Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 26.10.2000, Seite

Die sozialen Rechte müssen in den Vertrag

Erklärung der Europäischen Märsche zur EU-Grundrechtecharta

Erklärung der europäischen Koordination der Märsche, 1.Oktober 2000

Wir stehen kurz vor dem EU-Gipfel in Nizza, wo wichtige Entscheidungen getroffen werden, ohne dass die Bevölkerungen der 15 EU-Staaten die Zeit gehabt hätten, demokratisch über die sozialen Konsequenzen dieser Entscheidungen zu diskutieren, insbesondere über:
die Revision des Amsterdamer Vertrags vor der Erweiterung um 15 weitere Staaten;
die Proklamation der Grundrechtecharta für die EU durch die drei Institutionen: Europaparlament, Rat der Staats- und Regierungschefs und EU-Kommission;
die Annahme einer neuen sozialen Agenda für die Europäische Union für den Zeitraum 2000—2005.
Wir stellen fest, dass diese größenwahnsinnige Beschleunigung der Europäischen Union in zynischer Weise mit der Kassierung unserer sozialen Garantien einhergeht: der Sozialgesetzgebungen der Mitgliedstaaten, der Systeme der sozialen Sicherheit, der sozialen Rechte.
Wir lehnen es ab, zum Objekt einer Strategie der internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu werden, die allein der Profitsteigerung dient und mehr und mehr Menschen in den Strudel der Armut zieht.

Wir fordern:
Eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in der die sozialen Rechte garantiert werden.
Nach neunmonatiger Arbeit an der Grundrechtecharta hat der "Konvent", der sich aus 63 Mitgliedern der EU-Kommission, des Europaparlaments sowie der Regierungen und Parlamente der 15 Mitgliedstaaten zusammensetzt, eine Garantie der sozialen Rechte abgelehnt — unter dem Vorwand, die seien "Versprechungen, die in der Zukunft nicht gehalten werden können".

Wir sind dagegen, dass diese Charta — von der es heißt, dass sie zur Präambel einer europäischen Verfassung werden soll — in Nizza proklamiert wird, weil sie in ihrer heutigen Gestalt ein Instrument der sozialen Regression ist.
Wir sind mit den Gewerkschaften einer Meinung, dass die gewerkschaftlichen Rechte auf europäischer Ebene zuerkannt werden müssen.

Wir fordern, dass folgende sozialen Rechte garantiert werden:
Das Recht auf Arbeit.
Die Autoren der Charta haben im Kapitel, das die Überschrift "Freiheiten" trägt, auf subtile Art und Weise das Recht auf Arbeit in ein "Recht zu arbeiten" verwandelt:
"Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben." (Art.15.)
Staat und Unternehmer sind damit ihrer Verantwortung ledig; sie garantieren nur, dass es jedem und jeder frei steht — zu arbeiten oder zu verhungern! Die Aufnahme des Rechts zu arbeiten in das Kapitel "Freiheiten" wurde folgendermaßen begründet: "Der Wortlaut des Textes hebt das Recht auf Leistung auf." Im Klartext werden damit die Regelungen über den Bezug von Arbeitslosengeld in Frage gestellt.
Die Charta muss nach unserer Ansicht das Recht auf Arbeit so garantieren, wie es von der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 definiert ist.

Das Recht auf Wohnen.
Dieses fehlt in der Charta zur Gänze, ist aber in der Europäischen Sozialcharta enthalten. [Die Bundesregierung hat sie übrigens bis heute nicht ratifiziert.]
Das Recht auf ein Mindesteinkommen.
Der Wortlaut der Charta ist an dieser Stelle sehr zweideutig und schlecht. Er lautet: "Um die soziale Ausgrenzung und die Armut zu bekämpfen, anerkennt und achtet die Union das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung, die allen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, ein menschenwürdiges Dasein sicherstellen sollen, nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten." (Art.34.)
Der letzte Teil des Satzes stellt keinerlei Garantie dar, weil das Gemeinschaftsrecht auf die Liberalisierung der Märkte und die drakonischen Konvergenzkriterien für die Einheitswährung festgelegt ist, die jeden Staat zwingen, die "Großzügigkeit", die angeblich in seinen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten enthalten ist, abzubauen.
Der erste Teil des Satzes bringt zum Ausdruck, dass das Prinzip der Universalität der Rechte aufgegeben wird. Armut und Ausgrenzung werden als notwendiges Übel und angeblich unveränderliches Naturgesetz hingenommen.

Wir akzeptieren nicht, dass die Erwerbslosen für ihre Situation verantwortlich gemacht werden. Wir lehnen jede Maßnahme des Arbeitszwangs ab und wir fordern von der Europäischen Union, von den Regierungen und den Unternehmern das Recht auf ein garantiertes individuelles Einkommen, ohne Ansehen des Alters, des Geschlechts und der Herkunft.
Die Organisationen der Erwerbslosen und der prekär Beschäftigten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben das Einkommensniveau, unter das niemand sinken darf, beziffert. In Anbetracht der großen Einkommensunterschiede zwischen den einzelnen EU-Staaten ist es heute nicht möglich, einen gleichen Betrag für alle Erwerbslosen in der EU festzulegen.
Dennoch ist eine gemeinsame Forderung zugleich nötig und möglich. Wir schlagen für alle Länder der EU gemeinsame Kriterien zur Festlegung eines garantierten Mindesteinkommens vor, die ihren Besonderheiten Rechnung tragen und mehrere Parameter berücksichtigen:
seinen Ausdruck als nennenswerten Anteil am Bruttoinlandsprodukt (der Indikator für den erarbeiteten Reichtum) pro Kopf der Bevölkerung — wir schlagen vor: 50%;
die Deckung der wesentlichen Bedürfnisse, damit die Menschen leben können, nicht nur überleben;
die Respektierung der sozialen Errungenschaften in jedem Land.
Das Mindesteinkommen muss jährlich der Preissteigerung und dem Wachstum des Reichtums angepasst werden.

