Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.22 vom 26.10.2000, Seite 6

ver.di

Lieber eine Verbundorganisation

Die beabsichtigte Gründung der "Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft" (ver.di) durch die vier DGB-Gewerkschaften: die Deutsche Post Gewerkschaft (DPG), Handel, Banken und Versicherungen (HBV), IG Medien und Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) sowie der Deutsche Angestellten Gewerkschaft (DAG), geht in die entscheidende Phase. Im März 2001 sollen die Auflösungsgewerkschaftstage und anschliessend die Fusionskongresse stattfinden. Ob es dazu überhaupt kommt, ist aber noch unklar. Sowohl auf dem Gewerkschaftstag der ÖTV, als auch auf dem der HBV gilt die Zustimmung der Delegierten in ausreichender Zahl (80%) als nicht gesichert. Für die SoZ sprach Helmut Born mit MANFRED BIRKHAHN, dem Landesbezirksvorsitzenden der Gewerkschaft HBV in Berlin. Der Berliner Landesbezirk hat sich gegen die Gründung von ver.di ausgesprochen.

Wie schätzt du die Situation fünf Monate vor der geplanten Gründung von ver.di ein?

Manfred Birkhahn: Nicht sehr optimistisch. Weniger, weil ich die Opposition überschätze, sondern weil die bisherigen Ergebnisse alles andere als optimistisch stimmen. Selbst vehemente Befürworter von ver.di haben inzwischen von den Dauerdiskussionen genug. Die für den ver.di-Prozess geschaffenen Gremien waren zwar sehr fleissig und haben viele Papiere produziert. Dennoch ist die Bilanz aus unserer Sicht negativ. Die Bezirksfrage ist nach wie vor offen, die Budgetierung und anderes ist ebenfalls nicht klar. Von einer neuen gewerkschaftlichen Strategie und damit verbundener Aufbruchstimmung keine Spur. Hinzu kommt jetzt noch, dass es im DGB kracht. Die ver.di-Gewerkschaften befinden sich wegen der DAG-Mitglieder in der Industrie im Konflikt mit der IG-Metall, der IG-Bergbau, Chemie, Energie (BCE) und der IG-Bau, Agrar, Umwelt (BAU). Es geht hierbei um die Frage der organisatorischen Zuständigkeit.

Welche Konsequenzen würden sich ergeben, wenn eine oder mehrere Gewerkschaften die erforderlichen 80% der Delegiertenstimmen nicht erreichen?

Die 20% + x an ver.di-Gegnern in diesen Gewerkschaften müssten wohl erst mal in volle Deckung gehen. Dies, obwohl sie nur ihr selbstverständliches Recht, aus gutem Grund dagegen zu sein, in Anspruch genommen hätten. Es käme gegebenenfalls die "4+1- Version" zum Tragen. Wie dies gehen soll, kann ich mir so recht nicht vorstellen. Wünschenswert wäre, wenn unsere Berliner Vorschläge für eine Verbundorganisation aufgegriffen würden. Wünschenswert wäre es, im Rahmen einer solchen Verbundorganisation einige Vorschläge umzusetzen.
Zum Beispiel die Beseitigung der Konkurrenz unter den Einzelgewerkschaften und die Erneuerung des DGB als Dachorganisation; ein gemeinsames Standortkonzept, um eine flächendeckende Vertretung aller Mitglieder der Verbundgewerkschaft sicherzustellen; die Entwicklung gemeinsamer Projekte zur Erschließung neuer Betriebe und der Beseitigung sog. weißer Flecken.
Des Weiteren setzen wir uns für die Schaffung eines Finanzausgleichs unter den Mitgliedern der Verbundgewerkschaft ein, um deren individuelle Existenz zu sichern (analog zum Länder—Finanzausgleich), und wollen die Entwicklung einer gemeinsamen Öffentlichkeitsarbeit sowie einer gemeinsamen gewerkschaftlichen Imagewerbung. Als wichtigen Punkt erachten wir die gegenseitige Unterstützung bei Tarifauseinandersetzungen und politischen Aktionen; die Entwicklung internationaler, insbesondere europäischer Zusammenarbeit und zielgerichteter Angebote im Bildungsbereich für ehren- und hauptamtliche Kolleginnen und Kollegen.
Unsere Prämisse: eine Weiterentwicklung organisatorischer Strukturen erfolgt erst, wenn sich die beteiligten Einzelgewerkschaften gemeinsam auf eine gewerkschaftspolitische Strategie verständigt haben, die hinsichtlich ihrer Ziele und Mittel geeignet ist, dem Wandel in unserer Gesellschaft Rechnung zu tragen.
Die gewerkschaftliche Welt ginge jedenfalls auch bei einem Scheitern von ver.di nicht unter, sondern wir hätten eine weitere Chance abzuklären, was wir politisch eigentlich wollen.

Die Berliner HBV hat sich von Anfang an gegen die Gründung von ver.di ausgesprochen. Welches sind eure Gründe?

