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Es gibt in den Sozialwissenschaften keine allgemein akzeptierte Definition von politischen Parteien. Dennoch wird im
Allgemeinen anerkannt, dass Parteien auf Dauer angelegte Zusammenschlüsse sind, die die Interessen ihrer Anhänger ausdrücken,
mobilisieren, bündeln und durchsetzen und die dadurch politische Macht ausüben wollen, entweder durch Übernahme von Mandaten und
Posten in Parlamenten und Regierungen, oder durch Sturz des alten Systems und Etablierung eines neuen.
Parteien sind keine Interessenverbände, Initiativen oder Bewegungen, können aber aus
solchen entstehen oder sich mit ihnen verbünden, wie etwa das Beispiel der Grünen Anfang der 80er Jahre zeigt. Und Parteien sind
Gruppierungen der Gesellschaft, keine staatlichen Organe, wenngleich der Verstaatlichungsprozess von Parteien sehr weit gehen kann, so dass bei bestimmten
Regimen der Begriff der "Staatspartei" Verwendung findet bzw. fand.
Dabei handelt es sich in der Regel um Regime, deren Parteien sich aus linken oder rechten Bewegungen
gebildet haben, wie man am Beispiel der "Volksrepubliken" bzw. der aus kleinbürgerlich-nationalistischen Bewegungen
hervorgegangenen Einheitsparteien (in vielen Ländern der Dritten Welt) ersehen kann.
Aber auch in den alten westlichen bürgerlichen Demokratien gibt es starke Tendenzen zu einem
"Verstaatlichungsprozess" der etablierten Parteien, d.h. die aktiven Mitglieder werden über Mandate in den Parlamenten und Beteiligungen
an staatlichen Pfründen immer stärker in den Staatsapparat eingebunden. Dadurch verlieren die Parteien ihren Charakter als Organisatoren oder
zumindest Nutznießer gesellschaftlicher Bewegungen, denen sie häufig ihre Existenz verdanken. Das klassische Beispiel für eine solche
Entwicklung stellt die Sozialdemokratie in zahlreichen west- und mitteleuropäischen Ländern dar.
Parteien sind Produkte der sog. "Moderne", also der komplexen Verbindung von
industrieller Revolution mit dem Entstehen der modernen städtischen Klassen in ihrem Gefolge, sowie des Kampfes des (Klein-)Bürgertums und
dann der Arbeiterklasse für Emanzipation mittels (direkter oder repräsentativer) Demokratie.
In der Regel ist das Entstehen von Parteien an die Herausbildung einer bürgerlichen
Öffentlichkeit geknüpft, die eine gesellschaftliche Debatte über die wesentlichen, die Menschen berührenden Fragen erst
ermöglicht. Nicht zufällig fällt die Entwicklung der Parteien mit der Ausbreitung des Pressewesens zusammen und ist deswegen an die
Fähigkeit eines zunehmenden Teils der Bevölkerung, Lesen und Schreiben zu können, gebunden.
Parteien im ursprünglichen Wortsinne, nämlich abgeleitet von lateinisch pars, der Teil
oder die Gruppe, gab es natürlich auch schon in vormodernen Zeiten, also vor der französischen und amerikanischen Revolution. Dabei handelte
es sich jedoch entweder um Intellektuellenzirkel (bekanntestes Beispiel sind die verschiedenen Gruppen in der französischen Aufklärung), um
rivalisierende Gruppen an den verschiedenen Höfen, die um die Gunst des Herrschers buhlten, um intrigierende Cliquen in der Art der
Auseinandersetzungen in den italienischen Stadtstaaten oder um Geheimgesellschaften (Freimaurer).
Auch die Kirche hatte ihre "Parteien", nämlich die verschiedenen Orden, die ja in
diesem Rahmen unterschiedliche Interessen vertraten oder Sensibilitäten bedienten. Hier handelte es sich jedoch um informelle Gruppen, deren Zweck
weder in der "Willensbildung des Volkes" noch der politischen Organisierung von gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen oder ihrer
Vertretung lag.
