Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.25 vom 07.12.2000, Seite 7

Auschwitz

Die Moderne und die Barbarei

von Enzo Traverso

Zweifellos gehörten die Techniken moderner Verwaltung und Produktion zu den Voraussetzungen der nationalsozialistischen Massenvernichtung der Jüdinnen und Juden und anderer Barbareien der Moderne. Enzo Traverso, der in Frankreich politische Wissenschaften lehrt, arbeitet in seinem folgenden Beitrag einen differenzierten Blick auf die Moderne heraus, der sich vom idealisierten Modernisierungsbegriff der Neuen Rechten und der Sozialdemokratie abgrenzt. Gegen die "erkenntnistheoretischen Defizite und Affirmationsbestrebungen der etablierten zeitgeschichtlichen Forschung der BRD" (Karl-Heinz Roth, Geschichtslegenden der Neuen Rechten, Köln 1997 — siehe Besprechung in SoZ 6/98) setzt Traverso die kritische Betrachtung der dunklen Seite der Modernisierung.

Der Völkermord an den Juden, der am Ende des Zweiten Weltkriegs ignoriert wurde und fast unsichtbar war, ist im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte ins Zentrum unseres Bilds des 20.Jahrhunderts gerückt. Er hat den Status eines grundlegenden Ereignisses, einer großen historischen Wendemarke bekommen; hinsichtlich seiner Reichweite und dem ihm zugeschriebenen Platz in der Geschichte kann man ihn mit dem Fall des Römischen Reichs, der Reformation oder der Französischen Revolution vergleichen, ohne dass man ihm jedoch im diachronischen Verlauf der Vergangenheit einen analogen Sinn zuschreiben könnte.
Daraus ergibt sich eine riesige Kluft — Primo Levi sprach von einem "schwarzen Loch" — zwischen der Anerkennung und dem Begreifen, zwischen der zentralen Position, die Auschwitz am Ende dieses Jahrhunderts in der mentalen Landschaft einnimmt und der Leere seiner vernünftigen Verstehbarkeit. Das Problem wird häufig mittels entgegengesetzter Herangehensweisen umgangen: Manchmal wird die Shoah in einen überhistorischen Rang erhoben, in einen von der Geschichte befreiten Ort des Gedenkens, der mit dem normativen Dogma der Undurchdringbarkeit umkleidet wird, manchmal wird sie positivistisch historisiert, was Dan Diner den "methodologischen Rückzug auf die Beschreibung von Strukturen" genannt hat. (Immerhin beschaffte uns diese Vorgehensweise einen unverzichtbaren Sockel von Kenntnissen.)
Die Veränderung des historischen Gedächtnisses ging auch mit der Implosion der UdSSR und dem Ende der kommunistischen Parabel einher, die, statt die Idee des Sozialismus aus dem totalitären Eisen zu befreien, sie mit sich gerissen zu haben scheint. Die Desillusionierung und die Verfinsterung der vom Kommunismus getragenen emanzipatorischen Hoffnungen haben das Gefühl der Leere verstärkt und die politische Landschaft verdunkelt. Zu Ende des 20.Jahrhunderts bleibt "eine einzige Katastrophe", ein Haufen von Trümmern in der Mitte des "Fortschritt" genannten Sturms, von dem Walter Benjamin in der These IX seines Werks "Über den Begriff der Geschichte" schreibt, aber ohne dass das "enge Tor" des Messias (der Revolution) sichtbar wäre, das von der liberalen Anti-Utopie verschlossen worden ist. Der Liberalismus scheint aus der "melancholischen Grundstimmung zu Ende dieses Jahrhunderts" (François Furet) als einzig akzeptable Ordnung hervorzutreten.
Trotz einer Unzahl von Monografien sind die Versuche, den Völkermord an den Juden in eine globale historische Interpretation des 20.Jahrhunderts zu integrieren, eher selten. Die marxistische Historiografie, deren bedeutendster Vertreter heute Eric Hobsbawm ist, hat ihn (fast) ignoriert. Die Herangehensweise der konservativen und liberalen Historiker hingegen enthält starke ideologische Züge. Auschwitz wurde als "übersteigerte" Antwort auf die Bedrohung, die der Bolschewismus angeblich für die westliche Zivilisation darstellte, analysiert (Ernst Nolte) oder als vorübergehender Rückfall, parallel zu dem des Kommunismus, beim unaufhaltsamen Voranschreiten des Liberalismus (François Furet).
Trotz ihrer Differenzen teilen diese Interpretationen dieselbe apologetische Haltung gegenüber dem Westen, der entweder als Ausweg für ein auf seinem Weg in die Moderne auf einen "Sonderweg" abgekommenen Deutschland gesehen wird, oder aber als Sammelbecken einer achtbaren nationalistischen Tradition, die von den Nazis auf Abwege geführt wurde (Nolte), oder schließlich als Quelle einer historisch unschuldigen liberalen Ordnung, die fortan als unüberschreitbarer Horizont akzeptiert wird (Furet).
Sicherlich handelte es sich beim Völkermord an den Juden um die extreme Zuspitzung eines jahrhundertealten Antisemitismus, der in Deutschland spezifische Züge angenommen hat; auch die antisemitische Prägung Europas war eine notwendige Vorbedingung. Natürlich war der Nationalsozialismus eine konterrevolutionäre Bewegung, die sich aus der radikalen Gegnerschaft zum Bolschewismus speiste; die "Endlösung" wurde im Rahmen der Planung und Umsetzung eines Kreuzzugs gegen die UdSSR und den Kommunismus ermöglicht. Sicherlich standen Kommunismus und Faschismus aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Methoden in Gegnerschaft zum Liberalismus, denn dieser war ein Kind von 1789 und die Faschisten — Mussolini, Goebbels und Hitler wiederholten es unablässig — wollten die Französische Revolution aus der Geschichte tilgen.
Die drei genannten Interpretationen können sich somit auf unbestreitbare Elemente stützen, sie setzen sie aber auf einseitige Weise in ihre Darstellung des Jahrhunderts ein, woraus sich ein verzerrtes Bild ergibt. Eigentlich gibt es für sie, abgesehen vom Antisemitismus, keine Vorgeschichte von Auschwitz. Unsere Studie möchte nicht auf die genannten Aspekte — den Antisemitismus, den Antikommunismus und den Antiliberalismus — eingehen, die heute im Zentrum der Diskussion stehen und über die seit mehreren Jahren umfänglich geforscht wird. Vielmehr versucht sie, das Augenmerk auf die tiefe Verankerung des Genozids an den Juden im liberalen Europa des 19.Jahrhunderts zu lenken: dem Europa des industriellen Kapitalismus, des Kolonialismus und Imperialismus, dem Europa der aufstrebenden Wissenschaften und modernen Techniken, dem Europa des "langen" 19.Jahrhunderts, das auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zu Ende ging.

