Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.26 vom 21.12.2000, Seite 13

‘Nichts wird mehr sein wie zuvor‘

Interview mit einem vietnamesischen Marxisten

TUAN ist ein seit Ende der 50er Jahre in Frankreich lebender revolutionärer Marxist und bereist seit 1990 regelmäßig Vietnam, so auch im jetzt endenden Jahr. Jean-Michel Krivine führte mit ihm das folgende Interview über die Veränderungen im Land seit seinen letzten Reisen 1996 und 1998.

Du bist durch drei Provinzen Vietnams gereist und hast einige bemerkenswerte Veränderungen gegenüber deinen früheren Reisen festgestellt?

Tuan: In den Jahren 1997—1998 verwandelte sich Vietnam in eine Konsumgesellschaft. Junge Leute mit Diplom versuchten vorher vor allem ins Ausland zu gehen, um dort ihr Geld zu verdienen. Jetzt suchen die im Land errichteten ausländischen Unternehmen ihre Beschäftigten im Land und bezahlen sie gut: 1997—1998 boten sie ihnen ein Monatsgehalt von 200 US-Dollar, im Jahr 2000 schon 800 Dollar (der Durchschnittslohn beträgt etwa 100 Dollar).
Diese Jugend will jetzt in Vietnam bleiben. Früher war es ein Traum, nach Frankreich oder Japan zu gehen. Es gab für die Mittelschichten und für viele aus den werktätigen Klassen auch das Modell USA. Aber auch wenn man weiß, dass ziemlich viele dort niedergelassener Familien über Autos und schöne Wohnungen verfügen, so weiß man doch auch, dass es nicht das erhoffte Paradies ist: es ist schwierig, dort Arbeit mit einem nicht anerkannten vietnamesischen Diplom zu finden, und man stößt auf Rassismus, sogar im Milieu der Schwarzen oder der Puertoricaner.
Kurz gesagt, auch wenn immer noch der Kult der Greencard fortbesteht, so versucht man doch gegenwärtig eher sich im eigenen Land zu etablieren als ins Ausland zu gehen.

Hast du den Eindruck, dass der Übergang zur Marktwirtschaft mit einem Bewusstsein darüber einhergeht, dass sie nicht alle Probleme lösen wird?

Tuan: Seit der Öffnung von 1986—1987 will Vietnam der internationale Gemeinschaft beitreten. Es wollte Teil des [Südostasienpakts] ASEAN (der geschaffen wurde, um die vietnamesische Revolution aufzuhalten) sein und es hat gegenwärtig die Präsidentschaft in diesem Pakt inne… Es will der Welthandelsorganisation (WTO) beitreten.
Viele Funktionäre wurden ins Ausland geschickt, und die herrschende Schicht hat eine Mutation durchgemacht: die derzeitigen Minister sind zwischen 50 und 55 Jahre alt, ihre Berater und ihre Sekretäre reisen in der Welt herum und fangen an, über die Auswirkungen der Marktwirtschaft und der Globalisierung nachzudenken.
Man kann schematisch zwei Strömungen unterscheiden: die konservative Strömung (die "Alten"), die die Globalisierung als "höchstes Stadium des Kapitalismus" ablehnen, und die Strömung der Jüngeren, die die Globalisierung nicht ablehnen, aber auch nicht für irgendeine Globalisierung sind. Bücher über die Demonstrationen in Seattle sind übersetzt worden, und ATTAC ist nicht unbekannt.
Auf ökonomischer Ebene ist Vietnam weniger als die "Tigerstaaten" von der Asienkrise 1997 betroffen (es hat keine Wertpapierbörse), die Auslandsinvestitionen sind jedoch gesunken. Die Priorität wird jetzt neben dem Erdöl der Landwirtschaft gegeben (Reisexport). Der von regionalen Ausgliederungen (z.B. Taiwan) profitierende Sektor stockt. Bei Hanoi sollte ein Handelszentrum gebaut werden, doch die Baustelle ruht…
Der aktuelle Wille der Regierenden ist es, den Amerikanern schöne Augen zu machen. Clintons Reise ist unter diesem Aspekt betrachtet worden: er war seit langem nicht mehr Präsident, sondern faktisch Handlungsreisender der Multis. Vor einigen Monaten wurde mit den Amerikanern ein Handelsabkommen abgeschlossen, das vor zwei Jahren noch abgelehnt worden war. Einige Willkommenstransparente für Clinton wurden von General Electric zur Verfügung gestellt.

Was wird in diesem Zusammenhang mit den Fremdsprachen?

Tuan: Sprechen wir nicht vom einst obligatorischen Russisch… Das Englische breitet sich mehr und mehr aus, und ich habe in Hanoi Geschäfte mit Auslagen in englischer Sprache gesehen. Das Französische erholt sich wieder ein wenig, nach dem Gipfel der frankophonen Länder. Seit zwei, drei Jahren gibt es zweisprachige Klassen, wo das Abitur in zwei Sprachen erworben wird, was es erlaubt, sich in einer französischen Fakultät einzuschreiben.

Hast du in der politischen Sphäre bedeutende Veränderungen festgestellt?

