Sozialistische Zeitung |
Nach und nach erwachten die Gäste des Reisebusses nach einer Nacht unruhigen Schlafs auf ihren Sitzen. Freundlich
grüßte sie die helle Morgensonne an der malerischen Küste Liguriens. Doch nach Urlaub stand den wenigsten von ihnen der Sinn.
Die Gewerkschaftsaktiven, Erwerbslosen und Migranten waren unterwegs, um zu
protestieren: Gegen die EU-Regierungskonferenz in Nizza. Wenige Kilometer vor der italienisch-französischen Grenze verdunkelte sich der Himmel
und dort angekommen staunten die Reisenden nicht schlecht.
Obwohl Italien und Frankreich das Schengener Abkommen unterzeichnet haben und
eigentlich keine Grenzkontrollen mehr vorgesehen sind, standen schon auf der italienischen Seite französische Grenzbeamte, die sämtliche Busse
herauswinkten und die Fahrer nach dem Reiseziel fragten. Eine fast überflüssige Frage, denn am Morgen des 6.Dezember fuhren nahezu alle
Reisebusse nach Nizza, zur Großdemonstration und einige zur darauf folgenden Blockade gegen das Treffen der europäischen Staats- und
Regierungschefs.
"An welchem Teil der Demonstration wollen Sie sich denn beteiligen?", hakte
einer der Polizeibeamten nach. Die Busfahrerin zeigte sich irritiert. "Zu welcher Gruppe gehören Sie?", lautete eine weitere Frage des
Beamten. Intuitiv antwortete einer der Mitreisenden, es handele sich um eine "Delegation der IG Metall". Das wirkte wie ein Zauberwort und der
Bus, in dem gerade einmal zwei Mitglieder der IG Metall saßen, wurde durchgewunken.
Ganz in Rot gekleidet regelten bei der Ankunft in Nizza Gewerkschafter des linken
Dachverbands CGT den städtischen Schienenverkehr. Viele der Demonstrierenden aus allen europäischen Ländern, darunter auch welche
aus den Bewerberstaaten Polen und Slowenien, waren bis zum Hauptbahnhof gereist und mussten an den im Norden gelegenen Bahnhof St.Roch geleitet
werden.
Die Bahn fuhr im 5-Minuten-Rhythmus. Prall gefüllt mit italienischen Rentnern,
französischen CGT-lern und deutschen Erwerbslosen und Studierenden setzte sie sich langsam in Bewegung. Laut war es in den Waggons, die in den
Farben ihrer Organisationen ausstaffierten und mit Transparenten bestückten Fahrgäste sangen Arbeiterlieder und riefen Parolen. "Tous
ensemble Alle zusammen!", hieß die mit Abstand beliebteste.
Trotz anfänglicher Schwierigkeiten waren viele Franzosen kostenlos nach Nizza
gefahren. Nachdem es der französische Verkehrsminister abgelehnt hatte, der Forderung der Gewerkschaften nach einem Gratistransport aus
französischen Großstädten nachzugeben, nahmen die Organisationen der Protestveranstaltung die Sache selbst in die Hand und besetzten
schon am Dienstag die Bahnhöfe der wichtigsten Städte. Damit zwangen sie die meisten Bahnhofsvorsteher zum Einlenken.
Nicht alle, die kommen wollten, hatten Nizza erreicht. Zwei Busse aus Erfurt sind einfach
zu spät losgefahren, haben am Abend noch eine Pizza in Nizza gegessen und sind dann gleich wieder heimwärts gefahren. In Frankreich zeigten
die Aktivisten zwar besseres Organisationstalent, aber das konnte sich nicht immer gegen die behördliche Repression durchsetzen. Während die
Gratiszüge aus Lyon und anderen Städten anrollten, gelang es den Behörden, Züge aus Paris zu blockieren.