Vom Henker zur Guillotine

Unbestreitbar markiert die Französische Revolution einen historischen Wendepunkt in den Metamorphosen der Gewalt im Okzident. Wir möchten hier nicht zum hundertsten Mal der Kultur der Aufklärung den Prozess machen, um dort die Wurzeln des totalitären Terrors zu entdecken (die volonté générale von Rousseau), noch im Wohlfahrtsausschuss oder im Krieg gegen die Vendée die Vorläufer der modernen Praktiken der Vernichtung aus politischen Gründen nachweisen. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Guillotine als wichtige Etappe im Prozess der Serialisierung der Tötungsarten. So wie die Hinrichtung von Ludwig XVI. das Ende des ancien régime symbolisiert, so kündigt die Guillotine das Heraufziehen der Moderne in der Kultur und Praxis des Todes, der Einrichtung neuer Formen der staatlichen Gewalt an.
Unter diesem Gesichtspunkt ist es durchaus von Interesse, die Guillotine mit der Todesstrafe im ancien régime zu vergleichen, deren öffentliches Ritual von Joseph de Maistre in seinem Buch Abendstunden zu St. Petersburg mit Nostalgie und feierlicher Geste beschrieben worden ist. Der Aristokrat aus Savoyen zeichnete dort ein gleichzeitig erschreckendes und bewunderndes Bild des Henkers, den er in den Rang eines Pfeilers der traditionellen Ordnung erhob. Er beschrieb seine Ankunft auf dem Schafott, die schweigende und bebende Menge, das schreckensbleiche Gesicht des Verurteilten, den Mund, "weit geöffnet wie ein Glutofen", seine Schreie, seine Knochen, die unter der Keule zerschmettern, das herausspritzende Blut, der bluttriefende Henker und die erschauernde Menge, die auf ihn blickt.
Maistre bezeugte Respekt für jene Figur, die scheinbar so wenig ehrbar und für die Gesellschaft dennoch unabkömmlich war, vor der man voller Verachtung floh, die man aber als unersetzlichen weltlichen Arm der Autorität, einer transzendenten göttlichen Ordnung, die Unterwerfung und Gehorsam verlangen konnte, fürchtete und akzeptierte: "Gott, der der Urheber der Souveränität ist, ist also auch der Urheber der Strafe." In den Augen von Maistre nahm der Henker die Züge eines "außergewöhnlichen Geschöpfes" an und gleichzeitig verkörperte er den "Schrecken und das Band der menschlichen Gesellschaft".
In einem bemerkenswerten Essay, den Isaiah Berlin dem Konterrevolutionär aus Savoyen gewidmet hat, hat er die Modernität von dessen Sicht des Henkers betont. Die "Fassade" von Maistres Schriften sei sicherlich klassisch, doch ihr innerer Kern sei schrecklich modern, es ist ganz einfach die Vision einer auf dem Terror gegründeten politischen Ordnung, die die politischen Totalitarismen des 20.Jahrhunderts zu verwirklichen versucht haben.
Die Kraft von Maistres Werk rührt eben aus seiner Mischung aus Modernität und Obskurantismus, seiner visionären Vorwegnahme eines Reichs des Nihilismus, in der es keinen Platz mehr für Humanität, Vernunft und Fortschritt gibt; diese Darstellung ist in eine mittelalterliche Apologie der göttlichen Ordnung und des ancien régime eingebettet. Als ein Jahrhundert später die Gegenaufklärung ihr Bündnis mit der modernen Technik einging, führte die Mischung aus archaischen Mythologien und einem zerstörerischen Nihilismus schließlich in den Faschismus.
Obgleich wir die These von Berlin in mehrfacher Hinsicht für zutreffend halten, interessieren wir uns hier eher für die "Oberfläche" von Maistres Argumentation. Die Modernität seiner Vision einer auf dem Terror beruhenden Ordnung versteckt sich hinter einer Sakralisierung und Heroisierung des Henkers, die bei genauerer Betrachtung schon anachronistisch war, als der Exilant aus Savoyen seine Abendstunden zu St.Petersburg schrieb.
Im Verlauf der Revolution hörte der Henker auf, der absolute Meister der Strafzeremonie zu sein, und wurde durch ein neues Symbol der Souveränität ersetzt: durch die Guillotine. Der schreckliche Henker mit seinem königlichen Richtbeil verließ die Szene; seine Rolle wurde nunmehr von einer Maschine übernommen, deren einfaches Anhängsel er wurde, als Techniker und Arbeiter. Das neue Symbol der demokratischen Justiz war nun eine technische Vorrichtung zum Köpfen.
Mit der Guillotine tritt die industrielle Revolution in den Bereich der Todesstrafe ein. Die Hinrichtung wird mechanisiert und geht in Serie; sie hörte bald auf, ein Spektakel zu sein, eine Liturgie des Leidens, und wurde ein technischer Vorgang der unpersönlichen, effizienten, stillen, schnellen Tötung am Fließband; Foucault hat von einer "neuen Ethik des legalen Tötens" gesprochen. Das schließliche Resultat sollte die Entmenschlichung des Todes sein.
Die Geschichte der Guillotine stellt eine bemerkenswerte Illustrierung der Dialektik der Vernunft dar. Sie war das Ergebnis einer breiten Diskussion in der Gesellschaft, in der die Mediziner eine herausragende Rolle gespielt haben, und sie beendete ein Jahrhundert des Kampfes der Philosophen gegen die Unmenschlichkeit der Folter. Jahrhundertelang hatten die Monarchien und die Kirche alle Mühen darauf verwandt, die Hilfsmittel der Folter immer ausgefeilter zu machen, damit die Schmerzen der Verurteilten zunahmen. Die Guillotine verkürzte die Hinrichtung auf einen einzigen Augenblick und beseitigte das physische Leiden des Verurteilten fast völlig; sie wurde daher als Fortschritt in der Menschlichkeit und der Vernunft begrüßt.
Die Massenhinrichtungen im Jahr II der Revolution, einer der Gründe für die Ablehnung des Terrors durch die Bevölkerung, die des Blutzolls überdrüssig war, zeigten alsbald die Auswirkungen der Rationalisierung und Mechanisierung des Systems der Hinrichtung. Die Aufstellung der Guillotine markierte auch die "Emanzipation" des Henkers, der seine düstere Aura verlor, sich in einen einfachen Bürger verwandelte und ab 1790 wählbar wurde.
So begann ein Prozess, dessen Ergebnis gut ein Jahrhundert später von Kafka illustriert wurde. Im Mittelpunkt seiner Erzählung "In der Strafkolonie" steht eine Maschine, die zugleich bestraft und hinrichtet; der mit ihrer Wartung beauftragte Offizier beschreibt bewundernd ihre Charakteristiken, ihre Funktionen, ihre technische Perfektion. In seiner Indifferenz gegenüber dem Los der Verurteilten und seiner völligen Unterordnung unter die Maschine/den Apparat — das Urteil wird von ihr in den Körper der Verurteilten eingeschrieben — ist dieser bornierte Offizier zum jederzeit ersetzbaren Ausführungsorgan einer einfachen technischen Aufgabe geworden.
Der Apparat tötet; der Handlanger beschränkt sich darauf, ihn zu überwachen. Die Exekution wird eine technische Operation, der Diener der Maschine ist nur für ihre Wartung zuständig: es handelt sich somit um eine Arbeit ohne Subjekt. Der Henker ist nun nicht mehr Verteidiger der göttlichen Ordnung, er verkörpert kein Symbol, er vollzieht keine öffentliche Zeremonie mehr, er ist nur noch ein Teilchen in einem Prozess des Tötens, dessen instrumentelle Rationalität ihn jeder Einzigartigkeit beraubt. Die Guillotine inauguriert eine neue Ära, die von einer schweigenden und anonymen Armee von kleinen Funktionären der Banalität des Bösen bewohnt wird, die nach Gesetzeslage immer unschuldig sind und denen man "Engstirnigkeit" abverlangt, damit sie ihre Aufgaben gut erfüllen können.

