Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.24 vom 23.11.2000, Seite 6

ver.di

Offene Erfolgsaussichten

Die Notwendigkeit der Veränderung gewerkschaftlicher Organisation und der gewerkschaftspolitischen Reaktion auf neue Entwicklungen in der kapitalistischen Organisation der abhängigen Arbeit ist unbestritten. Dass es mit den DGB-Gewerkschaften, die seit 1993 — nach der Gewerkschaftseuphorie des Anschlusses der DDR — erhebliche Mitgliederverluste zu verzeichnen haben, in der herkömmlichen Weise nicht weitergehen kann — sowohl organisatorisch wie politisch — ist fast allen Beteiligten klar.
Es ist ein weitverbreitetes Missverständnis, ver.di als strategische Antwort der Gewerkschaften auf die zunehmende Bedeutung des Dienstleistungssektors in modernen kapitalistischen Gesellschaften zu sehen. Diese Interpretation ist zweifach falsch.
Erstens gibt es keine strategisch angelegten Diskurse über die angemessene Reaktion der Gewerkschaften auf die Dominanz von "shareholder value" und das steigende Gewicht von "new economy". Zweitens basiert ver.di nach wie vor auf zwei pragmatischen Entscheidungen.
Es geht um die Aufnahme der DAG in den Kreis der DGB-Gewerkschaften. Dabei muss wegen des großen Organisationsspektrums der DAG das "Auffangbecken" der beteiligten DGB-Gewerkschaften relativ groß sein, um die Konkurrenz mit den Industriegewerkschaften im DGB in Grenzen zu halten.
Die Abgrenzungsgespräche mit IG Metall und IG BCE verliefen zwar zunächst erfolgreich, aber außerordentlich schwierig. Zugleich benötigen mindestens IG Medien und HBV eine breitere finanzielle Grundlage für die Fortführung ihrer Interessenvertretung und Politik. So gesehen, entwickelt sich ver.di auch zu einem Projekt der Bestandssicherung gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit.
Von den Versuchen, einer dem modernen Kapitalismus angemessenen Neudefinition gewerkschaftlicher Politik oder einer neuen strategischen Ausrichtung ist im bisherigen Fusionsprozess sehr wenig zu spüren. Diese notwendige "Politisierung" gewerkschaftlicher Interessenvertretung ist aber nur aufgeschoben. Sie wird den beteiligten Gewerkschaften aber aufgezwungen, sowohl durch die faktische ökonomische Entwicklung, wie die Politik der Bundesregierung.
Die "Matrixorganisation" von ver.di wird eine Quelle ständiger Konflikte sein. 13 vertikal aufgebaute Fachbereiche vermischen sich mit drei horizontalen, oder territorialen Ebenen: Bund, Landesbezirke und Bezirke. Um die politische und finanzielle Teilautonomie der Fachbereiche gegenüber den Ebenen zu sichern, wurde ein kompliziertes und überbürokratisches System von Konfliktlösungsmechanismen und zugleich geradezu bizarre Regeln der Verteilung der finanziellen Mittel (= Budgetierungsrichtlinien) durchgesetzt.
In der Tendenz bedeutet das die weitere Bürokratisierung und Verselbständigung des hauptamtlichen Gewerkschaftsapparates. Alle Leitungspositionen werden dabei von oben, nach einer dem Mitgliedsanteilen entsprechenden "Gewerkschaftsquote", besetzt und für rund sechs Jahre werden Wahlen zur Bestimmung der Führungsfunktionen ausgesetzt. Dahinter steht die Angst der kleineren Gewerkschaften bei demokratischen Verfahren durch ein mögliches Bündnis von ÖTV und DAG schrittweise marginalisiert zu werden.
Wie auch bei anderen Fusionen sind die Erfolgsaussichten dieses Prozesses völlig offen. Mit Sicherheit wird es bei der Umsetzung der Fusion Austritte von Mitgliedern geben. Wird an dem jetzt festgelegten starren Budgetierungsschema festgehalten, wird der interne Kampf um die Zuweisung von Fachbereichen in die Ebenen, im Kern der Kampf um Geld, die notwendigen politischen Entwicklungsprozesse blockieren.
Die Chancen für den Erfolg von ver.di hängen davon ab, ob es gelingt, dass die 13 Fachbereiche, deren Abgrenzung z.T. unbegründet ist, politisch und organisatorisch möglichst rasch zusammenwachsen und das im Prozess erzeugte, manchmal schon feindliche Gegeneinander der Gewerkschaften auf lokaler und regionaler Ebene aufgelöst wird. Dafür gibt es, ausgelöst durch die unsoziale Politik der Bundesregierung durchaus Chancen.
Das persönliche Scheitern von Herbert Mai im ver.di-Prozess signalisiert auch die grundsätzliche Beschränktheit eines rein technokratischen Verständnisses von Gewerkschaftsfusionen. Seine Nichtkandidatur für den ÖTV-Vorsitz hat die Chancen der Fusion deutlich erhöht.

Michael Wendl

Der Autor ist Vorsitzender der Gewerkschaft ÖTV Bayern.


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