Produkt der Französischen Revolution
In Europa entstanden die ersten Parteien im Umkreis der Französischen Revolution in mehreren europäischen
Großstädten. In der Regel handelte es sich um Organisationen der verschiedenen Strömungen der aufstrebenden Bourgeoisie, die sich
gegen Adel und Klerus zusammenschlossen. Sie vertraten die sich herausbildenden ideologischen Positionen des Liberalismus, also vor allem politische
Partizipation (der Besitzenden) und Freihandel.
Allerdings gab es auch schon erste politische Arbeitervereine (Vereine von Handwerkern); der
bekannteste war wohl die 1792 vom englischen Schuhmacher Thomas Hardy gegründete London Corresponding Society, die manche für die erste
moderne Arbeiterpartei überhaupt halten.
In Deutschland gab es fast immer Vorbehalte gegen Parteien. Schon vor zweihundert Jahren schrieb
Goethe an Schiller: "Die Fratze des Parteigeistes ist mir mehr zuwider als irgendeine Karikatur." Die von der preußischen Reaktion mit
Unterstützung von Teilen der Volksmassen organisierten "Befreiungskriege" gegen Napoleon und die verheerenden Auswirkungen der
napoleonischen Art des "Revolutionsexports" führten unter deutschen Intellektuellen, die sich anfänglich durchaus für die
Französische Revolution begeistert hatten (Hegel und Hölderlin hatten in Tübingen sogar einen "Freiheitsbaum" gepflanzt),
zu einem eigenartigen Harmoniebedürfnis, das von Romantikern wie Adam Müller noch theologisch überhöht wurde. Man sehnte
sich in die vormodernen Zeiten zurück, als noch keine Klassenkämpfe die Gesellschaft erschütterten.
Es entstand in dieser Zeit eine (reaktionäre) Identifikation der Nation (Gesellschaft) mit dem
Staat und damit eine Ablehnung der Organisierung von gesellschaftlichen Konflikten in und durch Parteien, die sehr lange nachwirkte und auch heute noch
nicht ganz überwunden ist (bzw. sogar neue Anhänger findet).
Bezeichnenderweise vermieden es viele konservative bis reaktionäre Strömungen, sich als
Partei zu bekennen; so nannte sich die Partei der Katholiken "Zentrum", die Nachfolgeorganisation "Union", ganz rechts
außen gibt es die "Republikaner", die DVU oder andernorten die "Freiheitlichen". Auch die "Grünen"
wollten bei ihrer Gründung die Überlebensinteressen der ganzen Menschheit vertreten, weder links noch rechts, sondern vorne sein, und
verzichteten daher auf den Parteibegriff im Namen.
Nachzügler Deutschland
Alle deutschen Verfassungen vor dem Grundgesetz sprachen in der Nachfolge der romantischen Tradition entweder gar nicht oder nur negativ von
den Parteien und betonten den Vorrang des Staates, der zum Repräsentanten "des Ganzen" und der Allgemeinheit hochstilisiert wurde. Die
positive Erwähnung der Parteien in Artikel 21 GG, eine Übernahme angelsächsischer Traditionen, stellte daher eine durchaus
fortschrittliche Neuerung dar. Als das Bundesverfassungsgericht 1952 in einer ersten und damals durchaus sehr umstrittenen Entscheidung verkündete:
"Heute ist jede Demokratie zwangsläufig ein Parteienstaat", stellte es sich damit gegen die lange Tradition der preußisch-deutschen
Staatsrechtler.
In Deutschland entwickelten sich die Parteien aus dem bürgerlichen Vereinswesen, das
insbesondere in den süd- und mitteldeutschen Staaten eine gewisse Verankerung und Stärke besaß. Das Parteienverbot der Metternich-Zeit
(18151848), das den überörtlichen Zusammenschluss solcher Vereinigungen zu verhindern trachtete, führte zu Ansätzen der
Politisierung, die sich in der Revolution von 1848 Bahn brachen.