Menschen unter Maschinen

Foucault hat den Prozess analysiert, durch den im Verlauf des 19.Jahrhunderts das "Fest der Strafe" der verborgenen Hinrichtung, die dem Blick des Publikums entzogen wird, und der Institution des Kerkers als geschlossenem Ort, als einem Laboratorium des "technischen Zwangs gegen die Individuen", die vorher unbekannt waren, Platz macht. In den westlichen Gesellschaften setzt sich das Prinzip der Einschließung durch. Der Geburt des modernen Gefängnisses entspricht die Schaffung von Häusern der Zwangsarbeit für die "schädlichen Vagabunden" und die Armen, ja während der industriellen Revolution im viktorianischen England sogar der workhouses für Kinder.
In dieser Zeit werden die Kasernen modernisiert, die nun nicht mehr einer aus dem Adel stammenden militärischen Elite reserviert sind, sondern den Armeen des demokratischen Zeitalters angepasst werden, nachdem die levée en masse (Massenerhebung) von 1793 ihre Durchschlagskraft gezeigt hatte.
Es ist auch die Zeit des Aufschwungs der Manufakturen und dann der Fabriken, alles Orte, die vom gleichen Prinzip der Einschließung, der Disziplin der Zeit und des Körpers, der rationellen Teilung und Mechanisierung der Arbeit, der Unterordnung der Menschen unter die Maschinen dominiert sind. Alle diese gesellschaftlichen Institutionen tragen die Spuren der "Degradierung" der Arbeit und des Körpers, wie sie dem Kapitalismus innewohnen.
Im Kommunistischen Manifest hatten Marx und Engels den Prozess der Transformation des Arbeiters in ein "Zubehör" der Maschine beschrieben, die ihm ihren Produktionsrhythmus aufzwingt und nur den "einfachste[n], eintönigste[n], am leichtesten erlernbare[n] Handgriff" verlangt. Wenn auch der Abstand von den Arbeitshäusern des 19.Jahrhunderts zu den Konzentrationslagern unermesslich bleibt (sowohl hinsichtlich der Insassen wie auch dem Zweck des Unternehmens), so sind doch bestimmte Prinzipien, die in den beiden Einrichtungen vorherrschen, sich durchaus ähnlich: die Abgeschlossenheit des Ortes, die Zwangsarbeit, die militärische Art der Kontrolle, die Bestrafungen, das völlige Fehlen von Freiheit, die unmenschlichen Lebensbedingungen.
Im Kommunistischen Manifest hatten Marx und Engels die Disziplin in einer kapitalistischen Fabrik mit der in einer Armee und den Arbeiter mit einem Soldaten verglichen; im Kapital beschrieb Marx die englischen Arbeitshäuser der industriellen Revolution als "den großen herodischen Kinderraub". Er zitierte diesbezüglich einen Bericht der Epoche, der die Folgen der Arbeit der eingesperrten Kinder schilderte: "sie wurden gepeitscht, gekettet und gefoltert mit dem ausgesuchtesten Raffinement von Grausamkeit". In diesen Einrichtungen des viktorianischen (und liberalen) England haben einige Historiker Vorformen der Konzentrationslager der modernen Totalitarismen gesehen.
Sofern die Guillotine den ersten Schritt zu einer serienmäßigen Praxis des Tötens darstellt, stellt Auschwitz im Zeitalter des tayloristischen Kapitalismus den Epilog dar. Doch es gibt einen langen Übergang; zwischen dem mechanischen Fallbeil der Hinrichtungen nach 1789 und der industriellen Vernichtung von Millionen menschlicher Wesen in den Nazi-Lagern gibt es zahlreiche Zwischenetappen.
Die wichtigste war in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts wahrscheinlich die Rationalisierung der Schlachthöfe. Zuvor befanden sie sich in den Innenstädten; nun wurden sie an den Stadtrand verlegt. Diese Verlegung ging mit ihrer Rationalisierung einher; nun begannen sie, wie richtige Fabriken zu funktionieren. Dies gilt für die Schlachthöfe von La Villette bei Paris, die von Haussmann entworfen und 1867 eingeweiht wurden. Dies gilt besonders für die Schlachthöfe von Chicago, die binnen weniger Jahrzehnte einen beeindruckenden Aufschwung nahmen.
Die Tiere wurden nun am laufenden Band gemäß einer konsequent rationalisierten Vorgehensweise verwertet: Zuerst wurden sie in den Ställen gesammelt, dann getötet, dann erfolgte die Reinigung, dann wurde das Tier in die verschiedenen Teile zerlegt, eingefroren, transportiert, gekocht usw. In The Jungle (Der Sumpf), einem naturalistischen Roman, der um dieselbe Zeit entstand wie Max Webers Essay über die protestantische Ethik, beschrieb der US-amerikanische Schriftsteller Upton Sinclair die Schlachthöfe von Chicago als "großen Metzger: die Fleischwerdung des Geistes des Kapitalismus".
Wir wissen nicht, ob Hitler die Schlachthöfe im Kopf hatte, als er die Entscheidung zur "Endlösung" traf, aber die Architekten, die Ingenieure, die Chemiker und die Techniker, die die Vernichtungslager organisiert haben, haben sie nach jenem Modell berechnet. Sie haben sie als Todesfabriken angelegt, die dem Blick der Zivilbevölkerung entzogen waren und wo die Serienproduktion von Waren durch die Produktion und mechanische Eliminierung von Leichen ersetzt war. Das System des Mordens folgte dem Prinzip rationeller Arbeitsteilung und wurde in mehrere Etappen eingeteilt — die Zusammenführung, die Deportation, der Raub der Güter der Opfer (Geld, Kleider, Schuhe, Koffer, Brillen), die Verwertung einiger Teile der Körper (Haare, Goldzähne), die Vergasung und die Einäscherung der Leichen —, um die Rendite zu erhöhen.
Die in den Vernichtungslagern Verantwortlichen hatten im Übrigen keinerlei Mühe, in ihnen eine typisch industrielle Struktur zu erkennen; ein SS-Arzt hatte eine exakte Definition gegeben: "am laufenden Band". Der jüdisch-deutsche Philosoph Siegfried Kracauer sollten in seinem Buch Theorie des Films einer der ersten sein, der die Analogie zwischen den Schlachthöfen und den Todeslagern sah. Durch einen Vergleich von Dokumentarfilmen über die Nazi-Lager mit einem Film wie Le sang des bêtes (Das Blut der Tiere) von Georges Franju erkannte er denselben methodischen Charakter des Tötungsablaufs und die gleiche geometrische Organisation des Raums.
Auschwitz weist also, dank des industriellen Verfahrens des Tötens, wesentliche Ähnlichkeiten mit einer Fabrik auf, wie das durch seine Architektur mit ihren Schornsteinen und den in symmetrischen Kolonnen angeordneten Barackenbauten, sowie durch seinen Standort mitten in einer Industriezone und in der Nähe eines wichtigen Eisenbahnknotenpunkts deutlich gemacht wird. Produktion und Vernichtung durchdrangen sich, als sei das Massaker (die Gaskammern in Birkenau) nur eine besondere Form der Produktion gewesen, gleich der Herstellung von synthetischem Kautschuk, wofür das Lager Auschwitz III (Buna-Monowitz) errichtet worden war.
Die Tote produzierende Fabrik gehörte zum System der Vernichtungslager, die, wie jede Fabrik, über eine rationelle Verwaltung verfügte, die auf den Prinzipien der Kalkulierbarkeit, der Spezialisierung, der Teilung der Aufgaben in eine Reihe von dem Schein nach unabhängigen, aber koordinierten Teiloperationen beruhte. Die Agenten des bürokratischen Apparats kontrollierten nicht den Prozess in seiner Gesamtheit, und wenn sie vom Endzweck wussten, so konnten sie sich immer sagen, dass sie dafür keinerlei Verantwortung trugen, weil die beschränkte und partielle Funktion, die sie zu erfüllen hatten, überhaupt nichts Kriminelles an sich hatte.
Max Weber hatte in der moralischen Indifferenz einen konstitutiven Grundzug der modernen Bürokratie gesehen, die spezialisiert und daher unersetzlich, aber von ihren Arbeitsmitteln getrennt und dem Endzweck ihres Handelns entfremdet ist. In Wirtschaft und Gesellschaft zeichnete er folgendes Porträt: "Die Bürokratie in ihrer Vollentwicklung steht in einem spezifischen Sinn auch unter dem Prinzip des ‚sine ira ac studio‘. Ihre spezifische, dem Kapitalismus willkommene, Eigenart entwickelt sie um so vollkommener, je mehr sie sich ‚entmenschlicht‘, je vollkommener, heißt das hier, ihr die spezifische Eigenschaft, welche ihr als Tugend nachgerühmt wird, das hier, die Ausschaltung von Liebe, Hass und allen rein persönlichen, überhaupt aller irrationalen, dem Kalkül sich entziehenden, Empfindungselementen aus der Erledigung der Amtgeschäfte gelingt."
Die Verkörperung dieser eigentlichen Tendenz zur instrumentellen Rationalität der westlichen Welt ist der "Fachmann", der "ganz sachlich" und gleichzeitig "indifferent gegenüber den menschlichen Geschäften" handelt.
Raul Hilberg, der wichtigste Historiker der Vernichtung der europäischen Juden, hat die Bürokratie der "Endlösung" in strikt weberschen Begriffen beschrieben: "Die meisten Bürokraten verfassten Denkschriften, entwarfen Durchführungsbestimmungen, unterschrieben Briefe, telefonierten und nahmen an Besprechungen teil. Sie konnten ein ganzen Volk vernichten, ohne ihren Schreibtisch zu verlassen. Mit Ausnahme von Inspektionsreisen, die nicht obligatorisch waren, mussten sie niemals ‚100 Leichen daliegen sehen, oder 500, oder 1000‘. Gleichwohl waren diese Männer nicht naiv; sie kannten den Zusammenhang zwischen ihrer Papierarbeit und den Leichenbergen im Osten. Und sie erkannten auch die Unzulänglichkeit jener Rationalisierungen, die alles Schlechte den Juden und alles Gute den Deutschen zuwiesen. Deshalb sahen sie sich genötigt, ihre individuellen Aktivitäten zu rechtfertigen."
Die Rechtfertigungen, die sie in den Prozessen der Nachkriegszeit für ihr Handeln vortrugen, bestätigten nur die wesentlichen Prinzipien der administrativen Sittenlehre: die Respektierung von Befehlen, die als "Schicksal" aufgefasste Pflicht, die banale Natur ihrer Tätigkeit, die an sich nichts Kriminelles auf sich hatte, schließlich die begrenzte Tragweite ihres Handelns, das nur im Rahmen eines viel größeren Ganzen Sinn machte, das sie kennen, aber nicht beherrschen konnten.

