Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.26 vom 21.12.2000, Seite 8

Lager Balkova, Tschechien

Vorposten der Festung Europa

Achtzehn wird er sein, der junge Mann, der vor Wochen in Indien aufgebrochen ist, um eine andere Heimat zu finden. Sein Cousin lebt schon seit 20 Jahren in Deutschland, erzählt er. Jetzt ist er in Tschechien, im südbömischen Visny Lothy, einer ehemaligen Kaserne, die 500 Flüchtlingen Unterkunft bietet.
Auf einer Anhöhe, weithin sichtbar, steht der große Komplex mit zahlreichen Baracken an mehreren Fahrstraßen. Das nächste Dorf liegt in Sichtweite, in 10 oder 15 Minuten zu Fuß erreichbar. Flüchtling in Tschechien sein, das heißt zuerst einmal, in dieser oder in einer weiteren sogenannten Erstaufnahmeeinrichtung warten. Eingezäunt, bewacht — das Lager darf nicht verlassen werden.
Die Menschen hier kommen aus allen möglichen Ländern Osteuropas, Asiens und Afrikas. Es herrscht eine hektische Unruhe, zur Landung gezwungene Zugvögel, Reisende, die man aufgehalten hat — für Tage, Wochen, für immer? Flatternd, erregt, niemand weiß, ob es morgen schon weiter geht.
Wer im Lager lebt, hat Fingerabdrücke, Fotos, Personalpapiere beim Polizeibüro am Eingang hinterlassen müssen. Er wurde vom Gesundheitsdienst inspiziert, von einem Mitarbeiter der Abteilung für Flüchtlingsangelegenheiten im Innenministerium befragt.
In der südböhmischen Region liegt die Arbeitslosigkeit mit 16% deutlich über dem tschechischen Durchschnitt. Deshalb sind die Einheimischen froh, wenn sie im Lager Arbeit finden. Der Großteil der 50 Mitarbeiter stammt aus den umliegenden Dörfern. Hier liegt sicherlich ein Grund für das einigermaßen unkomplizierte Verhältnis der Bevölkerung zum Lager. David Burian, der das Lager leitet, bekennt zwar, er habe anfangs Angst gehabt vor den Reaktionen der Dorfbewohner. Aber es habe keine konkreten Vorfälle gegeben. Was zusätzlich daran liegen mag, dass die Bevölkerung gar nicht in Kontakt mit den Asylbewerbern kommt. Denn Visny Lothy ist, wie gesagt, eine geschlossene Einrichtung. Die Asylbewerber können diese Einrichtung nicht verlassen.
Der Schock des Lagers ist sein Wartesaal. Wer die erkennungsdienstliche Behandlung an der Pforte hinter sich gebracht hat, wird unter Bewachung in diesen etwa 100 Quadratmeter großen Raum geführt. Er ist vollgestopft mit Menschen, 50, 60, Männer, Frauen, Kinder. Einige von ihnen sitzen schon mehr als 48 Stunden auf den aufgereihten Stühlen, stieren vor sich hin oder zum Fernseher hinauf, der an der Wand angebracht ist. Wer hier seinen Antrag auf Asyl abgegeben hat, wird kaum den Eindruck bekommen, dass er in der Tschechischen Republik sonderlich willkommen ist.