Die Gewerbefreiheit begann sich auszuweiten und ihr folgten die Forderungen nach politischer
Mitsprache sowie nach Presse- und Vereinigungsfreiheit. In dieser Zeit kann man ansatzweise von den ersten Parteien in Deutschland sprechen; ihre Vertreter
im Frankfurter Parlament trafen sich in verschiedenen Wirtshäusern, die erste Vorformen der heutigen Parteizentralen darstellten.
Nach der blutigen Niederschlagung der Revolution dauerte es über ein Jahrzehnt, bis durch den
Aufstieg der industriellen Bourgeoisie, die Verstädterung, die Proletarisierungsprozesse und das Ende der Reaktionsperiode in Deutschland die
Bedingungen für die Gründung von Parteien geschaffen waren.
Die erste Partei im modernen Sinne in Deutschland war die liberale Deutsche Fortschrittspartei, die
für demokratische Rechte eintrat und den preußischen Obrigkeitsstaat bekämpfte. Doch in den Kämpfen um die Bismarcksche
Reichseinigung spaltete sich der Liberalismus, weil die besitzbürgerlichen Schichten nun bereit waren, mit den ostelbischen Krautjunkern einen
ökonomischen Kompromiss einzugehen und dafür auf ihre politischen Beteiligungsforderungen verzichteten; es entstand die Nationalliberale
Partei als der wichtigsten Gruppe des "nationalen Lagers".
Die Konservativen, die im nach wie vor landwirtschaftlich dominierten Preußen über
genügend Einfluss in Staat und Gesellschaft, bei Hofe und in Beamtenschaft und Militär verfügten, bildeten Parteien erst als Reaktion auf
die Organisierungbestrebungen des liberalen Bürgertums. In der 1866 gegründeten Freikonservativen Partei sammelte sich Großindustrie
und höhere Bürokratie. Die zehn Jahre später ausgerufene Deutschkonservative Partei versammelte die meisten reaktionären
Schichten besonders des Landes; ihr schlossen sich auch antisemitische Strömungen an (so der Berliner Pfarrer Stoecker).
Konfliktlinien der Industriegesellschaft
Moderne Parteien als Massenorganisationen entwickeln sich aus Konflikten der Industriegesellschaft, die im Allgemeinen wiederum zu
Großgruppenidentitäten führen. In der Forschung werden generell vier zentrale Konfliktlinien unterschieden, die je nach Land oder
Region eine unterschiedliche Bedeutung haben und zu unterschiedlichen Resultaten im Parteibildungsprozess führten.
Diese vier Konfliktlinien haben für Deutschland allesamt eine erhebliche Bedeutung und waren
auf komplexe Weise miteinander verwoben. Es handelt sich hier um den Klassenkonflikt, den Konflikt zwischen Stadt und Land, der in Preußen
aufgrund der Vorherrschaft der ostelbischen Junker unter anderem als Kampf zwischen Protektionismus und Freihandel ausgetragen wurde, den Konflikt
zwischen Zentrum und Peripherie, der hier ebenfalls von großer Bedeutung war, weil Deutschland über kein "natürliches
Zentrum", sondern zahlreiche Ober- und Unterzentren plus Höfe verfügte, und schließlich dem Kampf zwischen Staat und Kirche
bzw. Kirchen, der in Deutschland traditionell als Kampf zwischen Katholizismus und Protestantismus ausgetragen wurde.
Der wichtigste Konflikt in der kapitalistischen Industriegesellschaft, dem Marxisten
naturgemäß die meiste Aufmerksamkeit zuteil haben werden lassen, ist natürlich der Klassenkonflikt. Die Kämpfe zwischen
Bourgeoisie und Proletariat haben in den meisten Industrieländern zur Herausbildung einer (oder mehrerer) Partei(en) der Arbeiterbewegung
geführt, die nicht nur der politische Ausdruck und Arm dieser sozialen Bewegung war(en), sondern gewissenmaßen auch den Eckstein in einem
Geflecht von sozialer und kultureller Infrastruktur abgab(en), einem sozialen Milieu, in das das Leben der Arbeitenden weitgehend eingebettet war.
