Sozialistische Zeitung |
Am Wochenende des 14./15. Oktober fand im französischen Biarritz die EU-Regierungskonferenz statt, die den
kommenden EU-Gipfel von Nizza Anfang Dezember vorbereiten sollte. Auf der Tagesordnung standen vor allem die Debatte um die neue "Charta der
Grundrechte der Europäer" und um die Reform der EU-Institutionen, die der künftigen Ost- und Südost-Erweiterung der Union
vorausgehen soll.
Heftige Konflikte gab es insbesondere um die Frage der Zukunft der europäischen Institutionen,
und zwar namentlich zwischen kleineren und größeren EU-Staaten. Letztere streben danach, die Zahl der EU-Kommissare zu verringern und mit
dem bisher geltenden Prinzip zu brechen, dem zufolge jeder Mitgliedstaat einen Vertreter in der Brüsseler Kommission haben soll. Andernfalls drohe im
Hinblick auf die kommende EU-Osterweiterung eine mehr und mehr aufgeblähte Kommission, die irgendwann 35 oder 40 Mitglieder aufweisen und
damit handlungsunfähig würde.
Für die kleineren EU-Länder bedeutet dies freilich, dass sie künftig einem
politischen Block angehören sollen, dessen Führungsspitzen ohnehin nicht durch ihre Bevölkerung gewählt (sondern durch die
Regierungen entsandt) werden und auf deren Besetzung ihre jeweilige Wahlbevölkerung nun nicht einmal mehr indirekten Einfluss vermittelt
über die nationalen Regierungen hätte.
Die größeren EU-Länder versuchen die "kleinen" damit zu
trösten, dass sie sich für ein Rotationsmodell aussprechen, in dem auch die fünf mächtigsten Mitgliedstaaten (BRD,
Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien) nicht zu jedem Zeitpunkt in der Kommission vertreten wären.
Allerdings ist kaum anzunehmen, dass bspw. die BRD wenn es gerade einmal periodisch aus
der EU-Kommission abwesend wäre mit seiner Bevölkerungszahl und seinem ökonomischen Gewicht im selben Maße
Entscheidungen gegen seinen Willen hinnehmen müsste und würde wie Griechenland oder Dänemark.
In Biarritz kam es nun zu einem heftigen Schlagabtausch über diese Frage, bei dem Belgiens
Premier Verhofstadt den großen EU-Ländern wobei namentlich Deutsche und Franzosen die treibende Kraft darstellen
unverblümt vorwarf: "Sie wollen die Macht."
Insbesondere Frankreich, obwohl tendenziell schwächerer Juniorpartner an der Seite des
zunehmend zum Motor werdenden Deutschland war es, das gegen die Vorbehalte der "Kleinen" in die Offensive ging. So hielt Frankreichs
sozialdemokratischer Regierungschef Jospin seinen luxemburgischen und portugiesischen Amtskollegen, Jean-Claude Juncker und António Guterres,
die Frage vor, wo sie denn wären, wenn ihre Länder nicht auf dem Weg über die EU Bedeutung erhielten. Würden Clinton und
Arafat ihnen sonst auch die Hände drücken? Worauf Juncker antwortete, immerhin sei die EG/EU entstanden, weil die BRD und Frankreich
dreimal hintereinander verheerende Kriege geführt hatten.
Und Frankreichs Staatspräsident Chirac zeigte sich sogar drohend: wenn die kleineren EU-
Staaten das Abgehen vom Prinzip "ein Land ein Kommissar" verhinderten, dann würden sie für die Verspätung der
EU-Erweiterung verantwortlich. Notfalls, so Chirac weiter, würde man eben einstweilen die Vertiefung der europäischen Integration
außerhalb der EU-Verträge, mit einigen willigen Partnern, weitertreiben.
Hier schimmert die alte Idee vom "Kerneuropa" (wie die CDU-Politiker Karl Lamers und
Wolfgang Schäuble es 1994 ausdrückten) durch, das Joseph Fischer im Mai 2000 zum "Gravitationszentrum" umtaufte, als einer Art
europâischer Führungszentrale um die der "Rest" in konzentrischen Kreisen, mit nach außen hin abnehmender Integration,
angeordnet ist.
Die Entwicklung der EU geht ohnehin in diese Richtung, mit zwei weiteren "Reform"-
Punkten, die ebenfalls in Biarritz auf der Tagesordnung standen: der Ausweitung der Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit (anstatt des bisherigen
Konsensprinzips, das die Zustimmung aller EU-Länder erforderte) und dem Projekt der "vertieften Kooperationen".
Was die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit betrifft, so scheint es, dass man sich auf eine Liste von
30 Artikeln der EU-Verträge geeignet habe, auf deren Gebieten dieses Prinzip künftig an die Stelle des alten Konsenses treten soll. Die
"vertieften Kooperationen" sind auf fünf Feldern in der Debatte (Steuerpolitik, Asyl, Polizeikooperation, internationaler Handel und
soziale Sicherungssysteme). In Biarritz hielt der Streit über ihren Charakter an, in dem vor allem der Luxemburger Juncker und der Franzose Chirac
aufeinander stießen.
Juncker wünscht einen "einschließenden und nicht ausschließenden"
Charakter der Kooperationen, das bedeutet, dass jedes EU-Land jederzeit mitgestalten dürfte und dass die Kooperationen im Rahmen der bestehenden
EU-Institutionen und Vetragswerke angesiedelt wären. Chirac hingegen betonte, es komme "nicht in Frage, dass ein einziges EU-Land das
Zustandekommen einer solchen Kooperation aufhält".
Anders ausgedrückt: Störer will man draußen halten dürfen. Näheres
wird wohl im Dezember in
Nizza geregelt werden, wo ein neuer EU-Vertrag verabschiedet werden soll.
Was die Verringerung der Zahl der EU-Kommissare betrifft, so haben Belgien und die Niederlande
bereits Kompromissbereitschaft signalisiert: ab einer bestimmten Zahl von Neuaufnahmen in die EU soll diese automatisch erfolgen. Weitere EU-Länder
erweisen sich zumindest als "beweglich" : Finnland, Luxemburg und Portugal. Hingegen bleiben Schweden, Dänemark, Irland,
Österreich und Griechenland im Lager der Skeptiker.
Bernhard Schmid (Paris)
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