Transitland

Tschechien wurde 1989, mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und der Grenzen nach Osten und Westen, plötzlich Transitland für Flüchtlinge und Migranten. Je mehr die Sowjetunion zerfiel, je desaströser die ökonomische Lage wurde, je häufiger Kriege an der Peripherie ausbrachen und je weniger die Repression in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nachließ, um so heftiger wurde der Drang vieler Menschen, diesen unerträglichen Lebenssituationen zu entfliehen.
Weshalb sollten sie in der Tschechoslowakei und später in Tschechien bleiben? Viele wollten weiter nach Westen, wo wenigstens die wirtschaftliche Lage erfolgversprechender schien. Weiter nach Westen, wenn man sie denn lassen würde.
Wenn. Denn weiter im Westen, an der Grenze zu Deutschland, steht Balkova. Dr. Vosecky, der zuständige Beamte für Balkova im Prager Innenministerium sagt: "Wir haben diese Einrichtungen gebaut, um ein geordnetes Verfahren in Gang setzen zu können. Und wir haben sie aufgrund von Beschwerden der Kollegen aus der Bundesrepublik Deutschland und der anderen Schengen-Staaten gebaut. Denn für die Ausländer, die die Bundesrepublik Deutschland zu uns abgeschoben hat, hatten wir zuvor keine Haftplätze. Also haben sie es erneut versucht, in die BRD zu gehen — und in der Tschechischen Republik haben sie sich frei bewegen können, selbst ohne Dokumente."
Mit dieser Freiheit in Tschechien ist Schluss, seitdem das Land sein erstes Abschiebegefängnis errichtet hat. Das war 1996 und seitdem sitzen dort Jahr für Jahr drei- bis viertausend Ausländer ein, einige Tage bis maximal sechs Monate.
Inmitten der idyllischen Landschaft Nordböhmens, am Ende einer schmalen Landstraße liegt Balkova. Ein mächtiger, verschachtelter Bau aus fünf, sechs oder mehr viergeschössigen, plattenbewerten Funktionalbauten. Früher diente das Anwesen als Landschulheim, dann als Polizeischule, schließlich wurde es zur Abschiebehaftanstalt umgebaut.
Allein 285 Kinder haben in den ersten neun Monaten des Jahres 2000 im Gefängnis Balkova eingesessen. Das ist sicherlich das Erschütterndste an dieser Anstalt. Sie kommen mit ihren Eltern in den Genuss des sogenannten leichten Regimes. Leichtes Regime bedeutet: hier sind die Menschen nicht zu dritt oder viert in einer Zelle 23 Stunden am Tag eingeschlossen, sondern auf einem Flur zusammen mit den Insassen von insgesamt 8 Zellen 23 Stunden lang eingeschlossen. Die Zellen können geöffnet werden, die Häftlinge können sich also gegenseitig besuchen oder auf dem Flur herumgehen.
Weiter allerdings nicht. Das großzügige Angebot nimmt niemand wahr, die Menschen liegen apathisch auf ihren Pritschen, keine Zeitschrift, kein Buch, kein Musik, keine Handarbeit bringt Abwechslung. Der Flur ist mit einem schweren Gitter versperrt, vor der Tür sitzen zwei Wachleute, wer auf die Toilette oder ins Bad will, muss sie um Erlaubnis fragen. Hofgang ist eine Stunde pro Tag.
Alles nicht so schlimm, ist die Devise aus Prag. Dr. Vosecky, der zuständige Mitarbeiter im Innenministerium: "Wir hatten z.B. eine Familie aus Afghanistan mit sechs Kindern. Die Kinder gingen mit den Erwachsenen nach Balkova, weil wir die Kinder nicht von der Mutter und von dem Vater trennen wollten. Die Familie hat einen Asylantrag gestellt und schon drei Tagen später waren sie in Visny Lothy. Aber die drei Tage mussten sie in Balkova verbringen."
Die westeuropäischen Nachbarn Tschechiens kritisieren nicht diese Zustände, nicht das Zugangsverbot z.B. für die Caritas-Mitarbeiter oder für Flüchtlingshilfeorganisationen, sie kritisieren, dass zu wenige der bei illegalem Grenzübertritt Gefaßten inhaftiert werden. Dass also nicht jeder und mit aller gesetzlichen Gewalt davon abgehalten wird, erneut in Länder der Europäischen Union weiterzuziehen.
In Tschechien haben 1999 7500 Menschen um Asyl nachgesucht, im Jahre 2000 waren es nicht viel mehr. Eine auch bei 10 Millionen Einwohnern relativ geringe Zahl. Doch nur wenige derjenigen, die nach Tschechien gekommen sind, beantragen überhaupt Asyl. 200000—300000 Migranten und Flüchtlinge leben illegal im Land, zusätzlich zu den etwa ebenso viel legalen Arbeitsmigranten. Viele der Illegalen wollen weiterwandern in westliche Länder und schlagen sich mit meist schlecht bezahlter Arbeit irgendwie durch.

