Sozialistische Zeitung |
Die Vorschläge der israelischen Regierung auf dem Treffen in Camp David im Sommer dieses Jahres waren so weitgehend wie nie zuvor. Es schien
Bewegung in die verhärteten Fronten zum Status Jerusalems, den palästinensischen Flüchtlingen und den Siedlungen gekommen zu sein.
Warum kam es dennoch zur Eskalation?
Adam Keller: Es ist wahr, dass Ehud Barak einige Zugeständnisse gemacht hat, die bisher noch kein Premierminister machte, insbesondere in
Bezug auf Jerusalem. Aber vom palästinensischen Standpunkt aus gingen nicht weit genug. Die Palästinenser haben gefordert, dass Ostjerusalem
die Hauptstadt Palästinas und Westjerusalem die Hauptstadt Israels wird. Diese Position ist an sich schon ein Kompromiss, denn in Westjerusalem
befinden sich viele palästinensische Viertel von vor 1948, deren Bewohner vertrieben wurden.
Die Palästinenser waren auch bereit, die neuen israelischen Siedlungen zu akzeptieren, die in
Ostjerusalem nach 1967 auf konfisziertem palästinensischen Land entstanden sind. Aber sie bestanden darauf, alle arabischen Viertel Ostjerusalems
unter vollständige palästinensische Souveränität zu bekommen. Das wollte Barak nicht zugestehen. Er war bereit, einige Viertel in
Jerusalem der palästinensischen Souveränität zu unterstellen und einigen anderen eine Art Autonomie mit palästinensischer
Verwaltung unter israelischer Oberhoheit zu gewähren. Insbesondere war er nicht bereit, die Juden und Arabern gleichermaßen heilige
Stätte, den Tempelberg bzw. Haram al Scharif, unter palästinensische Oberhoheit zu stellen.
Barak erklärte zwar, etwa 90 % des Westjordanlands räumen zu wollen. Das klingt nach
sehr viel, aber mit den restlichen 10 %, die er annektieren will, würde er das Westjordanland in zwei getrennte Enklaven teilen. Außerdem
würden dadurch 100000 Palästinenser Israel unterstellt und könnten nicht in einem palästinensischen Staat leben.
Unklar blieb, wievielen Flüchtlingen genau er die Rückkehr nach Israel gestatten
würde; es bestand jedenfalls die Möglichkeit, dass es sehr wenige im Verhältnis zu den Vorstellungen der Palästinenser sein
würden. Barak war also in allen Punkten zu Kompromissen bereit, die aber nicht ausreichten. Und er war nach dem Scheitern des Treffens oder sogar
noch in der letzten Phase von Camp David nicht bereit, weiter zu verhandeln. Tatsächlich versuchte er, den Palästinensern seine Bedingungen zu
diktieren. Dies sei sein letztes Wort: "Wenn ihr das nicht akzeptiert, wird nicht mehr geredet."
Ist dies der Grund für die Eskalation? Schließlich ist die Situation seit langem schwierig.
Seit dem Scheitern von Camp David wachsen die Spannungen fortwährend. Die Palästinenser hatten ursprünglich beabsichtigt,
die Unabhängigkeit im Mai 1999 zu erklären. Das war zur Zeit der Wahlen in Israel, und es wurde Druck auf sie ausgeübt, die
Erklärung um eineinhalb Jahre zu verschieben, auf September 2000. Die Europäische Union machte in ihrer Berliner Erklärung ein sehr
deutliches Versprechen: Wenn das Datum verstreicht, ohne dass ein Übereinkommen erzielt wurde, wird die EU einen unabhängigen
palästinensischen Staat anerkennen. Präsident Clinton versprach etwa dasselbe. Aber nach dem Scheitern von Camp David nahm Clinton sein
Versprechen zurück und drohte den Palästinensern sogar, wenn sie ihre Unabhängigkeit erklärten, würden die USA nicht
nur deren Anerkennung verweigern, sondern auch harte Sanktionen verhängen.
Als Arafat nach dem Scheitern von Camp David die europäischen Hauptstädte besuchte,
erklärten ihm die Regierungsvertreter, dass sie einen unabhängigen Palästinenserstaat nicht anerkennen würden. Dasselbe tat
Japan, das wichtige finanzielle Unterstützung für die Autonomiebehörde leistet.