Tuan: Es gibt sie, zweifellos. Man liest viele Memoiren, und viele stellen sich die Frage, was wahr davon ist, vor allem die jüngere Generation (bis 40 Jahre). Sie wissen nichts über den ersten Krieg in Indochina. Sie wissen ein wenig mehr über den zweiten, denn davon wird noch gesprochen (es gibt Gedenkfeiern usw.).
Seit drei Jahren sprechen die Alten wieder von der Vergangenheit und werfen auch bislang tabuisierte Fragen auf. Zum Beispiel ist wieder vom nationalistischen Führer Nguyen An Ninh anlässlich seines hundertsten Geburtstags (29.September 2000) die Rede. Ninh war in den 30er Jahren bekannter als Nguyen Ai Quoc (der spätere Hô Chi Minh), und er beteiligte sich zusammen mit der KP und den Trotzkisten an der Zeitung La Lutte. Er starb 1943 im Lager von Poulo Condor an Erschöpfung.
Obwohl er eher ein "Weggefährte" der KP war, wurde nach der Unabhängigkeit wenig über ihn gesprochen: es sollte kein Schatten auf das Prestige von Hô fallen. Außerdem wurde er zur selben Zeit Opfer der Repression von Seiten der Kolonialmacht, ebenso wie Ta Thu Thau, der von den Stalinisten im September 1945 ermordete populäre trotzkistische Führer. Von Ninh zu sprechen bedeutete daher nutzlose Erinnerungen bei den Alten zu erwecken.
Doch zu seinem hundertsten Geburtstag fand zum ersten Mal eine genehmigte große Gedenkveranstaltung in Hô-Chi-Minh-Stadt statt. Mehr als 200 Personen nahmen daran teil, vor allem ältere Menschen und Parteimitglieder. Dort wurde die Errichtung einer Statue gefordert sowie die Benennung eines Boulevards nach Ninh und die Schaffung einer Gedächtnisstätte. Der alte Kommunist Tran Van Giau ergriff das Wort auf dem Podium und rief mit Tränen in den Augen: "Es war Ninh, der mich gelehrt hat, für die Revolution in bewusster Weise zu kämpfen!"
Seit zwei Jahren sprechen viele Bücher von ihm. Sein Sohn hat ein dickes Buch veröffentlicht, worin er die Trotzkisten als Revolutionäre darstellt, die einen anderen Weg gingen als die KP…

Wir haben vor drei Jahren viel von der Bauernrevolte von Thai Binh gegen die korrupten Bürokraten gesprochen. Hat diese Bewegung Spuren hinterlassen?

Tuan: Und wie! Ein Beispiel: In Hô-Chi-Minh-Stadt, Le-Duan-Str.7, befindet sich das Büro der Nationalversammlung. Seit einem Jahr wird der Bürgersteig davor ständig von 200 Personen besetzt, Tag und Nacht. Sie haben einen Wald von Transparenten und Banderolen errichtet, worauf im Allgemeinen steht: "Es lebe der Präsident Hô Chi Minh!" und "Es lebe die Kommunistische Partei Vietnams!" Dann folgen die Klagen über das Verhalten der Bürokraten in dem einen oder anderen Dorf und die Forderung nach Gerechtigkeit.
Die Presse hat nicht das Recht, sie zu treffen oder über sie zu berichten. Es gibt einen Haufen von Polizisten um sie herum, und man kann sich ihnen nicht nähern, um Fotos zu machen. Doch die Regierung ist machtlos, denn es handelt sich um Familien von Helden des Unabhängigkeitskampfs, und die Anwendung brutaler Methoden würde in der Bevölkerung sehr schlecht ankommen. Wenngleich die vietnamesische Presse darüber schweigt, so berichtet die Presse in Asien regelmäßig darüber.
Was die Korruption betrifft, so nimmt sie zu, und alle wissen Bescheid. Vor jedem Vertrag mit dem Ausland werden Umschläge unter der Hand weitergegeben. Das Geschäft erhält, wer am meisten besticht. Man weiß nicht allzu viel darüber, was die Minister direkt betrifft, aber ihre Umgebung… Nun, ich habe mit eigenen Augen den fürstlichen Wohnsitz gesehen, den sich der Sohn des Ministerpräsidenten in Vung Tau (Cap St.Jacques) am Abhang eines Berges hat bauen lassen. Er ist prunkvoller als der des früheren [südvietnamesischen] Präsidenten Thieu.

Es gibt also ein gewisses Nachlassen der Kontrolle der Bevölkerung?