In die Illegalität gedrängt

Ukrainer haben bislang keine Asylanträge in Tschechien gestellt. Sie konnten ohne Visum ins Land reisen und hier arbeiten, sie konnten ihren Aufenthalt problemlos verlängern. Olga Samborska hat sich als Journalistin mit der Situation von Ukrainern in Tschechien auseinandergesetzt und lebt selbst als Ukrainerin in Tschechien.
"Die meisten, die hierher kommen, bleiben ein, zwei oder drei Jahre und schicken Geld nach Hause zu ihren Familien, damit die überleben können. Als die Sowjetunion zusammenbrach, kamen die Osteuropäischen Ländern überein, den freien Reiseverkehr ohne Visa zuzulassen. Das bedeutete eben auch, dass niemand aus der Ukraine ein Visum benötigte, um in die Tschechische Republik zu kommen — und umgekehrt genauso wenig."
Das einzige, was nötig war, war so eine Art von Einladung, erläutert Samborska. "Jemand aus der Tschechischen Republik lud jemanden aus der Ukraine ein, mit dieser Einladung konnte man die Grenze überqueren und einen Monat lang auf dem Gebiet der Tschechischen Republik bleiben. In diesem Monat durfte man arbeiten und Geld nach Hause schicken. Und dann konnte man mit einer erneuten Einladung versehen zur Grenze gehen, die Grenze überqueren, wirklich überqueren, zurückkommen und erneut arbeiten."
Am 1.Januar 2000 wurde das Ausländergesetz dahingehend geändert, dass die Leute nur noch vom Territorium der Ukraine aus eine Verlängerung ihres Aufenthalts in der Tschechischen Republik beantragen können und nur von dort das neu eingeführte Visum beantragen können, berichtet Olga Samborska. Außerdem müssten Ukrainer ein Bankguthaben von 2000 Dollar nachweisen.
Viele Kinder, die mit ihren Eltern in der Tschechischen Republik leben, die dort zur Schule gehen und dort geboren sind, mussten plötzlich zum letzten Wohnsitz ihrer Eltern in die Ukraine fahren und von dort ein Visum beantragen, erzählt die Journalistin. "Sie mussten die Schule verlassen, völlig unmöglich!"
"In den ersten Monaten des Jahres sind dann viele Ukrainer, auch viele Kinder, illegal geworden. Als Illegale haben sie sich gezwungen gesehen, z.B. nach Deutschland zu gehen oder ins tschechische Asylverfahren, was sie beides gar nicht wollten. Was ich aus eigener Erfahrungen und aus den Gesprächen weiß: die Leute wollen Papiere, sie wollen nicht illegal sein."
Die Einführung der Visumspflicht für Staatsbürger der Ukraine war eine Forderung der Europäischen Union. Pavel Tychtl, der in der OPU, der Prager "Organisation Flüchtlingshilfe", arbeitet, weiß, dass die tschechische Regierung als eine der ersten zentraleuropäischen Regierungen die Visumspflicht für Bürger der Ex-Sowjetunion eingeführt hat.
Die Gründe? "Einer mag darin bestehen, dass die Regierung wirklich unter starkem Druck stand. Und sie hat gesagt: Nun, wir können diese Grenze nicht über Nacht aufrüsten, aber wenigstens können schon mal die Visa einführen, dann kriegen wir weniger Druck von der EU."
Der andere Grund sei die öffentliche Meinung. Die Leuten denken, dass mit den Immigranten das organisierte Verbrechen kommt, meint Tychtl. Die Regierung wolle sich da wohl im Kampf gegen das Verbrechen profilieren.
Die Verbindungen der Tschechischen Republik zu Menschen und Kulturen aus allen vier Himmelsrichtungen sind Tradition, Tschechien ist ein zentraleuropäisches Land. Nun werden also die Bindungen zum Osten und Südosten Europas gekappt, zumindest erschwert. Die Öffnung des Landes nach Westen ist gleichzeitig eine Verengung, eine Blockade gegen den Osten.

