Sozialistische Zeitung |
Zahlreiche Journalisten und Fernsehkommentatoren hatten sich am 14.Oktober in der Bibliothek der geräumigen
Wohnung der Dramatikerin Bilgesu Erenus in der Innenstadt von Istanbul versammelt. Doch das Interesse galt nicht der bekannten türkischen
Künstlerin sondern vier Frauen, die sich mit weißen Kopftüchern und roten Bändern in der Sitzecke plaziert hatten. Agdas
Sükran gehört zu ihnen. Mit trauriger Stimme beginnt sie zu erzählen: "Bis zum 13.Mai 1996 war ich unpolitisch. An diesem Tag hat
die Polizei meinen 15-jährigen Sohn erschossen, als er auf der Straße die linke Zeitung Kurtulus verkauft hat. Es dauerte noch eine längere
Zeit, bis ich mich entschloss, für die Ziele weiter zu kämpfen, für die mein Sohn gestorben ist."
Agdas hat mit drei anderen Frauen einen unbegrenzten Hungerstreik begonnen. Damit wollen
sie die fast 1000 politischen Gefangenen in verschiedenen türkischen Gefängnissen unterstützen, die seit dem 20.Oktober die Nahrung
verweigern. Sie protestieren damit gegen die von der türkischen Regierung geplante Einführung von Isolationsgefängnissen, den sog. F-
Typ-Zellen. Da viele Gefangene durch vorangegangene Hungerstreiks sowie polizeilicher Folter in schlechter gesundheitlicher Verfassung sind, ist ihr Leben
bald akut bedroht. Doch bisher sind es vor allem einige Künstler, Intellektuelle und die in der Organisation Tayad zusammengeschlossenen
Angehörigen der politischen Gefangenen, die sich um das Leben der Gefangenen sorgen.
"Monatelang haben wir die Öffentlichkeit über die Folgen der
Einführung der Isolationsgefängnisse informiert. Doch seit Beginn des Hungerstreiks haben wir gemerkt, dass unsere Arbeit noch längst
nicht ausreichend war", sagte eine Tayad-Aktivistin mit Bitterkeit in der Stimme.
Doch ganz erfolglos war die Arbeit der Angehörigen nicht. Vom 10. bis 12.November
nahmen mehr als 300 Personen an einem Kongress der Angehörigenorganisation Tayad über die Situation in den Gefängnissen teil,
darunter viel Prominenz. Verschiedene JuristInnen nahmen die gesetzlichen Grundlagen von Isolationshaft und Antiterrorgesetzgebung genauer unter die
Lupe.
Ein Mitglied der Istanbuler Architektenkammer gab einen kurzen historischen Abriss
über die Geschichte der Gefängnisbauten vom antiken Labyrinth bis zum modernen Hochsicherheitsgefängnis. Auch die Geschichte der
Isolationshaft kam zur Sprache. Dabei wiesen mehrere RednerInnen darauf hin, dass in der BRD in den 70er Jahren politische Gefangene in Isolationstrakten
inhaftiert waren und in der Hamburger Universität über die Auswirkungen von Isolationshaft auf das Befinden des Menschen geforscht wurde.
Das ehemalige Mitglied der "Bewegung 2.Juni" Ilse Schwipper berichtete
über ihre Erfahrungen in Isolationshaft, die für sie mehr als 6 Jahre dauerte. Wegen Haftunfähigkeit wurde sie schließlich aus dem
Knast entlassen.
"Sie sind aus der Isolationshaft wieder herausgekommen. Das gibt uns Mut, dass wir
auch unsere Angehörigen wieder in Freiheit sehen werden", meinte eine Tayad-Aktivistin. Auch Angehörigengruppen aus Italien, Spanien,
Großbritannien, Frankreich und Belgien hatten Delegationen zu dem Kongress geschickt und ihre Solidarität mit den Gefangenen bekundet.
Am Schluss wurde ein Forderungskatalog erarbeitet, der u.a. die Abschaffung der Zensur, eine
angemessene medizinische Betreuung der Gefangenen und ein regelmäßiges Besuchsrecht einklagt. Ob die Regierung allerdings die
Vorschläge überhaupt zur Kenntnis nimmt, ist unwahrscheinlich.
Menschenrechtsverletzungen gehören in der Türkei keineswegs der
Vergangenheit an, bestätigte Saban Subesi vom Internationalen Menschenrechtsverein (IHD) in Istanbul: "Folter steht hier weiterhin auf der
Tagesordnung." Der einseitig erklärte Waffenstillstand der PKK habe keine Verbesserung der Menschenrechtssituation gebracht, denn von
Seiten des Staates gehe der Krieg unvermindert weiter. Erst kürzlich seien in Kurdistan drei Dorfbewohner ermordet worden.
Auch der seit Jahren in politischen Verfahren engagierte Rechtsanwalt Sekci Rüzgar
hatte wenig Erfreuliches zu berichten. Zwar wurde er nach internationalen Protesten auf freien Fuß gesetzt. Seine Anwaltspraxis hat er verloren, das
Land darf er nicht verlassen und die Anklage gegen ihn läuft weiter. Dabei kann er detailliert nachweisen, dass Belastungsmaterial gegen ihn vom
Staatsschutz fabriziert wurde. Dass er nach mehrmonatiger Haft überhaupt auf freien Fuß gesetzt wurde, ist nur den internationalen Protesten zu
verdanken, meint Rüzgar.
Auf internationale Unterstützung hoffen auch die hungerstreikenden Gefangenen und
ihre Angehörigen. In verschiedenen europäischen Ländern haben erste Solidaritätsaktionen begonnen. In Deutschland werden sie
hauptsächlich von linken türkischen Exilstrukturen getragen. Die deutsche Linke hingegen hat den Hungerstreik gegen die
Isolationsknäste made in Germany kaum wahrgenommen.
Peter Nowak
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