Grenzkontrollen
Auch für den "Global Action Express" aus Italien endete die Reise am Grenzort Ventimiglia. Den von Rifondazione Comunista
finanzierten Sonderzug, in dem außer der Parteijugend auch Mitglieder der radikalen Gewerkschaft Sin Cobas und Aktive der Centri Sociali mitfuhren,
stoppten 1000 französische Polizisten der berüchtigten Spezialeinheit CRS. Der dem französischen Innenminister unterstellte
Präfekt des Département Alpes-Maritimes begründete das Einreiseverbot für die 1400 Italiener mit einem Artikel des Schengener
Abkommens. Demnach können wegen "Gefahren für die innere Sicherheit" die lange abgeschafften Grenzkontrollen wieder
eingeführt werden.
Doch die Italiener blieben nicht untätig. Sie besetzten die Zuggleise und die Autobahn
sowie einen weiteren Zug. Dort übernachteten sie und marschierten am nächsten Tag zum französischen Konsulat. Dabei kam es zu
Auseinandersetzungen mit italienischen Polizisten, die aus nächster Nähe Tränengasgeschosse abfeuerten. Einige der Protestierenden
mussten anschließend in Krankenhäuser gebracht werden. Nach Angaben des italienischen Fernsehens solidarisierten sich zahlreiche Einwohner
der Grenzstadt mit den Demonstranten. Einige Mitorganisatoren der Großdemonstration wollen gegen das Vorgehen der Behörden Klage beim
Europäischen Gerichtshof einlegen.
Unterdessen formierte sich am Mittwochmittag die Demonstration am Nordbahnhof in
Nizza. Die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung, die Intitiative gegen
kapitalistische Globalisierung ATTAC und die Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) mussten allerdings lange warten, bis sie den ersten Schritt
machen konnten, denn vor ihnen sammelten sich die Gewerkschaften des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) und erst dann konnten sich die
sozialen Bewegungen, unabhängigen Gewerkschaften und Parteien mit knapp 10000 Anhängern einreihen. Die fast fünf Stunden
Wartezeit überbrückte die Band einer Lehrergewerkschaft, die populäre Musik mit Texten gegen Sozialabbau und das neoliberale Europa
spielte.
Schwache DGB-Beteiligung
Die Teilnahme entsprach den Erwartungen der Organisatoren, die von 100000 Demonstrierenden sprachen, während die Polizei behauptete,
es seien lediglich 50000 gewesen. Mit mehr als 50000 Teilnehmenden stellte die CGT mit Abstand das größte Kontingent der Demonstration.
Hinter einem Meer von roten Fahnen, beleuchtet von bengalischen Feuern, kam der gemäßigte Dachverband CFDT mit deutlich weniger
Teilnehmenden. Beide sind im EGB, haben dort aber unterschiedliche Positionen bezogen. Während die CFDT für eine Rechtsverbindlichkeit
und Aufnahme der umstrittenen EU-Grundrechtecharta in die EU-Verträge ist, lehnt die CGT dies konsequent ab, da sie eine Verschlechterung
für soziale und gewerkschaftliche Rechte befürchtet.
Nach den zahlreichen französischen Gewerkschaftsverbänden folgten
Delegationen aus Italien, Spanien und Portugal, die jeweils mehrere tausend Teilnehmende stellten. Der DGB, der mit 9 Millionen Mitgliedern stärkste
Verband im EGB, setzte sich dem Gespött der französischen Presse aus. Nach eigenen Angaben hat der DGB 700 Mitglieder nach Nizza
geschickt. LHumanité zählte jedoch nur knapp 100 Gewerkschafter aus Deutschland, unter ihnen immerhin auch Prominenz wie IG-
Metall-Chef Klaus Zwickel. LHumanité schrieb weiter, dass allein aus Slowenien 200 Gewerkschafter den Weg nach Nizza gefunden
hätten.
Eigentlich hätte auf der Abschlusskundgebung der mittlerweile prominenteste
französische Landwirt der Bauernvereinigung Confédération Paysanne, José Bové, sprechen sollen. Doch den hatten
Polizeibeamte mit Gewalt am Morgen in Paris festgenommen, weil Bové versuchte in ein Gebäude zu gelangen, um dort bei einer
agrarpolitischen Konferenz mit Mike Moore, dem Generaldirektor der Welthandelsorganisation, gegen die neoliberale Freihandelsdoktrin zu protestieren.