Kult der modernen Technik

Im Jahre 1942 skizzierte der im Exil in den USA lebende deutsche Philosoph Karl Korsch eine historische Interpretation der Gewaltakte des Krieges, die die globale Entwicklung des Okzidents in Frage stellte. In seinem Essay "Notes on History" schrieb er: "Die Neuheit der totalitären Politik ergibt sich aus der Tatsache, dass die Nazis auf die ‚zivilisierten‘ europäischen Völker die Methoden ausgeweitet haben, die bisher den ‚Eingeborenen‘ und den ‚Wilden‘ vorbehalten waren, die außerhalb der sogenannten Zivilisation lebten."
In ihrem Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das 1951 veröffentlicht wurde, aber auch Texte enthielt, die in den Kriegsjahren geschrieben worden waren, deutete Hannah Arendt den europäischen Imperialismus als eine für die Entstehung des Nationalsozialismus wesentliche Etappe. Die Gewaltakte des 19.Jahrhunderts in den Kolonien schienen ihr eine Vorbedingung für die von den Nazis an Europäern und vor allem an den Juden begangenen Verbrechen zu sein, die Opfer eines Völkermords wurden, der als Projekt rassischer Säuberung konzipiert war.
Im zweiten Teil des Buches, der den Titel "Der Imperialismus" trägt, beschreibt sie die Politik kolonialer Herrschaft im 19.Jahrhundert als eine erste Verbindung von Massaker und Verwaltung, wovon die Nazilager in ihren Augen die entwickelte Form darstellten. Der moderne Rassismus, der sich im Namen der Wissenschaft rechtfertigt, und die Bürokratie, die Max Weber als die perfekteste Verkörperung der westlichen Rationalität interpretiert hatte, sind getrennt entstanden, haben aber eine parallele Entwicklung genommen. In Afrika sind sie aufeinander getroffen: die Eroberung jenes Kontinents, die ein bis dahin unbekanntes Potenzial von Gewalttätigkeit hervorbrachte, wurde dank moderner Waffen umgesetzt und von der militärischen und zivilen Bürokratie geplant.
Arendt verwendete diesbezüglich die griffige Formel "Verwaltungsmassenmord", der für sie die Vernichtungslager der Nazis vorwegnahm. In anderen Worten, die methodische Dezimierung der eingeborenen Bevölkerung, die mit der Errichtung administrativer Strukturen der Kolonialmacht einhergegangen war, erschien ihr als ein Laboratorium des Nationalsozialismus.
Der Krieg gegen die UdSSR bietet eine beredte Illustration jener Kontinuität, die Hitlers Weltanschauung mit dem europäischen Kolonialismus des 19.Jahrhunderts verbindet. Der deutsche "Blitzkrieg" von 1941 fasste alle Ziele der Nazis zusammen, in denen der Wille, die UdSSR und den Kommunismus zu beseitigen, untrennbar mit der Ausrottung einer als "schädlich" beurteilten "Rasse" — den Juden (in Hitlers Augen der Kopf der internationalen kommunistischen Bewegung) — und der Eroberung von "Lebensraum" für Deutschland im Osten Europas verbunden waren. Die Welt der Slawen sollte unterworfen und kolonisiert werden und sich so in eine Art "deutsches Indien" verwandeln; die Bevölkerung — die "Eingeborenen" — sollten mittels Vernichtungsmethoden unterworfen werden, wie sie die USA gegen die Indianer eingesetzt haben.
Die Versklavung der slawischen Völker und die Vernichtung der Zigeuner und vor allem der Juden waren als verschiedene Aspekte eines Prozesses konzipiert, für die die Eroberungen der europäischen Kolonialmächte in Afrika und Asien, aber auch die Indianerkriege im amerikanischen Westen das Modell darstellten. Sie gehörten zu einer historischen Linie, in der die Nazi-Politik als Ausdruck eines verspäteten Imperialismus ihre Rechtfertigung und ihren natürlichen Platz fand.
In diesem Zusammenhang müssen wir darauf hinweisen, dass der Begriff "Lebensraum" keine Erfindung der Nazis war. Er war 1901 im wilhelminischen Kaiserreich vom deutschen Geografen Friedrich Ratzel geprägt worden und gehörte, lange vor der Entstehung des Nationalsozialismus, zum Vokabular des deutschen Nationalismus. Als Verschmelzung von Sozialdarwinismus und imperialistischer Geopolitik ergab er sich aus einer Sicht der außereuropäischen Welt als kolonisierbarem Raum, der biologisch höherstehenden Gruppen reserviert sein sollte.
Ratzel hatte schon 1897 in seiner Politischen Geographie die Juden und Zigeuner mit den Afrikanern auf eine Stufe gestellt, die natürlich als minderwertige Rasse dargestellt wurden. Im wilhelminischen Deutschland inspirierte die Idee vom Lebensraum verschiedene Strömungen des Pangermanismus und begründete die häufig erhobene Forderung nach einer "Weltpolitik", die Deutschland einen international mit Frankreich oder Großbritannien vergleichbaren Platz sichern sollte.
Dass dies zu einer Politik kolonialer Expansion Richtung Osten, in die von den slawischen Untermenschen bevölkerten Gebiete führen konnte, war seit Ende des 19.Jahrhunderts für viele deutsche Nationalisten nur zu offensichtlich. Nach der Niederlage im Krieg und den Deutschland durch den Versailler Vertrag aufgezwungenen Gebietsabtretungen wurde diese Forderung vom Nationalsozialismus wieder aufgegriffen und radikalisiert. Zu Beginn der 20er Jahre hatte der völkische Schriftsteller Hans Grimm großen Erfolg mit seinem Roman Volk ohne Raum.
Dieser wichtige Aspekt des Nationalsozialismus ist bis heute nicht zureichend studiert worden. Neben einer umfassenden Bibliografie zur Geschichte des Antisemitismus in Deutschland und zu den ideologischen Vorläufern und theoretischen Ideengebern Hitlers — von Richard Wagner bis Arthur Moeller van den Bruck, von Wilhelm Marr bis Houston Stewart Chamberlain —, finden sich recht wenig Arbeiten, die die Naziverbrechen im Licht der Kultur und Praktiken von Europäern und Deutschen in den Kolonien zu beleuchten suchen. Der Akzent wird so — ausgehend von der Feststellung der Singularität des Völkermords an den Juden — auf die spezifischen Charakterzüge des deutschen Antisemitismus und nicht auf seine Verwurzelung in einer Theorie und Praxis der Vernichtung der "minderwertigen Rassen" gelegt, die sicherlich weniger radikal und vor allem nie als "total" konzipiert war, die aber dennoch das gemeinsame Los der westlichen Imperialismen darstellt.
Wir brauchen hier nicht die Metamorphosen des Rassismus im 19.Jahrhundert nachzuzeichnen, von der ersten "wissenschaftlichen" Systematisierung eines Gobineau — die Hierarchisierung der menschlichen Rassen, die Sicht der Vermischung als Quelle der Degenerierung der höheren Völker und der Dekadenz der Zivilisation — zu den späteren Elaboraten eines Georges Vacher de Lapouge oder eines Houston Stewart Chamberlain, deren Schriften bereits tief vom Sozialdarwinismus, der medizinischen Anthropologie, der Eugenik und der Rassenbiologie verseucht sind. Die Rassisten zu Ende des 19.Jahrhunderts bekämpften die resignierte Haltung eines Gobineau angesichts der "Dekadenz" des Westens — eine Haltung, in der Arendt eine Projektion des Niedergangs des europäischen Adels sehen wollte — und verkündeten ihre Therapien der "Verbesserung" (die "natürliche Zuchtwahl" der Rassen, die Vernichtung besiegter Völker als "Naturgesetz" der historischen Entwicklung), die in der kolonialen Welt ihr wichtigstes Versuchsgebiet finden sollten.