Die neue Grenze

Tatsächlich scheint die tschechische Gesellschaft auf eines der größten Probleme der nächsten Jahre nicht vorbereitet: Nicht nur die Abkoppelung von weiter östlich gelegenen Nachbar findet statt, auch die Abschottung gegen den Geschwisterstaat Slowakei steht bevor. Die Bindungen sind aber auch nach der Teilung der Tschechoslowakei in zwei Staaten nicht geringer geworden, 600000 Slowaken leben in Tschechien, es hat nur einmal in der Geschichte eine echte Grenze gegeben, während des Zweiten Weltkriegs.
Doch die Europäische Union fordert als Preis für den Eintritt Tschechiens in die EU die Umwandlung der tschechisch-slowakischen Grenze in eine Schengenaußengrenze, denn die Slowakei steht auf der Liste der Aufnahmekandidaten ganz hinten. Um den unerwünschten Zutritt von Menschen zu verhindern, sollen nur wenige legale Übergänge eingerichtet werden und Hubschrauber, Warmbildgeräte und jede Menge Grenzpolizei sollen die grüne Grenze abriegeln.
Dr. Vosecky vom Prager Innenministerium: "Die Frage ist wesentlich komplizierter, als wir uns alle vorstellen können. Es gibt zwar eine gegenseitige Bestätigung der Tschechischen Republik und der Slowakei, dass die freie Grenze auch für die Zukunft gültig bleiben soll, damit sich die Leute frei bewegen können. Aber wir haben das Thema mit unseren Beratern in der EU erörtert und die haben uns bestätigt, falls die Tschechische Republik in EU eintreten möchte, muss diese Grenze eine ganz normale Schengengrenze sein."
Pavel Tychtl von OPU erzählt, wie das so ist mit dieser Grenze. "Die Grenze geht mitten durch die Dörfer, manchmal durch die Vorgärten. Es gibt Dörfer, da ist der Bahnhof in Tschechien und der Supermarkt in der Slowakei, sie haben die Schule in Tschechien und die Bank in der Slowakei. Sehr schwierig. Und schon jetzt, nachdem sie die jetzige Grenze gezogen und allmählich verschärft haben, können die Leute nicht mehr einfach rüber, weil es keinen Grenzübergang gibt. Also müssen sie zwanzig Kilometer zurücklegen, um die Grenze zu überqueren, damit sie zum Supermarkt kommen."
"Die Leute hoffen, dass die Tschechische Republik, wenn sie in die EU eintritt, Ausnahmeregelungen vereinbart, so dass sie eine Schengen-Grenze zur Slowakei doch nicht errichtet werden muss", meint Tychtl. Die deutsche Botschaft in Prag erklärte allerdings kategorisch, eine solche Ausnahme käme nicht in Frage. Wenn Tschechien zu einer solchen Grenzziehung nicht bereit sei, werde die Aufnahme in die EU nicht erfolgen. Im übrigen, so Botschaftsrat Andreas Meitzner, seien der tschechischen Regierung die Sorgen der Grenzbewohner herzlich gleichgültig. Ihr Anliegen sei der Beitritt zur EU und das würde sie in jedem Falle umsetzen.
Sicherlich kann sich die Regierung dabei auf all diejenigen stützen, die die Hoffnung hegen, vom EU-Beitritt in irgendeiner Form zu profitieren. Dass die Migranten aus dem Osten und die Flüchtlinge nicht dazu gehören, versteht sich. Für sie endet der Traum von einem besseren Leben, der Traum von einer gerechteren Teilhabe am Weltreichtum, der Traum vom Schutz vor Verfolgung und Krieg wohl bald schon vor den Grenzen der neuen tschechischen Bastion.

Albrecht Kieser (Rheinisches JournalistInnenbüro)

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