Nach der frühzeitig beendeten Abschlusskundgebung zogen mehr als 1000
Demonstranten an den Hauptbahnhof, den sie umgehend besetzten. Damit wollten sie Druck machen, um eine Weiterreise der italienischen Genossinnen und
Genossen an der Grenze zu ermöglichen. Ihr Versuch wurde von der Polizei mit Tränengas und Schlagstockeinsatz vereitelt. Gebeutelt von den
Strapazen des Tages zogen viele von ihnen in eine kurzfristig angemietete Turnhalle.
Der Bürgermeister der Stadt, bis vor kurzem noch Mitglied der Front National, hatte
im Vorfeld jede Kooperation verweigert und trotz der erwarteten Menschenmenge keinerlei Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung
gestellt. Häuser, die Erwerbslose und Studierende wenige Tage vor dem Gipfel besetzt hatten, ließ er kurzerhand räumen. "Das
haben wir noch nirgendwo gesehen, seit wir die EU-Gipfel regelmäßig mit unseren Aktionen begleiten. In Amsterdam war die Stadt sogar
für das Podium und die Toiletten aufgekommen", erklärte Michel Rousseau von der europäischen Koordination der
EuroMärsche.
Nun diente die Turnhalle als Übernachtungs- und Konferenzort gleichzeitig.
Während sich vorne Susan George, stellvertretende Vorsitzende von ATTAC in Frankreich, und Pierre Tatakowski, Generalsekretär von
ATTAC, für eine Eindämmung der Macht der Transnationalen Konzerne aussprachen und Christophe Aguiton von den EuroMärschen
den Forderungskatalog der sozialen Bewegungen vorstellte, hörten zwar auch viele Gäste in der Turnhalle zu, andere lagen aber in ihren
Schlafsäcken oder gaben sich sogar ihrer neu gefundenen Liebe hin. Doch an den chaotischen Zuständen des Provisoriums nahm niemand
Anstoß. Insgesamt 2000 Menschen übernachteten dort.
Tränengas und Barrikaden
Am nächsten Morgen begann in aller Frühe die Blockade des Konferenzzentrums "Acropolis". Obwohl es einigen der 5000
Demonstrierenden gelang, bis auf 100 Meter heranzukommen, kann von einer Behinderung des Gipfels keine Rede sein. Die mit Tränengaskanonen
ausgerüsteten Einsatzkräfte machten allerdings derart viel Gebrauch vom Reizgas, dass sogar die Konferenzteilnehmer mit geröteten
Augen und gereizten Schleimhäuten ihr Gipfeltreffen beginnen mussten.
Die weiträumigen Absperrungen des mitten in der Stadt gelegenen Kongresszentrums
und zahlreiche Straßenblockaden durch Demonstranten brachten den gesamten Nahverkehr zum erliegen. Mit Stinkbombenaktionen in Banken,
Supermärkten und Fastfoodrestaurants wollten einige Globalisierungsgegner darauf aufmerksam machen, "wie sehr die Dinge in der Welt
stinken". Ihre Ziele mussten anschließend evakuiert werden.
Die Polizei setzte im Verlauf des Morgens vermehrt Schlagstöcke ein. Die Situation
eskalierte an einigen Stellen, eine Bankfiliale wurde in Brand gesetzt und mehrere Schaufensterscheiben gingen zu Bruch. Verletzte gab es vor allem auf
Seiten der Demonstrierenden. Von den insgesamt 50 Festgenommenen sind alle bis auf zwei Basken wieder auf freiem Fuß.
Nach Einschätzung einiger Sprecher von EuroMarsch und ATTAC waren die
Sicherheitskräfte und Behörden vor und während des Gipfels mehr als bei den Protesten gegen die EU-Gipfel in den Vorjahren bestrebt,
unliebsamen Protest und direkte Aktionen mit Repression und willkürlichen Beschränkungen der Freiheitsrechte zu unterbinden. Dennoch habe
sich in Nizza mit den bisher größten Protesten gegen die EU-Politik "die Kontur eines anderen Europa abgezeichnet, eines sozialen,
demokratischen und solidarischen Europa".
Gerhard Klas
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