Sozialistische Zeitung |
Seit Mai dieses Jahres wirbt der Schriftsteller Gerhard Zwerenz in der Öffentlichkeit dafür, dass die PDS und ihr
Umfeld das seit Stalins Zeiten in Ostdeutschland vorgegebene, vielfach aber auch im Westen herrschende Trotzki-Tabu brechen. Es gelte, meint der ehemalige
Deserteur von der Hitlerwehrmacht und 1957er Flüchtling aus der DDR nach Differenzen mit der SED-Führung, Traditionen des großen
russischen Revolutionärs für die eigene Politik fruchtbar zu machen. Am weitesten reicht Zwerenz Stimme durch einen Artikel im Neuen
Deutschland (vom 20./21.5.2000). Für die Blockierung der beginnenden internationalen Trotzki-Renaissance hierzulande machte er darin "den
verdrängten Schuldkomplex der Kommunisten und früheren Sowjetfreunde" verantwortlich, "die sich nicht eingestehen wollen, dass
die junge Sowjetunion mit dem Sieg Stalins über Trotzki ihre revolutionäre Alternative verlor und zu einem russischen National-Sozialismus,
wie Trotzki das nannte, degenerierte, der dem Kapital unterlegen ist".
In einer Vorlesungs- und Diskussionsveranstaltung des PDS-nahen Berliner
Bildungsvereins "Helle Panke" nahm Zwerenz am 26.10. Gelegenheit, auf persönliche Beweggründe einzugehen, die ihn zu seiner
heutigen Einstellung veranlassten. Er berichtete von dem anfangs naiven Faible für Leo Trotzki, das mit aus der (von Bronstein mit dem Pseudonym
nicht gemeinten) deutschen Bedeutung des Wortes "Trotz" herrührte, und das ihn dank absoluter Unkenntnis der Gegebenheiten
ausgerechnet in der Bibliothek eines sowjetischen Kriegsgefangenenlagers nach Trotzkis Schriften fragen liess, die er jetzt zu lesen beabsichtige.
Interessant ist Zwerenz heutige Einschätzung Trotzkis als einer Person,
"die wir am ungenauesten zur Kenntnis genommen haben", verbunden mit der Erkenntnis, zugleich habe diese Person offenbar so nachhaltig auf
die Zeitgenossen eingewirkt, dass sie in der Literatur immer wieder direkt oder durch Umschreibungen erwähnt wurde. Es könnte manche
Dissertation vergeben werden, um das genau zu ermitteln. Der Redner bezeichnete es als Kardinalfehler des sowjetischen Sozialismus, weitgehend auch des
Sozialismus im 20.Jahrhundert insgesamt, dass sie diesen großen Revolutionär tabuisiert hätten. Sein Erbe bestehe wesentlich darin, dass
er sowohl Stalins als auch Hitlers Diktatur bekämpft, jedoch zur Unterstützung der Sowjetunion aufgerufen habe, falls Hitlerdeutschland sie
überfallen sollte.
Zur aktuellen Problematik sagte Zwerenz, es sei inakzeptabel, wenn die revolutionären
Traditionen der Arbeiterbewegung ad acta gelegt würden, weil dann ein erfolgreicher Widerstand gegen Rechte und Rechtsextreme, gegen die
reaktionäre Linie in der deutschen Geschichte unmöglich wäre. Die PDS müsse unterstützt werden, aber nur, wenn sie an
diese Traditionen anknüpft und nicht mit um einen Platz in der "neuen Mitte" der BRD-Gesellschaft ringt. Angesichts ihrer Haltung zum
NATO-Krieg gegen Serbien zeigte er sich optimistisch, dass Letztgenanntes nicht eintreten werde.
Zwerenz erklärte zur Zielsetzung der Sozialisten, deren Inhalt müsse der
kategorische Imperativ von Marx sein, "alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein
verächtliches Wesen ist". Trotzkis Fassung des Imperativs finde sich in seinem Testament von 1940. Sie laute: "Das Leben ist schön.
Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen und es voll genießen." Ernest Mandel habe die Ziele antikapitalistisch-
sozialistischer Politik 1985 so beschrieben: "Sozialismus bedeutet weder ein Paradies auf Erden … noch die Herstellung einer perfekten Harmonie
zwischen dem Indidivuum und der Gesellschaft oder zwischen dem Menschen und der Natur. Er bedeutet auch weder das ‚Ende der Geschichte noch
das Ende von Widersprüchen, die die menschliche Existenz charakterisieren. Die Ziele, die von den Anhängern des Sozialismus verfolgt werden,
sind ziemlich bescheiden: nämlich sechs oder sieben Widersprüche aufzuheben, die seit Jahrhunderten menschliches Leid im
Massenmaßstab hervorgerufen haben. Die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, Kriege und Gewalt zwischen den
Menschen sollen ein Ende haben. Hunger und Ungleichheit müssen für immer beseitigt werden. Die institutionalisierte und systematische
Diskriminierung von Frauen und Rassen, von ethnischen Gruppen und nationalen und religiösen Minderheiten, die als ‚inferior betrachtet
werden, muss beendet werden. Es darf keine wirtschaftlichen und ökologischen Krisen mehr geben."* Nach Ansicht von Zwerenz könnte
das unser gemeinsames Programm sein.
Die meisten Diskussionspartner stimmten diesen Ausführungen zu. Sie
ergänzten sie z.T. durch Hinweise auf bleibende Verdienste Trotzkis, die besonders in seiner Stalinismuskritik, seinem Faschismusbild und der
Forderung nach antifaschistischem Kampf durch die Einheitsfront der Arbeiter gesehen werden müssten. Die permanente Revolution sei in Westeuropa
und den USA auf absehbare Zeit nicht aktuell. Doch müsse Entstellungen wie der in den Weißenseer Blättern (Nr.3, 2000)
wiedergegebenen Version entgegengetreten werden, sie habe einen Export der Revolution durch die Rote Armee bedeutet. Der Vertreter einer als
"trotzkistisch" firmierenden Sekte behauptete, dass der Referent auch aus Unkenntnis vieler von Trotzkis Schriften dessen Bild
verzerrt habe. Verdammenswert sei vor allem Zwerenz These, Leo Trotzki würde, lebte er noch, heute auf einen revolutionären Pazifismus
hinsteuern. Der Berichterstatter kann dem nicht folgen. Die Frage, scheint ihm, lautet vielmehr: Welche andere Position zum "großen Krieg"
kann ein humanistisch gesinnter Sozialist oder Kommunist angesichts der vorhandenen und jederzeit einsatzbereiten Vernichtungspotenziale sonst
einnehmen, als die der strikten Kriegsgegnerschaft? Die Position schließt keineswegs aus, weiter revolutionäre Aufstände und
Befreiungsbewegungen unterdrückter Völker zu unterstützen.
Bei sicherlich vorhandenen Meinungsverschiedenheiten mit Zwerenz im Detail ist dessen
Agitation für einen Bruch mit dem Trotzki-Tabu ein Ansatz, die Politik der PDS sozialistisch zu justieren. Zermürbende Auseinandersetzungen
innerhalb der Partei und in ihrem Umfeld könnten dadurch verringert werden. Die Stärke der PDS als immer noch bedeutendster progressiver
Kraft in Deutschland würde erhöht.
Manfred Behrend
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