Tuan: Das ist unbestreitbar. Die Leute haben weniger Angst. Man kann reden und zu den Leuten gehen. Die Polizei ist weniger eifrig und "professioneller" geworden. Die Intellektuellen werden "diskret" überwacht. Es gibt immer zwei Beamte vor der Wohnung der bekannten Regimekritiker, aber nur um durch ihre Anwesenheit Besucher abzuschrecken.
Anders als in Russland gibt es keine Oppositionspresse, auch keine nichtoffiziellen Gewerkschaften. Somit können sich die Zeitungen nicht direkt zur aktuellen Unzufriedenheit der Funktionäre äußern, aber die Zeitung "Der Arbeiter von Hô-Chi-Minh-Stadt" veröffentlicht unkommentiert vielsagende "Leserbriefe".
Die neuen Technologien begünstigen ebenfalls die Öffnung zum Ausland, ohne dass eine Kontrolle möglich wäre. Die Computer haben alle einen kostenlosen E-Mail-Anschluss. Man hat sogar Zugriff auf die Webseite der [französischen trotzkistischen Wochenzeitung] Rouge… In Hanoi und in Hô-Chi-Minh-Stadt gibt es Internetcafés in Hülle und Fülle, man muss dort sogar Schlange stehen. Die Gebühren sind niedrig: 400 Dong je Minute (etwa 6 Pfennig). Vor kurzem, als die Behörden ein ihnen nicht genehmes Buch beschlagnahmten, wurde der Protest dagegen über E-Mail verbreitet.

Hat die Wiedergeburt eines echten sozialistischen Ideals in Vietnam eine Perspektive trotz der Karikatur, die das aktuelle Regime darbietet?

Tuan: Es gibt zweifellos eine, sicher sehr minoritäre, Untergrundbewegung, vor allem unter den Intellektuellen von 35—40 Jahren, unter Literaten, Künstlern, Filmemachern, die Kontakt zum Ausland unterhalten. Seit 1997 fühlt man den Wandel: es gibt einen Drang zu begreifen, und dabei kann der unverfälschte Marxismus helfen. Unsere Übersetzungen von Trotzki-Texten ("Verratene Revolution", "Literatur und Revolution", "Mein Leben") haben eine gute Aufnahme gefunden, als wir sie ins Land brachten, und wir setzen die Übersetzungsarbeit fort.
Vor zwei Jahren bin ich überraschend in Hanoi in einer Buchhandlung auf das Werk unseres Genossen Daniel Bensaïd, Marx l‘intempestif, in vietnamesischer Übersetzung gestoßen. Und die Lektüre ist nicht gerade leicht. Und doch war die erste Auflage von 800 Exemplaren bereits in einem Jahr vergriffen, die zweite mit 1000—1200 Exemplaren ist ebenfalls vergriffen und derzeit gibt es schon die dritte Auflage… Und wenn eine Konferenz mit Bensaïd in Vietnam stattfände? Ich bin sicher, die wäre gut besucht.
Wir sind Zeugen eines Paradoxons: die Marktwirtschaft benötigt ein gewisses Ausmaß an Demokratie, um funktionieren zu können, und dies ermöglicht es in einem gewissen Maße auch wirklichen Gegnern dieser Ökonomie, sich auszudrücken. Dies war vor sieben oder acht Jahren unvorstellbar, niemand konnte Zugang zu Fax und Internet haben oder einfach nur Fotokopien machen… Doch um ausländische Firmen zu etablieren sind diese Werkzeuge unerlässlich, alle Unternehmen benötigen E-Mail.
Ich sage nicht, dass Vietnam dank des Marktes ein wirkliches demokratisches Aufblühen erleben wird, aber es wird von der früheren politischen Zwangsjacke befreit werden. Selbst die Kolonisation hat nicht nur negative Auswirkungen gehabt. Dank ihr konnten Männer wie Nguyen An Ninh, Ta Thu Thau oder Hô Chi Minh nach Frankreich kommen, die Errungenschaften der Französischen Revolution kennenlernen und für die Befreiung ihres Landes kämpfen.
Sicher, es gibt noch "Konservative", Menschen von 75—80 Jahren, aber sie lenken immer weniger die Geschicke. Die Historiker, selbst die bekanntesten, wollen die Geschichte Vietnams neu schreiben. Zum Beispiel hat die Zeitschrift "Gestern und Heute" eine Studie über die Familie von Hô veröffentlicht, und sein Bruder erschien unter einem völlig neuen Licht. Bis jetzt hatte er stets wegen seiner antifranzösischen Aktivitäten als Opfer der kolonialen Repression gegolten, doch er war ein Trunkenbold, der in trübe Machenschaften verwickelt war.
Die Wiedergeburt der sozialistischen Idee kommt von der Basis, sie ist noch zerbrechlich, und die Hauptfrage lautet: was tun von außen, um zu helfen? Die politische Führung rühmt den "chinesischen Marktsozialismus" mit zehn Jahren Verspätung, nachdem sie ihn heftig kritisiert hatte. Sie ließen die "theoretischen" Schriften aus China über die "Marktwirtschaft mit sozialistischer Orientierung" durch das Institut für Ökonomie und Soziologie mit der Aufschrift "Für internen Gebrauch" übersetzen.
Es ist von großer Bedeutung, dass wir unsere Ideen den Vietnamesen bekannt machen, die ihre Vergangenheit zunehmend kritischer sehen und den Markt nicht als letzten Schrei der gesellschaftlichen Entwicklung betrachten. Die Veränderungen sind sicher noch minimal, aber es handelt sich um einen qualitativen Wandel: Nichts wird mehr sein wie zuvor.

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