Jener Wille rassischer "Verbesserung", jenes Bestreben zugunsten einer neuen Weltordnung und neuer Herrschaftsverhältnisse zwischen den Menschen führten zum Übergang von der Ideologie der Dekadenz zum Vitalismus, von der Apologie der traditionellen Ordnung zum Kult der modernen Technik als Quelle der Eroberung und der Macht, mit anderen Worten zum Übergang vom Konservatismus zum Faschismus. Der biologische Rassismus und der Kolonialismus nahmen einen parallelen Aufschwung, in dem sich zwei sich ergänzende Diskurse überlagerten: die "zivilisatorische Mission" Europas und die "Vernichtung der minderwertigen Rassen", oder in anderen Worten die Eroberung durch Vernichtung.
Im Jahre 1876 ließ sich König Leopold von Belgien, der bald persönlicher Besitzer von Zwangsarbeitslagern zur Gewinnung von Kautschuk sein sollte, in denen hunderttausende von Kongolesen umkamen (und die für die deutschen Kompanien in Kamerun, die portugiesischen in Angola und die französischen in Kongo-Brazzaville als Modell dienen sollten) zu einer berühmten Lobrede auf den Kolonialismus hinreißen, in der man alle Gemeinplätze des eurozentrischen Geistes des 19.Jahrhunderts finden kann: "Der Zivilisation den einzigen Teil der Erdkugel öffnen, in den sie noch nicht gedrungen ist, die Finsternis durchstoßen, die ganze Bevölkerungen umhüllt, das ist, ich wage es zu sagen, ein Kreuzzug, der dieses Jahrhunderts des Fortschritts würdig ist."
Carl Schmitt zitierte diese Stelle in Der Nomos der Erde und interpretierte sie als Höhepunkt des Jus Publicum Europaeum, von dem das Völkerrecht in seinen Augen nur eine einfache Ausweitung sein sollte und das die Eroberungskriege in Afrika ganz natürlich autorisierte. Im Namen derselben Prinzipien und im gleichen Kreuzzugsgeist rechtfertigte Mussolini 1935 die italienische Invasion in Äthiopien und Hitler 1941 den deutschen Angriff auf die Sowjetunion.
In der Kultur des europäischen Kolonialismus wurden zivilisatorische Mission, Recht auf Eroberung und Praxis der Vernichtung häufig Synonyme. 1864 theoretisierte Winwood Reade, Mitglied der Anthropological Society von London, die Aufteilung Afrikas zwischen Frankreich und Großbritannien. Unter europäischer Oberhoheit, so meinte er, würden die Schwarzen die afrikanischen Wüsten bewässern; wenn diese Aufgabe erfüllt wäre, würden sie wie eine überlebte Art, die nun unnütz geworden ist, verschwinden. Reade schloss sein Werk Savage Africa wie folgt: "Wir müssen dem mit Fassung entgegen sehen. Es ist eine Wohltat der Natur, dass die Schwachen stets von den Starken verschlungen werden."
Diese Konzepte wurden keineswegs nur in gelehrten Kreisen vertreten; vielmehr prägten sie die politische Sprache der Epoche tief. Im Jahre 1898 teilte der britische Premierminister Lord Salisbury die Nationen der Welt in zwei Kategorien ein: "die Lebenden und die Sterbenden". Hannah Arendt zitiert eine flammende Rede von Wilhelm II. vor einem deutschen Expeditionskorps, das 1900 mit der Niederschlagung des Boxeraufstands in China beauftragt wurde: "Wie die Hunnen unter Attilas Führung vor tausend Jahren einen Ruf erlangt haben, durch den sie in der Geschichte immer noch leben, so soll der deutsche Name in China derart bekannt werden, dass es kein Chinese je wieder wagen wird, einen Deutschen scheel anzusehen." Eine solche Prosa wäre gegenüber einer europäischen Nation undenkbar gewesen, sie entsprach aber den von allen Kolonialmächten angewandten Praktiken.
Nach 1861 verschwanden über 600000 Algerier infolge der französischen Politik der systematischen Zerstörung der traditionellen Ökonomie, die General Lapasset in einer lapidaren Formel beschrieben hatte: "Diebstahl und Plünderung". Das Volk der Herero in Namibia, das Anfang 1904 über 80000 Menschen zählte, war nach dem deutschen Feldzug gegen sie am Ende des Jahres auf 8000 zusammengeschmolzen; es erfolgten damals systematische Maßnahmen der Verfolgung, Zerstörung und Deportation in die Wüste, die einige Historiker als "bewusste Völkermordpolitik" eingestuft haben.
Doch wir können noch weiter zurückgehen. Diese Massaker ereigneten sich auf dem Höhepunkt des Kolonialismus, nach dreieinhalb Jahrhunderten des Handels mit schwarzen Sklaven, durch den über zehn Millionen Menschen von Afrika nach Amerika geschafft wurden. Wie schrieb doch Montesquieu in Der Geist der Gesetze: "Da die Völker Europas die Völker Amerikas ausgerottet hatten, mussten sie die Völker Afrikas zu Sklaven machen, um sie zur Urbarmachung so großer Gebiete zu benutzen."
Der Prozess der massiven Deportation der Bevölkerung von einem Kontinent zum andern zeigt Züge, die ihn vom Völkermord an den Juden unbestreitbar unterscheiden. Trotz einer sehr hohen Todesrate bei der Verschiffung über den Atlantik (ungefähr zwei Millionen Opfer) hatte der Sklavenhandel vor allem einen wirtschaftlichen Hintergrund: Man wollte Arbeitskräfte hinüberschaffen und der Rassismus hatte die Funktion, die Sklaverei zu rechtfertigen. Die Deportation der Juden hingegen erfolgte mit dem Zweck ihrer Vernichtung im Rahmen eines Verfolgungs- und Mordsystems, das durch seine grundlegende ökonomische Irrationalität gekennzeichnet war.
Trotz dieses Unterschieds und trotz der großen Verschiedenheit der historischen Kontexte erinnern einige Modalitäten des Sklavenhandels durchaus an die "Endlösung". Die Kennzeichnung der Sklaven zum Zeitpunkt ihres Kaufs wie die Kennzeichnung der Häftlinge nach ihrer Ankunft im Lager Auschwitz — die Negierung ihrer individuellen Identität, der Verlust des Namens und die Verdinglichung der Körper — gehören zur gleichen Verneinung der Humanität, die die Geschichte des Okzidents durchzieht. Diese Kontinuität setzt weder die Nachahmung eines Modells noch die bewusste Reproduktion sich ähnelnder Praktiken voraus, sondern ist in den gleichen kulturellen Code eingeschrieben.
Die Vorgaben der Deportation, die Maßnahmen der Entmenschlichung und die Pläne der rassischen Vernichtung sind also von Hitler nicht erfunden worden; sie gehen auf viel ältere Ideen zurück, die in der Geschichte des westlichen Imperialismus tief verankert sind. Dass der Nationalsozialismus als erster im Zentrum Europas gegen Nationen der alten Welt und vor allem gegen ein Volk, das seinen Ursprung in der westlichen Zivilisation hatte, eine Vernichtungspolitik betrieb, kann diese Ahnenreihe nicht ungeschehen machen.
Wir möchten hier nicht die Kluft — die riesig ist — zwischen den kolonialen Massakern und dem Völkermord an den Juden kleinreden, sondern — ohne in die Falle einer kausalen Erklärung zu gehen — nur auf eine Verwandtschaft, eine Kontinuität, eine Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Geschichte erkennen, in der die früheren Ereignisse die späteren erhellen und so den Charakter von Vorläufern annehmen.