Gewissermaßen war man Sozialdemokrat von der Wiege bis zur Bahre. Der Aufstieg der
Sozialdemokratie im preußísch-deutschen Reich zur bei Wahlen stärksten Partei erklärt sich natürlich durch den nach der
Reichseinigung forcierten Industrialisierungsprozess, der auch die Klassenpolarisierung rasch vorantrieb.
Gleichzeitig sorgten die vordemokratischen politischen Strukturen des Reichs (in Preußen
bestand das Drei-Klassen-Wahlrecht fort), in dem das Parlament (der Reichstag) keinen direkten Einfluss auf die Regierung nehmen konnte, da diese ohne
Bestätigung durch das Parlament vom Kaiser ernannt wurde, für ein vergleichsweise radikales Auftreten der sozialdemokratischen
Führung. Dies gilt insbesondere für die "heroische Zeit" der Sozialistengesetze zwischen 1878 und 1890, als der Sozialdemokratie
eine direkte politische Betätigung und Organisierung, abgesehen von Wahlkämpfen, verboten wurde.
Infolgedessen wurden die Untergrundaktivitäten, besonders die Organisierung im
vorpolitischen Raum sowie die Verbreitung von Propagandamaterial, in einem Maße ausgeweitet, dass die SPD von Wahlerfolg zu Wahlerfolg eilte. Auf
diesem Hintergrund konnte sich bei vielen Linken z.T. bis heute der Mythos halten, die SPD vor 1914 sei eine revolutionäre Partei gewesen, wodurch
die Zustimmung zu den Kriegskrediten 1914 dann als "großer Bruch" erscheint.
SPD ohne Handlungsperspektive
Zweifellos handelte es sich dabei um einen Verrat an der Arbeiterbewegung, der aber von vielen tausend Kompromissen mit dem System vorbereitet
worden war. Doch die großen Erfolge der SPD und ihre Art der konsequenten Organisierung der Arbeitenden in zahlreichen
"Vorfeldorganisationen" machten sie zum Modell für die meisten vergleichbaren Strömungen in anderen Ländern; verwiesen
sei nur auf die Bewunderung, die die verschiedenen Flügel der russischen Arbeiterbewegung einschließlich der Bolschewiki für ihr
deutsches Vorbild hegten.
Bei genauer Betrachtung lässt sich erkennen, dass die damalige SPD ihre beiden konkreten
programmatischen Grundpfeiler, nämlich die Erkämpfung der demokratischen Republik und der geregelten Arbeitsverhältnisse,
insbesondere des Achtstundentags, mit einer ziemlich gläubigen Erwartung der "neuen Zeit" verband. Eine Handlungsperspektive
für diesen "Zukunftsstaat" hatte sie nicht.
Neben dem Klassenkonflikt gab es in mehreren Ländern, und insbesondere in Deutschland, eine
weitere Konfliktlinie, der die meisten Marxisten, da sie zumeist in einem starken Ökonomismus befangen waren, viel zu geringe Bedeutung
beimaßen, die aber gerade in Deutschland aufgrund der geschichtlichen Entwicklungen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung besaß
und bis heute nachwirkt: der Konflikt zwischen Staat und Kirche, der im Fall des Deutschen Reiches teilweise mit dem Zentrum-Peripherie-Konflikt
verbunden war.
Dieser Kampf begann mit der Reformation, als in blutigen Gefechten um die Zugehörigkeit
bestimmter Länder oder Provinzen zum Protestantismus bzw. Katholizismus gestritten wurde. Der Höhepunkt dieser Entwicklung stellte der
Dreißigjährige Krieg (16181648) dar, der in Deutschland mit einer Patt-Situation endete, wonach der Herrscher letztlich die Religion
seiner Untertanen bestimmte. Nicht nur wurde Deutschland durch diesen Krieg, der etwa 40% der Einwohner das Leben kostete, in seiner
ökonomischen Entwicklung weit zurückgeworfen und territorial aufgesplittert, sondern es entstand in den protestantischen Ländern auch
eine Art von protestantischem Staatskirchentum.
Der Aufstieg Preußens zur bedeutendsten Macht im Norden Deutschlands verschob das
Entwicklungszentrum nach Norden, stärkte damit aber auch das protestantische Element und verschärfte so den Gegensatz zu Österreich.
