Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.23 vom 09.11.2000, Seite 15

Marxistischer Einzelgänger

Neues Buch mit Texten von Leo Kofler

Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg (VSA) 2000, 240 Seiten, 29,80 DM, ISBN 3-87975-769-0.

Das von Christoph Jünke herausgegebene neu erschienene Buch: Leo Kofler, Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers*, ist eine Fundgrube. Neben einer aufschlussreichen Einleitung des Herausgebers zu Leben und Werk enthält es 21 zum großen Teil bislang nicht in Büchern veröffentlichte Texte Koflers beginnend mit "Über die Freiheit" von 1951 bis zu "Mit einer Zehe in der Freiheit stehen", einem Gespräch mit der Zeitschrift Psychologie heute von 1982.
Die chronologisch zuletzt entstandenen Aufsätze (von 1983, 1987 und 1989) vorher einzugliedern ist offenbar ein bewusster kompositorischer Eingriff des Herausgebers, der so bei aller Vielfalt und trotz der durchaus vorhandenen positionellen Modifikationen im Schaffen Koflers einen über viele Jahre hinweg reichenden inhaltlichen Bogen besser sichtbar machen kann: Seitdem nämlich Leo Kofler produktiver Marxist geworden war, hatte ihn das Problem der Freiheit und der Demokratie nicht losgelassen.
Für ihn konnte das Bürgertum die Verheißungen der bürgerlichen Revolution nicht erfüllen. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln und der daraus folgende Besitzegoismus verhindern wirkliche Demokratie und Freiheit. Die sozialistische Arbeiterbewegung ist berufen, diese frühen Ideale des Bürgertums aufzugreifen und zu verwirklichen.
Der stalinistische Vulgärmarxismus rechtfertigte völlig undemokratische Verhältnisse mit dem Verweis auf den "nur formalen" Charakter der bürgerlichen Freiheiten, die es aber in Wirklichkeit nicht "abzuschaffen" sondern im dialektischen Sinne "aufzuheben" gilt. Im spätbürgerlichen Kapitalismus des 20.Jahrhunderts sah Kofler einen ideologisch-moralischen Verfallsprozess, in dessen Verlauf das Bürgertum eine Wende von der Vernunft zu verschiedenen Formen des Irrationalismus vollzieht, zu denen der Faschismus ebenso gehört wie jene "Raubtiermoral", die die Verfechter eines ungezügelten Kapitalismus predigen, der heute unter dem Namen "Neoliberalismus" wieder im Mittelpunkt der bürgerlichen Ideenwelt steht.
Leo Kofler (1907—1995), jüdischer Herkunft, wuchs im "Roten Wien" der Zwischenkriegszeit auf, wo er seine Tätigkeit in der Gewerkschaft, in der Bildungs- und Theoriearbeit aufnahm. Er überlebte Nationalsozialismus und Krieg interniert in der neutralen Schweiz. Seine Eltern und viele seiner Verwandten wurden von den Nazis ermordet. Nach den Zweiten Weltkrieg ging er nach Ostdeutschland und wurde als Professor an die Universität Halle berufen.
Wegen seines an Max Adler und Georg Lukács geschulten undogmatischen Marxismus, der den subjektiven Faktor und die Ideologiekritik aufwertete, der sich mit Problemen der Ästhetik ebenso beschäftigte wie mit dem Verblendungszusammenhang der total entfalteten Warenwirtschaft und der gegen die Entfremdung ein mit vollem Bewusstsein handelndes geschichtliches Subjekt mobilisieren wollte, wurde er von den Vertretern der herrschenden Partei- und Staatsbürokratie bald als "subjektivistischer Scheinmarxist" und ähnlich tituliert.
Schlimmer noch in den Augen der Herren von der SED-Führung war Koflers nüchterne Einschätzung der Verhältnisse in der Sowjetunion, in der er nur Vorformen der angestrebten neuen Gesellschaft ausmachen konnte.
Der selbständig denkende Marxist hatte keine Zukunft in der DDR, und da er um seine Existenz fürchten musste, floh er nach Westdeutschland.
Auch im Westen reichte Koflers total unterentwickeltes Anpassungstalent nicht, um zu arrivieren — angefangen bei seiner Weigerung, als Flüchtling aus dem Osten die geforderten antikommunistischen Statements abzugeben. Erst 1972, im Alter von 65 Jahren, wurde er an die Universität Bochum berufen — der Forderung von Studierenden entsprechend, die von der Jugendradikalisierung und der neuen Linken beeinflusst waren.
In der Zwischenzeit war Kofler nicht nur theoretisch tätig gewesen. Er, der sowohl den opportunistischen "bürokratischen Praktizismus" der Sozialdemokratie als auch den stalinistischen bürokratischen Terror kritisierte und sich in keiner politischen Partei wiedererkannte, lehrte sozialistische und marxistische Grundlagen in zahllosen Seminaren und Bildungsveranstaltungen. Sein Publikum waren gewerkschaftlich Aktive und politisierte Jugendliche, Besucherinnen und Besucher der Volkshochschulen, linke Sozialdemokraten.
Das ist der Hintergrund dafür, dass Kofler auch in der Neuen Linken "zwischen allen Stühlen" saß, da er die Wichtigkeit der Verbindung mit der real existierenden Arbeiterbewegung betonte.
Das vorliegende Buch schließt mit einer Auflistung der Bücher und Broschüren von Leo Kofler. Dem Rezensenten ist unwohl dabei, dem reichen Inhalt so wenige Zeilen zu widmen. Es bleibt nur der anerkennende Zuruf an den Schatzgräber und die Ermunterung an ihn, seine Arbeit fortzusetzen — und die Versicherung an die Leserinnen und Leser der SoZ, dass sie mit Erwerb und Lektüre des Buches nichts verlieren, ohne es aber viel versäumen werden.

Manuel Kellner

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