Krieg nach dem Vorbild der tayloristischen Fabrik

Der Erste Weltkrieg, der erste wirklich "totale Krieg" des demokratischen Zeitalters und der Massengesellschaft, stellte mit seinen 13 Millionen Opfern einen entscheidenden Schritt in der Entwicklung der Gewalttätigkeiten des 20.Jahrhunderts dar. Im August 1914 wurde er in den meisten europäischen Hauptstädten als lang erwartete Gelegenheit, die nobelsten Werte des Daseins — Männlichkeit, Kraft, Mut, Heldentum und Patriotismus — im schöpferischen Geist der Nation neu zu begründen, freudig begrüßt; doch er stürzte die Alte Welt in die Barbarei des 20.Jahrhunderts. Die patriotische Trunkenheit machte der Erfahrung des modernen Horrors des massenhaften anonymen Todes, des industriellen Massakers, der bombardierten Städte und der verwüsteten Landschaften Platz.
Im Gegensatz zum mythischen Bild des Heroen proletarisierten sich die Soldaten und verwandelten sich in militarisierte Arbeiter im Dienst einer Kriegsmaschine. Der Soldat wurde seiner Individualität — der des alten Kriegers — beraubt und einer militärischen Disziplin unterworfen, die mit der einer Fabrik durchaus vergleichbar war. Dem "Massenarbeiter" der fordistischen Fabrik entsprach der "Massensoldat" der modernen Armee. Die Hierarchie, der Gehorsam, die Ausführung von Befehlen, die Aufteilung der Aufgaben machten den Soldaten unfähig, die Globalstrategie zu beherrschen, zu der er gehörte. Er machte Krieg wie ein Arbeiter am Fließband produziert, in einem Kontext, in dem der Kampf jede epische Dimension verlor und sich in eine geplante Massentötung verwandelte.
Die Armee entwickelte sich ihrerseits in ein rationelles, hierarchisches, bürokratisiertes und mechanisiertes Unternehmen mit einer Koordination der verschiedenen Bereiche und einer funktionalen Aufgabenteilung. Marx hatte, wie wir oben gesehen haben, die Industriearbeiter des 19.Jahrhunderts mit Soldaten verglichen; während des Ersten Weltkriegs wurde dieses Modell nun umgestürzt: die Prinzipien der tayloristischen Fabrik wurden nun von der Armee übernommen. 1918 betonte Max Weber die gemeinsamen Züge der staatlichen Verwaltung, der Fabrik und der Armee in den modernen Gesellschaften. Die Offizierskaste, so schrieb er, wurde bürokratisiert; der Offizier ist nur noch "eine Sonderkategorie des Beamten im Gegensatz zum Ritter, Kondottiere, Häuptling oder homerischen Helden".
In drei Bereichen zeigte er die gleiche "Trennung des Arbeiters von den sachlichen Betriebsmitteln: den Produktionsmitteln in der Wirtschaft, den Kriegsmitteln im Heer, den sachlichen Verwaltungsmitteln in der öffentlichen Verwaltung". Schließlich führte er das Beispiel russischer Soldaten an, die nicht mehr kämpfen wollten, aber durch "die Verfügungsgewalt von Leuten" ebenso in den Schützengraben hineingezwungen wurden, "wie der kapitalistische Besitzer der wirtschaftlichen Betriebsmittel die Arbeiter in die Fabriksäle und Bergwerkschächte" zwingt.
Die Schlacht ändert ihr Gesicht; die raschen und gewaltigen Zusammenstöße der militärischen Feldzüge des 19.Jahrhunderts werden durch den Krieg in den Schützengräben ersetzt. Die Offensiven können Monate dauern, sie mobilisieren hunderttausende Soldaten, sie werden von einem umfänglichen logistischen Apparat unterstützt und verwandeln sich fast immer in eine Operation zur geplanten Zerstörung des Feindes. Der Krieg wird zu einer Form industrieller Vernichtung. Unter diesen Bedingungen wird der Tod banal. Er verliert seinen epischen Charakter — der Tod "auf dem Felde der Ehre" — und wird zu einem typisch modernen Tod in der anonymen Masse. Der Feind wird entmenschlicht und unsichtbar, er ist in der Nähe, aber im Schützengraben verborgen. Häufig kommt der Tod nicht mehr von einem Feind aus Fleisch und Blut, sondern einer feindlichen, fremden, kalten und unpersönlichen Maschine. Er wird von mechanischen Monstern (Panzer, Flugzeuge, schwere Artillerie), vom Gas der chemischen Waffen oder dem Feuer der Flammenwerfer verursacht. Inmitten dieses "Stahlgewitters" erscheinen die mit Helmen und Gasmasken ausgerüsteten Soldaten wie künstliche, mechanische Figuren, bar jeder Menschlichkeit, wie sie die Gemälde von Otto Dix zeigen.
Der "totale" Charakter des Krieges von 1914 entstammte nicht nur der massiven Mobilisierung von menschlichen, produktiven und materiellen Ressourcen aller europäischen Gesellschaften, was zu einer Veränderung der Lebensweisen und der Perzeption von Zeit und Welt durch weite Teile der Gesellschaft führte. Seine "totale" Dimension ergab sich auch aus der Tatsache, dass die Grenzen zwischen dem Schlachtfeld und der zivilen Gesellschaft verwischt wurden. Das Theater der militärischen Operationen erstreckte sich auf ganze Regionen, deren Bevölkerung zu militärischen Zielen wurde. Obwohl sie längst nicht in dem Umfang des Zweiten Weltkriegs vorkamen, stellten die Bombardierungen von Städten, die Zerstörung des Landes, die Zwangsarbeit von Zivilisten eine Wende in den gesellschaftlichen und menschlichen Beziehungen dar und überschritten eine Schwelle in der Ausweitung der Gewalt.
Während des Ersten Weltkrieges konnte man eine massive Ausweitung (im Vergleich etwa zum Burenkrieg zu Beginn des Jahrhunderts) des Phänomens der Konzentrationslager beobachten: die Internierung von Zivilisten in den eroberten Gebieten, die Internierung von Bürgern eines Feindstaates, die Internierung von Kriegsgefangenen in Lagern, in denen die materiellen Überlebensbedingungen nicht immer gesichert waren. Zwischen 1914 und 1918 trat der Ausdruck "Konzentrationslager" in die Umgangssprache der westlichen Länder ein. Auch wenn die Bedeutung der Internierungslager mit dem der Konzentrationslager im Nazideutschland oder der UdSSR unter Stalin nicht verglichen werden kann — weder hinsichtlich der Auswahlkriterien der Einsitzenden, noch der Lebensbedingungen noch der sich daraus ergebenden Sterblichkeitsrate —, so waren sie dennoch eine wichtige Etappe auf dem Weg, der Europa und die Welt ins "Jahrhundert der Lager" führen sollte.
