Januar 1999 zu nehmen und den Euro zu installieren.
Der gegenwärtige Wiederaufschwung lässt aber retrospektiv sofort die Absurdität
des Dogmatismus von Maastricht in grellem Licht erscheinen, der alles auf die Schaffung einer möglichst harten Einheitswährung setzte. Jetzt
erscheinen all die Jahre des Bremsens der europäischen Wirtschaft, nur um den berüchtigten Maastricht-Kriterien genüge zu tun, als vertane
Zeit. Besser wäre es offenbar gewesen, die Wirtschaft gleich anzukurbeln, auch um den Preis weniger starker europäischer Währungen. In
Wirklichkeit handelte es sich aber um etwas ganz anderes als um den Zustand der Währungen. Es ging darum, auf die Löhne und
Arbeitsbedingungen zu drücken.
Der Sinkflug des Euro hat im Übrigen nicht nur Vorteile. Er trägt dazu bei, den in Dollar
fakturierten Ölpreis noch ein bisschen mehr zu steigern. Er macht den Kauf amerikanischer Kapitalanteile für die Europäer teurer und
erlaubt zugleich den US-Amerikanern, sich auf dem europäischen Markt günstig zu bedienen. Auf längere Sicht stellt er auch den
gegenwärtigen Finanzierungsmodus des US-Defizits in Frage.
Wenn der Euro immer weiter sinkt, droht die Verteuerung der Importe die Inflation wiederzubringen
und die Handelsüberschüsse anzuknabbern, anders gesagt, die Quellen, aus denen das US-Defizit bisher beglichen wurde, auszuschöpfen.
Trotz ihres heute zur Schau gestellten Pragmatismus könnte die Europäische Zentralbank sich gezwungen sehen, um den Euro zu stärken,
erneut die Leitzinsen zu erhöhen und so das Wirtschaftswachstum zu bremsen.
Diese Interpretation steht nicht im Widerspruch zum modischen Erklärungsmuster, dem zufolge
der Euro schwach ist, weil Europa nicht genügend integriert und politisch homogen ist. Daran hätte man wirklich früher denken
können, und diese Art der Erklärung ist ein schwerer Schlag gegen den währungspolitischen Dogmatismus, der darauf hinauslief zu sagen:
Machen wir den Euro und der Rest wird uns dazugegeben werden.
Es ist eben wahr, dass wirtschaftliche Regulierungen sich nicht spontan ergeben. 1985 war der Dollar
noch viel höher geklettert als heute, und damals folgten handfeste internationale Abmachungen, die faktisch eine Abwertung des Dollars
gegenüber den anderen Währungen durchsetzten, vor allem gegenüber dem Yen.
Eine vergleichbare Operation könnte nun von den europäischen
Währungshütern ins Auge gefasst werden, um den Euro auf ungefähr 1 oder 1,1 Dollar zu heben (gegenüber 0,86 am 15.9.). Sie
würde also einer Abwertung des Dollars um 20% entsprechen. Das Problem liegt darin, dass dies ohne einen deutlichen und schroffen Eingriff nicht
notwendigerweise möglich ist, der wiederum schwerlich zum fragilen Gebilde des derzeitigen Aufschwungs passt.
Dies alles führt also zu einer der schwierigen offenen Fragen der gegenwärtigen
ökonomischen Phase, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: Es ist schwer vorstellbar, wie das exponentielle Wachstum des US-amerikanischen
Defizits weitergehen kann, ohne auf gravierende Finanzierungsprobleme zu stoßen, und es ist auch nicht zu sehen, wie die Rückführung
dieses Defizits machbar wäre, ohne das weltwirtschaftliche Wachstum ziemlich brutal zum Stillstand zu bringen.
Im Moment geht noch alles gut, aber das Missverhältnis zwischen Euro und Dollar schafft ein
zusätzliches Spannungsmoment, das zu anderen Tendenzen hinzukommt, die die Dynamik der Weltkonjunktur bedrohen.
Maxime Durand
Aus: Rouge, Nr.1890, 21.9.2000.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04