Mittels "Blut und Eisen" setzte Bismarck sein Konzept einer preußisch geführten kleindeutschen Einigung unter Ausschluss der
katholischen Führungsmacht Österreich durch; allein dem mehrheitlich katholischen Bayern wurden bestimmte Sonderrechte zugestanden.
Da unter dem (vor kurzem seliggesprochenen) Papst Pius IX. die fundamentalistischen
Strömungen in der katholischen Kirche Oberwasser bekamen, das Bismarckreich angesichts seiner noch schwachen Identität und
Sezessionsgelüsten im Süden jedoch eine unbedingte Unterordnung unter die Ansprüche des Berliner Zentrums durchsetzen wollte, kam es
schon in den 70er Jahren zum "Kulturkampf" gegen die ultramontanen (also nach Rom ausgerichteten) Katholiken.
Vom Zentrum zur KPD
Das Resultat dieses Kampfes war die Politisierung des katholischen Vereinswesens (vor allem in Süddeutschland inkl. Elsass-Lothringen, im
Rheinland und in den Ostgebieten Preußens mit polnischer Minderheit). Daraus entstand das Zentrum als Partei der katholischen
Reichsbevölkerung mit einem über Jahrzehnte stabilen Stimmanteil um die 15%.
Soziologisch betrachtet war das Zentrum vor allem eine Partei des ländlichen und
(klein)städtischen Kleinbürgertums, das auch von den katholischen Landarbeitern im Osten und den Industriearbeitern im Süden und
Westen Unterstützung erhielt. Sofern sich katholische Arbeiter, etwa in der Weimarer Republik radikalisierten und mit dem Zentrum brachen (durchaus
kein Massenphänomen!), gingen sie nicht zur SPD, sondern gleich zur KPD.
Erst in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts gelang es der Sozialdemokratie, in dieses katholische
Milieu einzubrechen; die Ablösung der CDU-Regierung in Nordrhein-Westfalen 1966 durch Kühn ist auf diese Entwicklung
zurückzuführen, aber auch Lafontaines Wahlsieg im Saarland. Sie deutete gleichzeitig an, dass die über mehr als ein Jahrhundert bestehende
Prägekraft der "soziokulturellen Milieus" nun in Erosion begriffen war.
Nach dem Ende des Kaiserreichs 1918 wurden die "Reichsfeinde" von einst,
nämlich Zentrum und SPD, zu den tragenden Parteien der Weimarer Republik. Die Führung der SPD begann schon damals mit ihrem Werben um
die "katholischen Arbeitnehmer", dem aber kaum Erfolg beschieden war. Was waren die Gründe? Die Gräben zwischen den beiden
politischen Kulturen waren einfach zu tief: Die SPD war eine protestantische Partei mit stark "freidenkerischen" Lebensformen, es gab
Jugendweihen und Sonnwendfeiern oder Weihnachts- und Pfingstfeste ohne christlichen Beiklang. Es gab insbesondere eine von Sozialdemokraten getragene
Bewegung für "freie Schulen" ohne Religionsunterricht.
Der dem "linken" Flügel der katholischen Arbeitervereine zuzurechnende Leiter der
Gladbacher Volksbildungszentrale, August Pieper, verfasste 1929 einen Mustervortrag unter dem Titel "Kann ein Katholik Sozialdemokrat
sein?", der als eine Antwort auf das Liebeswerben des SPD-Führung angesehen werden kann. Darin schrieb er: "Die Sozialdemokratie als
Partei ist in ihrem Wesen ausgesprochen ungläubig, religionslos, gottlos, rein weltlich gesinnt." Sollte die SPD daher zur Alleinherrschaft
gelangen, werde es zu Christenverfolgungen kommen, wie sie auch "die bolschewistische Räteregierung in Russland" durchgeführt
habe.