In der Erinnerungsliteratur des Ersten Weltkriegs taucht das Bild des Todes als wesentliches Moment der Kriegserfahrung auf. Die Schützengräben werden wie Friedhöfe beschrieben, die Landschaft nach der Schlacht mit einer Allegorie, der der Hölle, was eine frappierende Ähnlichkeit mit den Berichten von den Nazi-Konzentrationslagern Entkommenen aufweist. Zwischen 1914 und 1918 haben die deutschen Schlachten, um diese neue Form des Vernichtungskrieges zu beschreiben, den Begriff "Verwüstungsschlacht" geprägt, ein Wort, das schon die "Verheerungen" anzukündigen scheint, die die Naziarmeen gut zwanzig Jahre später in der Sowjetunion anrichten sollten. Die Militärstrategen begannen damals vom "Vernichtungskrieg" zu sprechen, eine Wortneuschöpfung, die einen bedeutsamen Platz im Vokabular der Nazis einnehmen sollte.
Die Verbrechen des Nationalsozialismus können ohne ihre historischen Vorläufer des industriellen Krieges, des Massakers am Fließband, der technischen Tötung auf Massenebene nicht begriffen werden. Unter diesem Gesichtspunkt nimmt der Erste Weltkrieg den Charakter eines Schöpfers der totalitären Gewalt an. Omer Bartov hat betont, dass es die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs gewesen sind, auf denen die Architekten der "Endlösung" ihre "Feuertaufe" erlebt haben.
Zu den vom Krieg bewirkten Veränderungen in der Welt der Mentalitäten muss man die Gewöhnung an die Gewalt und die Gleichgültigkeit dem Menschenleben gegenüber rechnen, die eine Reihe von Errungenschaften (das Verbot der Folter, die Respektierung des Lebens der Gefangenen und der Zivilbevölkerung) seit der Aufklärung, die häufig für unumkehrbar gehalten wurden, wieder in Frage stellten.
George L. Mosse hat diese Wende durch eine frappierende Gegenüberstellung illustriert. Im Jahre 1903 fand in der Stadt Kischinjow im Zarenreich ein schrecklicher Pogrom statt, in dem etwa 300 russische Juden und Jüdinnen den Tod fanden. Dieses Massaker hat zu einer Empörung und Missbilligung in der öffentlichen Meinung des Westens geführt, die angesichts einer solchen Geschichte mittelalterlicher Barbarei entsetzt war. Der Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich, bei dem etwa eineinhalb Millionen Menschen zu Tode kamen, hat keine nennenswerte Protestwelle ausgelöst. Diese Gleichgültigkeit dem menschlichen Leben gegenüber führte auch zu einer Brutalisierung des politischen Lebens, in das eine kriegerische Sprache und aus den Schützengräben übernommene Methoden der Auseinandersetzung Eingang fanden.
In Deutschland und Italien, wo die politischen Institutionen und die Zivilgesellschaften zu Kriegsende Auflösungserscheinungen zeigten, trat der Krieg wegen des Fortwucherns von bewaffneten Verbänden, sowohl auf der Linken, vor allem aber auf der (extremen) Rechten, (von den Freikorps, der SA, den Arditi del Popolo bis zu den Fasci di combattimento) ins politische Leben ein.
Die Sprache der Politik veränderte sich. Der italienische Faschismus machte aus dem Krieg den höchsten Moment des Lebens und bejubelte den Kampf als Blüte des Menschen, als Triumph der Kraft, der Geschwindigkeit, des Mutes, der Verachtung der Gefahr und der Herausforderung des Todes. In Deutschland hatte Ernst Jünger den Krieg als "inneres Erlebnis" idealisiert; in seinem Gefolge theoretisierte Carl Schmitt den Krieg als Vorbedingung und Vollendung einer Politik, die als Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen Freund und Feind begriffen wurde. Er wurde weder auf rationale Weise erklärt noch aus ethischen Gründen verworfen; er ergab sich einfach aus einem "existentiellen" Konflikt mit dem "Feind", dem "anderen, dem Fremden", dessen Andersartigkeit "die Negation der eigenen Art Existenz" bedeutete.
In der Gesellschaft stellte der Krieg die entscheidende Etappe im Prozess der Nationalisierung der Massen dar. Der Nationalismus wurde aggressiv und versuchte in den politischen Konflikten die an der Front geführten Kämpfe nochmals auszukämpfen. Die Ästhetik des Krieges überschwemmte den öffentlichen Raum. Der Nationalismus verwandelte sich von einer aus Ritualen, Symbolen, kollektiven Liturgien bestehenden laizistischen Religion in einen Kreuzzugsgeist, einen totalen Kampf, einen "Glaubenskrieg". Er war nun nicht mehr das Ideal der herrschenden Eliten, sondern ergriff die Massen, verwandelte sich in eine kollektive Passion, wurde subversiv, "revolutionär", wandte sich gegen die vom Krieg zerstörte Tradition und erstrebte die Errichtung einer neuen Ordnung. Aus der Masse traten neue Führer plebejischer Herkunft hervor, die von der Erfahrung der Schützengräben geprägt waren und in den politischen Wirren der Nachkriegszeit ihre Hände im Spiel hatten.
Im Verlauf der 20er Jahre hat Ernst Jünger der Erfahrung des Ersten Weltkriegs mehrere Romane und Essays gewidmet. Er beschrieb ihn als ekstatischen Kampf, als "Eruption der Sinnlichkeit", als Geburt einer männlichen Gemeinschaft, einer "neuen Rasse". Kurz vor Hitlers Machtübernahme kündigte er 1932 in Der Arbeiter die Heraufkunft eines neuen Zeitalters, das des "Arbeiters", des in den Schützengräben von 1914—18 gestählten Arbeitersoldaten an. Der deutsch-jüdische Philosoph Hans Kohn sollte diesen Essay als "Apotheose eines völlig mechanisierten und militarisierten Arbeiters, eines modernen Maschinenmenschen", als literarische Darstellung der Geburt des totalitären Staates interpretieren.
Für einen anderen, damals noch unbekannten Emigranten formulierte jenes Werk von Jünger eine neue Vision der völkischen Ideologie, in der der Mythos von "Blut und Boden" als ein "gigantisches, völlig mechanisiertes und rationalisiertes Unternehmen" auftaucht. Es war während des Ersten Weltkriegs, in dem dieser neue Synkretismus zwischen Mythologie und Technologie, zwischen Gegenaufklärung und politischem Existentialismus, zwischen Nihilismus und Vitalismus, dieser in den Worten von Thomas Mann "hochtechnisierte Romantizismus" im Nationalsozialismus seinen fortgeschrittensten Ausdruck finden sollte.