Die palästinensische Führung hatte das Gefühl, dass Barak sie in eine
diplomatische Falle trieb. Die Palästinenser an der Basis nahmen wahr, dass die Besetzung ihres Landes wie zuvor weiter geht. Der Ausbau der
Siedlungen dauert an, die Beschlagnahmung von Land, die Demütigung von Palästinensern an den Checkpoints, ihre Verhaftung durch
israelische Spezialeinheiten mitten in der Nacht all diese Demonstrationen der Besatzermacht gingen ohne Unterbrechung weiter.
Die palästinensische Basis mag also aus Verzweiflung zu Gewaltaktionen gegriffen haben. Halten Sie es für realistisch, dass Arafat
mit der Drohung einer neuen Intifada Druck auf die israelische Regierung ausüben wollte und nun teilweise die Kontrolle verloren hat?
Ich weiß nicht, ob er die Kontrolle verloren hat. Auslöser war sicher die Provokation des
ehemaligen Verteidigungsministers Ariel Sharon auf dem Tempelberg und die Tötung von fünf palästinensischen moslemischen
Gottesdienstbesuchern. Das hat die unterschiedlichen Fraktionen, die Führung und die Basis der Palästinenser zusammengeschweißt. Ich
glaube, dass Arafat die Situation zum größten Teil unter Kontrolle hat. Er versteht sein Volk und weiß, dass ihre und seine eigene Geduld
zu Ende geht.
Gegen die überwältigende israelische Übermacht können die Palästinenser mit militärischen Mitteln
nichts erreichen. Warum ist es so schwierig, die Gewalt zu beenden?
Es gibt einige Umstände, die ein Gegengewicht zur militärischen Überlegenheit darstellen. Wenn ein unterdrücktes Volk
für seine Befreiung kämpft, hat der Gegner immer eine überwältigende militärische Übermacht. Aber es gibt immer auch
politische Faktoren. Die internationale öffentliche Meinung tendiert dazu, mit dem "underdog" zu sympathisieren. Das sind in diesem Fall
die Palästinenser. Tötungen palästinensischer Kinder, die das Fernsehen in der ganzen Welt gezeigt hat, haben dem israelischen Image
sehr geschadet. Und Israel ist ein Land, das seinem Image in der internationalen Öffentlichkeit viel Bedeutung beimisst.
Der palästinensische Aufstand hat sehr großen Eindruck auf die Massen in der arabischen
Welt gemacht und berührt die amerikanischen Interessen. Es gab einen direkten Angriff auf ein amerikanisches Kriegsschiff in Jemen; es gab sehr viele
Demonstrationen in Ägypten, in Jordanien, in der ganzen arabischen Welt.
Wenn das so weitergeht, könnte es die proamerikanischen Regierungen im Nahen Osten
destabilisieren. Der Aufstand hat den Ölpreis beeinflusst, was wiederum die internationale Wirtschaft berührt. Er beeinträchtigt die
Chancen von Gore im amerikanischen Wahlkampf, denn wenn der Ölpreis weiter steigt, wird Gore nicht mehr in gleicher Weise die Erfolge der
amerikanische Wirtschaft preisen können.
Es gibt also viele Faktoren, die der militärischen Überlegenheit Israels
gegenüberstehen.
In gewissem Maße zähle ich auch die Demonstrationen der israelischen
Friedensbewegung dazu, obwohl wir bisher nicht in der Lage waren, wirkliche Großdemonstrationen zu organisieren. Aber wir versuchen, der Stimme
der Unzufriedenheit in der israelischen Gesellschaft Gehör zu verschaffen. Zur Zeit sitzt ein Soldat im Gefängnis, weil er Befehle seines
Vorgesetzen verweigert hat. Wenn es so weitergeht wie in den letzten zwei Wochen oder sich sogar noch weiter zuspitzt, dürfte der Widerstand in der
israelischen Gesellschaft steigen, dann gibt es mehr Demonstrationen und mehr Soldaten, die ihre Beteiligung an militärischen Einsätzen
verweigern.
Letztlich beeinflusst auch die öffentliche Meinung das Vorgehen der Armee, die die
größten Anstrengungen unternimmt, Verluste zu vermeiden. Deshalb hält die Armee ihre Soldaten meistens innerhalb befestigter
Stellungen oder in gepanzerten Fahrzeugen. Wenn sie die Palästinenser angreifen, benutzen sie Hubschrauber. Die israelische Armee kann ihre Truppen
nicht in einer Weise einsetzen, die Soldaten in Gefahr bringt.