Pieper bekannte sich somit zur Gültigkeit der von Papst Benedikt XV. formulierten Aussage,
wonach "die Sozialdemokratie der Todfeind christlicher Grundsätze" sei. Es waren somit die unüberbrückbaren
weltanschaulichen Gegensätze, die dafür sorgten, dass sogar die radikaleren Teile der katholischen Arbeiterschaft vor einer Hinwendung zur
"sozialistischen Bewegung" zurückschreckten, zumindest solange die Autorität der Kirche sie noch erreichte.
Einen Nachklang dieser intransingenten Haltung kann man noch im Spendenskandal der Union
erblicken, wo man sich im Fall des Katholiken Helmut Kohl die Frage stellen kann, was außer seinem unbändigen Macht- und
Durchsetzungswillen ihn dazu gebracht haben könnte, sich jahrzehntelang einen Dreck um Recht und Gesetz zu scheren und seine Kriegskasse mit
Millionenbeträgen zu füllen: Offensichtlich spielte bei ihm (gleich Adenauer) der missionarische Eifer eine erhebliche Rolle, die gottlosen
Sozialdemokraten von der Macht fernzuhalten. Nicht umsonst dressierte er seinen Hund, beim Zuruf "Soz!" angriffsbereit die Zähne zu
fletschen.
Religiöse Parteienpolitik
Erich Honecker gab seiner Glaubensüberzeugung vom Sieg des Sozialismus, den "weder Ochs noch Esel" aufhalten
könnten, noch wenige Jahre vor dem Ende der DDR Ausdruck. An dieser Stelle sollte man sich nicht über die Unfähigkeit eines alten
Bürokraten, die Welt realistisch wahrzunehmen, mokieren, sondern vielmehr auf den Kern der Aussage eingehen: Im Gefolge von Karl Kautsky, dem
"Cheftheoretiker" der II.Internationale vor dem Ersten Weltkrieg, dachte die große Mehrheit der sozialistischen Arbeiterbewegung, der
Untergang des Kapitalismus und der Sieg des Sozialismus seien letztendlich gewiss. Die Grundlage dieser Arbeiterbewegung war ein säkularisierter
Glaube an die "Gesetze der Geschichte" als Heilsgeschichte, die zusammen mit dem Engagement der Arbeitenden letztlich zur
"Erlösung" der Menschheit führen würden.
Ein Blick in die Kultur der Arbeiterbewegung zeigt deutlich, wie sehr die Hoffnung auf
Änderung der Lage von aus älteren religiösen Traditionen stammenden und häufig umgedeuteten Metaphern unterfüttert war.
Man vergleiche nur die Demonstrationen der Arbeiterbewegung mit den Prozessionen katholischer Provenienz. Und dies konnte in einer
abendländischen, vom Christentum geprägten Gesellschaft wohl kaum anders sein, wenn wir von Intellektuellenzirkeln einmal absehen. Im
Übrigen ist bemerkenswert, dass sich Christentum und Arbeiterbewegung durchaus darüber streiten könnten, wer die meisten
"Sekten" hervorgebracht hat.
Die emotionalen Bindungen an alle Parteien, seien sie christlich, wo dies offensichtlich ist, oder
säkular, hatten lange Zeit einen quasi religiösen Charakter. Dies erklärt, weshalb die meisten Menschen, die in einem bestimmten Milieu
aufwuchsen, gleich ob dem christlichen, dem der Arbeiterbewegung oder den Milieus des nationalen Lagers, an ihrer Parteibindung über einen langen
Zeitraum hinweg und durch Krisen hindurch festhielten.
Der erste Ein- und Zusammenbruch ergab sich in Deutschland beim "nationalen Lager",
das schon vor 1933 in großem Maße zu den Nazis überlief; im Gegensatz dazu war die Anhängerschaft der beiden anderen
politischen Lager, die das Zentrum (in Bayern BVP) oder die Parteien der Arbeiterbewegung wählten, die nach 1945 die BRD (bzw. DDR) politisch
gestalten sollten, bemerkenswert stabil. Der Erosionsprozess begann erst richtig nach der Rekonstruktionsperiode Ende der 50er Jahre durch die
"Bildungsexplosion" und die "Pluralisierung der Lebensstile", etwa durch das Eindringen populärer Kulturgüter aus
der westlichen Welt, vor allem den USA.