Wir haben uns von Anfang an gegen einen Prozess gewandt, der nur auf die Änderung von Strukturen abstellt, die politische Notwendigkeit von Änderungen jedoch niemals bestritten. Wir waren und sind der Auffassung: Erforderlich ist eine neue Politik der Gewerkschaften und nicht nur eine neue Struktur. Strukturen sind Mittel zum Zweck. Dieser Zweck (die Politik) muss zuerst politisch gewollt und formuliert werden. Wir wissen bis heute nicht, welche Politik der Koloss ver.di zu wessen und welchem Zweck verfolgen wird. Im schlimmsten Fall erleben wir die Wiederholung der Vergangenheit. Diese ist gewerkschaftspolitisch am Ende. Ein "weiter so" ist keine Perspektive.

ver.di soll die richtige Antwort auf die Krise der Gewerkschaften sein, behaupten die Befürworter. Dazu gebe es keine Alternative. Die IG Medien, so heisst es, ist alleine kaum noch überlebensfähig. Ist es da nicht besser, die Kräfte zu bündeln?

Dass ver.di aus unserer Sicht nicht die richtige Antwort auf die Krise der Gewerkschaften ist, habe ich bereits ausgeführt. Alternativen zu diskutieren, wurde nicht nur von uns auf Gewerkschaftstagen und in Anträgen gefordert. Ein so gigantischer Prozess wie der zu ver.di hätte von Anfang an nicht ohne Alternativen organisiert werden dürfen. Ob die IG Medien allein kaum noch überlebensfähig ist, kann ich nicht beurteilen. Mit unseren Vorschlägen — eine Verbundorganisation zu schaffen — könnte der IG Medien jedoch geholfen werden. Die Bündelung von Kräften kann nicht nur bedeuten, fünf kranke Gewerkschaften zusammenzuschnüren und dann zu meinen, dies ergäbe eine gesunde Gewerkschaft.

Wäre es nicht positiv zu bewerten, wenn die DAG als Konkurrenz zu den DGB-Gewerkschaften in ver.di aufgehen würde?

Die DAG war und ist nur partiell eine Konkurrenz zu einigen DGB-Gewerkschaften. Eine gewerkschaftspolitische Alternative war sie nie. Aus meiner Sicht war und ist die DAG meist sozialpartnerschaftlich orientiert, während sich z.B. die HBV einem konfliktorientierten Politikansatz verschrieben hat. Gewerkschaftliche Konkurrenz abzubauen ist zwar immer richtig, aber überhaupt nur möglich, wenn man einen gemeinsamen gewerkschaftpolitischen Weg miteinander gehen kann. Eine DAG-isierung der DGB-Gewerkschaften hielte ich für fatal. Dies wäre keine Antwort auf die drängenden gewerkschaftspolitschen Fragen.

Im DGB gibt es inzwischen mit der IG Metall und der IG BCE zwei grosse Blöcke. Mit ver.di würde ein neuer grosser Block hinzu kommen. Welche Möglichkeiten haben da noch kleinere Gewerkschaften im DGB?
Die Frage ist falsch gestellt. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, ob es denn bei drei grossen Blöcken noch eine Zukunft für den DGB gibt. Wir befürchten, dass die Bedeutung des DGB weiter minimiert werden wird, weil dann die drei grossen Blöcke alle gewerkschafts- und gesellschaftspolitischen Fragen und Themen selbst wahrnehmen werden. Die kleineren Gewerkschaften kämen dabei sicherlich unter einen enormen Zwang, sich dem einen oder anderen Block politisch anzuschliessen. Insgesamt wäre der bewusst politisch-pluralistisch angelegte "DGB-Konsens" in Frage gestellt.

Welche Gewerkschaften sind heutzutage notwendig, um den Angriffen von Kapital und Politik zu begegnen? Müssen Gewerkschaften unabhängiger von Parteien und gleichzeitig politischer werden?

Selbstverständlich. Nur Gewerkschaften, die politisch unabhängig von Parteien sind, können den Übergriffen von Kapital und Politik erfolgreich begegnen. Der Gegensatz von Kapital und Arbeit müsste wieder deutlicher herausgearbeitet werden. Mehr "Klassenbewusstsein" ist erforderlich, um die Mitglieder und alle abhängig Beschäftigten auf ökonomische und politische Kämpfe zu orientieren. Die weit in die Bevölkerung und die gewerkschaftliche Mitgliedschaft hinein wirkende neoliberale Ideologie und Standortlogik müssen bekämpft werden.
Dazu ist die Zusammenarbeit und Vernetzung der Gewerkschaften mit aussergewerkschaftlichen Gruppierungen und Bürgerinitiativen notwendig. Fragen der Wohnungs- und Mietpolitik, der Ökologie und der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit müssen gewerkschaftliche Politikfelder werden.
In dieser kurzen Antwort können nicht alle Politikbereiche, die ich für wichtig halte, genannt werden. Frauen, Jugend, Ausländer, Rechtsradikalismus usw., zu all diesen Fragen bedarf es politisch-strategischer Antworten. Die Gewerkschaften, die wir heutzutage brauchen, müssen alle diese genannten gesellschaftlichen Probleme mit ihrer konkreten Politik und durch Handeln anpacken.

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