Auschwitz — Produkt der Zivilisation

Die Guillotine, das Schlachthaus, die Fabrik, die rationelle Verwaltung genauso wie der Rassismus, die Eugenik, die Massaker in den Kolonien und der Erste Weltkrieg haben die gesellschaftliche Welt und die mentale Landschaft, in denen die "Endlösung" konzipiert und umgesetzt wurde, geprägt. Diese historischen Erfahrungen stellen Präzedenzfälle dar, ohne die man sich den Völkermord an den Juden — aber auch den an den Armeniern 1915/16 — nicht vorstellen kann. Die Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Fakten und Praktiken erhellen den historischen Prozess, führen aber keine Kausalitätsbeziehungen in ihn ein.
Die industrielle Vernichtung setzt die Fabrik und die rationelle Verwaltung voraus; das heißt jedoch nicht, dass sie sich unweigerlich daraus ergibt, dass jedes kapitalistische Unternehmen ein mögliches Todeslager ist und in jedem Beamten ein Eichmann schlummert. Sofern die "Endlösung" Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung, besonders der Chemie ausbeutete und sich auf die Beiträge zahlreicher Mediziner, Anthropologen und Eugeniker berufen konnte, zeigt dies nur die zerstörerischen und antihumanistischen Möglichkeiten der Wissenschaft, macht aber die Medizin noch keineswegs zu einer Todeswissenschaft. Auch wenn in den kolonialen Massakern Praktiken der Vernichtung aufgekommen sind, die im Nationalsozialismus erneute Anwendung und Perfektionierung fanden, so entsteht dadurch keine Kausalbeziehung zwischen den beiden.
Der koloniale Rassismus und der europäische Antisemitismus bleiben zwei parallele, aber trotz allem unterschiedliche Phänomene; genausowenig kann man die Massaker zum Zweck der Eroberung und Plünderung eines Kontinents mit dem "ontologischen" Völkermord, dem jeder instrumentelle Charakter abging, auf eine Ebene stellen. Die Vorläuferereignisse können die Singularität von Auschwitz weder auslöschen noch erklären; doch sie können sie in eine allgemeinere historische Perspektive einbringen; sie können — um einen Ausdruck von Norbert Elias aufzugreifen, dessen Bedeutung wir umdrehen — ihn auf kohärente Weise in den "Prozess der Zivilisation" einschreiben, in dessen Rahmen sie keine Gegentendenz darstellen, sondern Ausdruck einer seiner Potenzen, eines seiner möglichen Gesichter sind.
Das Fehlen einer Kausalität bedeutet keineswegs, dass es sich nur um zufällige oder rein formale Affinitäten handeln würde. Die Architekten der Nazi-Lager waren sich völlig im Klaren darüber, dass sie Todesfabriken bauten, und Hitler verbarg überhaupt nicht, dass die Eroberung von Lebensraum die Kolonialkriege des 19.Jahrhunderts fortsetzen (was sie in seinen Augen legitimierte) sollte. Zwischen den Massakern der Eroberungen des Imperialismus und der "Endlösung" bestehen nicht einfach nur "phänomenologische Affinitäten" wie sie von Josef Hayim Yerushalmi zwischen dem "Statut der Blutsreinheit" im Spanien der Inquisition und dem Antisemitismus der Nazis herausgearbeitet wurden, oder entfernte Analogien, wie sie Arno J. Mayer zwischen dem ersten Kreuzzug (1095—1099), dem Dreißigjährigen Krieg und dem "Judenmord" festgestellt hat.
Es gibt eine historische Kontinuität, die aus dem liberalen Europa ein Laboratorium der Gewaltakte des 20.Jahrhunderts und aus Auschwitz ein authentisches Produkt der Zivilisation machten.

Übersetzung: Paul B. Kleiser

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