Fragmentierte Gesellschaft
Seitdem lässt sich ein Prozess der Auflösung der klassischen Bindungen an Familie und Großgruppen beobachten; ersteres zeigt
sich im Überwiegen von Single-Haushalten in den Großstädten, letzteres im Mitgliederschwund von Kirchen, Gewerkschaften und
Parteien. Offensichtlich handelt es sich hier um einen weltweiten Trend, der in allen Industriegesellschaften, wenn auch in unterschiedlichem Maße, zu
beobachten ist. Der Prozess des Wertewandels von kollektiven hin zu individuellen bzw. sogar "individualistischen" Werten ist natürlich
eine vermittelte Folge von wirtschaftlicher Expansion und dem damit verbundenen sozialen Wandel.
Die klassischen "Milieus" stützen sich auf die sehr ähnlichen
Lebensbedingungen der IndustriearbeiterInnen bzw. der dörflichen oder kleinstädtischen Lebenswelt, die nicht zufällig vom Kirchturm
überragt wurde. Die Folge des Auflösungsprozesses war allerdings nicht die "nivellierte Mittelstandgesellschaft", wie die
Soziologen (Bolte) der 50er oder 60er Jahre annahmen, sondern neue und zunehmende Unterschiede in den Klassen, Generationen, den Konsumstilen, den
Wertmustern und den Regionen. Die Zeit der "vier großen Einheiten": ein Beruf, eine Ehe, eine Kirche und eine Partei ist mit der 68er
Bewegung zu Ende gegangen. Es kommt zu einer Art Entstrukturierung und Fragmentierung, wie man etwa an den Formen des Zusammenlebens sehen kann,
die sich bekanntlich im Laufe eines (länger gewordenen!) Lebens durchaus ändern können.
Der Münchner Soziologe Ulrich Beck schreibt: "Die Individualisierung destabilisiert das
Großparteiensystem von innen her, weil die Parteibindung enttraditionalisiert, entscheidungsabhängig oder, von der Parteiseite her betrachtet
herstellungsabhängig wird, was bei der Zersplitterung der Interessen, Meinungen und Themen dem Versuch gleichkommt, einen Sack Flöhe zu
hüten." Ob allerdings in Zukunft jeder Mensch seine Biografie "losgelöst von Traditionen und Bedingungen der Herkunftsfamilie
und der sozialen Schicht" gestalten und verantworten kann, wie Beck meint, steht in den Sternen.
Solange der Kapitalismus die dominante Wirtschaftsstruktur bleibt und die große Mehrheit der
Menschen ihre Arbeitskraft verkaufen muss, um leben zu können, bleibt die Vorstellung einer "selbstgestalteten Auswahlbiografie" in
weiten Teilen frommer Wunsch bzw. Illusion. Die Grunddeterminanten der kapitalistischen Klassengesellschaft mit ihrer Polarisierung in Arm und Reich
erhalten oder verstärken sich im Globalisierungsprozess sogar.
Die Schwierigkeiten politischer Strategiefindung haben natürlich auch damit zu tun, dass der
klassische Rahmen solcher Strategien in den letzten beiden Jahrhunderten, nämlich der Nationalstaat, nun selbst in die internationale
Staatenkonkurrenz eingetreten ist. Vielfach sind die Multis bereits mächtiger als die meisten Staaten, so dass Regulierungen in diesem Rahmen
natürlich Probleme bereiten.
Da aber die Determinanten des "realen Kapitalismus" letztlich für die politische
"Gesäßgeografie" verantwortlich bleiben, ist bei aller möglichen Zunahme von Egozentrik und möllemannscher
"Politik, die Spaß macht" nicht damit zu rechnen, dass die Grundstrukturen der politischen Lagerbildung sich völlig auflösen.
Ein neuer Schub solidarischer Emanzipationsbewegung ist allerdings an das Entstehen einer breiten und kämpferischen sozialen Bewegung
geknüpft, die dem aktuellen parteipolitischen "Drang nach Mitte" zum Tanz aufspielen würde.
Paul Kleiser
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