Wir fordern außerdem:
Eine soziale Agenda, die sich verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, um ein garantiertes individuelles Mindesteinkommen auf europäischer Ebene festzulegen.
Die neue europäische soziale Agenda für die Jahre 2000 — 2005 beinhaltet sozialpolitische Leitlinien für die Mitgliedstaaten. Sie gibt vor, soziale Ausgrenzung und Armut bekämpfen zu wollen, schließt aber das Prinzip eines Mindesteinkommens aus.
Dieser Vorschlag der EU-Kommission, der in Nizza von den Staats- und Regierungschefs angenommen werden soll, lässt eine dramatische Zunahme der Verarmung befürchten, denn:
die EU-Grundrechtecharta sieht ein Recht auf ein Mindesteinkommen nicht vor — nur das Recht auf soziale Unterstützung;
die Minister haben im Rahmen der Ratssitzungen eine unanständige Empfehlung angenommen, die dazu auffordert, den Zustand extremer Prekarität zu definieren, der ein Recht auf Bezug von elementaren materiellen Leistungen verleiht — als solche werden Leistungen definiert, die mindestens den Grundbedarf an Nahrung, Kleidung, Übernachtung und Basisgesundheitsversorgung decken. Anvisiert wird das Recht, im Fall äußerster Not mit Naturalien versorgt zu werden — nicht das Recht auf eine Geldsumme oder gar auf ein Einkommen!
Der Ausschuss für Beschäftigung und Soziales beim Europaparlament hat gefordert, dass die EU-Kommission das Programm der sozialen Agenda um "eine Initiative für das Recht auf ein Mindesteinkommen, eine Mindestrente und einen Mindestlohn erweitert wird, damit jedem Bürger und jeder Bürgerin ein anständiges Lebensniveau und die Möglichkeit der Beteiligung an der Gesellschaft gesichert werden".

Wir fordern von der EU-Kommission und vom Europäischen Rat, dass sie den Änderungsantrag des Europaparlaments annehmen. Aus einem sozialen Aktionsprogramm für die EU, das zur Leitlinie für die Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten werden wird, kann das Recht auf ein garantiertes inidividuelles Mindesteinkommen nicht ausgeschlossen sein.X2
XSchließlich fordern wir:
Ein Vertrag der Europäischen Union, der mit Blick auf die Osterweiterung geschlossen wird, muss sich das Ziel setzen, die Arbeits- und Lebensbedingungen im Sinne ihrer Angleichung nach oben zu verbessern.
Die Osterweiterung wird vorbereitet ohne Einbeziehung der sozialen Rechte. Damit werden einmal mehr ausschließlich die Interessen der Kaufleute bedient, die in den Ländern Zentral- und Osteuropas nur einen enormen Markt sehen, der angeblich nur darauf wartet, erobert zu werden, und ein Reservoir an hochqualifizierter Arbeitskraft, die zu niedrigem Preis arbeitet.

Wir werden darauf achten, dass der Vertrag der ultraliberalen EU-Kommission nicht alle Macht an die Hand gibt, Leitlinien zu diktieren, die als Instrumente der sozialen Regression wirken.
Wir warnen die Staats- und Regierungschefs davor, im EU-Vertrag den Weg für Änderungen an den sozialen Regelungen (Art. 137) zu ebnen, die es möglich machen, Leitlinien über die "Bedingungen für den Bezug von Arbeitslosengeld" anzunehmen — wie die Entwürfe zum Vertrag es nahelegen.
Der Text, den die französische Präsidentschaft vorbereitet hat, sieht vor, "die Bedingungen für den Bezug von Leistungen, die Begrenzung des Leistungsbezugs und die Definition der Verfügbarkeit der Erwerbslosen für den Arbeitsmarkt" auf europäischer Ebene festzulegen.
Wenn eine solche Leitlinie angenommen wird (hier wird es kein Vetorecht geben), werden die einzelstaatlichen Rechtsprechungen den Bedingungen angepasst werden müssen, die in die Leitlinie hineingeschrieben wurden.

Halten wir die Spirale der Armut auf! Setzen wir Standards durch, unter die niemand sinken darf: ein garantiertes individuelles Mindesteinkommen für Leistungsbeziehende, abhängig Beschäftigte und RenterInnen sowie die Anerkennung des Prinzips "ein Arbeitsplatz ist ein Recht, ein Einkommen eine Pflicht". Setzen wir uns für die dazu notwendige Umverteilung des Reichtums ein!
In Nizza werden wir uns, zusammen mit anderen sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften, dafür einsetzen, dass die sozialen Rechte rechtswirksam aufgenommen werden.
Die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung appellieren an die Gewerkschaften, an alle engagierten Bewegungen und alle, die auf der Seite der Opfer der neoliberalen Politik stehen, sich in dieser entscheidenden Situation der Revision der europäischen Spielregeln zusammenzuschließen, die obigen Forderungen zu verbreiten und zu unterstützen.
Alle gemeinsam — bauen wir Dämme gegen die neoliberale Offensive!

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