Was könnte nach den Gesprächen in Scharm-el-Scheich passieren?
Barak plant, Sharon in die Regierung zu nehmen. Das passt aber nicht mit dem Versuch zusammen, die Lage zu beruhigen. Wahrscheinlich
würde es zu einer weiteren Eskalation führen. Das günstigste Szenario wäre eine (wenn auch nicht hundertprozentige) Entspannung
der Lage auf einem weitaus niedrigeren Niveau der Gewalttätigkeit im Vergleich zu den vergangenen zwei Wochen. Und eine von den Amerikanern
forcierte neue Verhandlungsrunde nach den Präsidentschaftswahlen. Denn die Palästinenser haben das Gefühl, vor den Wahlen nehme
Clinton stärker als gewöhnlich Rücksicht auf Israel.
Aber auch dann wird Barak mehr Zugeständnisse machen müssen, als er es in Camp David
tat. Anderenfalls wird es eine unilaterale palästinensische Unabhängigkeitserklärung geben, und dann werden die
Zusammenstöße von neuem losgehen.
Gush Shalom hat seit langem vorausgesagt was passieren wird, wenn der Friedensprozess scheitert. Was steht für den israelischen
Friedensblock nun auf der Tagesordnung?
Wir haben uns an einer Koalition von Friedensgruppen beteiligt, die seit Ausbruch des aktuellen Konflikts sehr aktiv gewesen ist. Wir haben
täglich auf der Straße demonstriert, vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv, vor Baraks Haus in Jerusalem. Das waren wie gesagt keine
Großdemonstrationen. Manchmal demonstrierten wir mit dutzenden, manchmal mit hunderten Teilnehmern.
Es gibt eine Krise der gemäßigten Friedensgruppen in Israel. Einige von ihnen sind der
Ansicht, alle seien zu weit gegangen. Sie sind enttäuscht und werfen den Palästinensern vor, zu gewalttätig zu sein. Wir meinen, dass
diese Leute subjektiv vielleicht sehr aufrichtig sind, aber sie verlangen von den Palästinensern die Zustimmung zu Bedingungen, denen die
Palästinenser nicht zustimmen können. Die Palästinenser sollen nicht nur Israel in den Grenzen nach 1967, sondern auch die sehr
weitgehende Annexion von Land in den besetzten Gebieten anerkennen.
Wir versuchen, diese Leute wieder für Aktivitäten in der Friedensbewegung zu gewinnen.
Außerdem wollen wir unseren Einfluss auf die Meretz-Partei geltend machen. Sie ist die wichtigste Linkspartei in Israel und tendiert jetzt zur
Beteiligung an einer Notstandsregierung, die auch Sharon und den Likud-Block einschließt. Das wäre ein überaus harter Schlag, denn
damit würde sich die wichtigste jüdische Partei der israelischen Linken an einer Regierung mit Sharon beteiligen. Einige radikalere Mitglieder
von Meretz konnten wir dafür gewinnen, gegen eine solche Koalition mit der politischen Rechten aufzutreten. Natürlich hoffen wir, dass die
ganze Idee einer Notstandsregierung mit Sharon nicht wahr werden wird, wenn sich die Situation in den besetzten Gebieten beruhigt.
Andererseits ist es auch möglich, dass die Gewalt weitergeht. Viele Palästinenser sind
überzeugt, dass Verhandlungen grundsätzlich vergeblich sind. Sie meinen, sie haben sieben Jahre gewartet, um eine Übereinkunft mit Israel
zu schließen; in all der Zeit hat die Besetzung angedauert. Seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens hat sich die Anzahl der Siedler fast
verdoppelt.
Die Palästinenser bemühen sich außerdem um andere Vermittler, z.B. die UNO oder
die EU, weil die USA dem israelischen Staat sehr viel näher stehen als den Palästinensern und daher nicht neutrale Makler oder Vermittler sein
können. Dagegen opponiert die israelische Seite. So erklärt sich die Auseinandersetzung um eine internationale Untersuchungskommission, die
ein großes Problem in den Verhandlungen in Scharm-el-Scheich war. Die Palästinenser wollten auch andere internationale Kräfte in die
Untersuchungskommission einbeziehen, nicht nur die USA.
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