Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.26 vom 21.12.2000, Seite 15

Espace Marx

Die Welt ist keine Ware

Nicht weniger als elf französische Vereinigungen hatten zu einer internationalen Begegnung in Paris aufgerufen: linke Christen, die Freunde von Le Monde Diplomatique und der PCF-Zeitung L‘Humanité, die der sozialdemokratischen PS nahestehende Jean- Jaurès-Stiftung und Espace Marx (etwa: Raum für Marx), in der PCF-Mitglieder, Mitglieder der IV.Internationale und unabhängige Linke zusammenarbeiten und gemeinsam über die Aktualität und die Aktualisierung des kritischen geistigen Erbes von Karl Marx reflektieren.
Espaces Marx initiierte die Veranstaltung und trug am meisten zu ihrer organisatorischen Verwirklichung bei. 1500 Anmeldungen aus aller Welt waren eingegangen, und nachdem sich die großzügig bemessenen Räumlichkeiten der Grande Halle de la Villette im Laufe des 30.November gefüllt hatten, waren bis zum Ende durchgehend mehr als 1000 Teilnehmende aus allen fünf Kontinenten anwesend.
In sechs Vollversammlungen und 28 Arbeitsgruppen wurde über eine Vielfalt von Themen gesprochen, unter anderem über die neoliberale kapitalistische Globalisierung und die Chancen von Gegenwehr und Alternativen, über den weltweiten Frauen- und Kinderhandel und die verstärkte Behandlung des menschlichen Körpers als Ware, über die verschiedenen weltweiten neuen sozialen Bewegungen und die Möglichkeiten, sie zum gemeinsamen Handeln zusammenzuführen, über die Einschätzung der offiziellen internationalen Organisationen, über die neuen Kriege und die ungleiche Verteilung des Reichtums, über das Verhältnis von universaler Emanzipation und Differenz, und nicht zuletzt über die Zukunft der Mobilisierungen nach Seattle und Prag. Natürlich kann hier nur ein kleiner Einblick in den Inhalt der Vorträge und Debatten gegeben werden.
Bemerkenswert war die Atmosphäre. Obwohl ein breites politisches Spektrum anwesend war, gab es so gut wie keine Hahnenkämpfe. Auch als eine Vertreterin der "Trotzkistisch(st)en Liga Frankreichs" einen ganzen Saal mit einem ungemein sektiererischen Beitrag gegen sich aufbrachte (eine Ausnahmeerscheinung auf diesem Treffen), setzte die Diskussionleitung die Auffassung durch, dass auch diese Genossin das Recht habe, in Ruhe angehört zu werden. Linke aus der PCF, Feministinnen aus Kanada und Ägypten, Anhängerinnen und Anhänger der IV.Internationale, Vertreter von Bauernverbänden, Gewerkschaften und marxistische Intellektuelle aus den USA und Kamerun, Menschen aus Bewegungen und kleinen linken Organisationen aller Art gingen stets aufeinander ein, bezogen sich aufeinander, verhielten sich im Sinne eines auf lange Sicht angelegten Dialogs.
Die deutsche linke Bewegung war unter denen, die in den Vollversammlungen und in den Arbeitsgruppen vom Podium aus mitredeten (doch wohl auch insgesamt), schwach, und mit Joachim Bischoff, André Brie, Frieder Otto Wolf wohl auch etwas einseitig vertreten. Die französischen sozialdemokratischen Rednerinnen und Redner, unter ihnen Danièle Mitterrand und Henri Weber, hatten angesichts der recht weit links von ihnen angesiedelten großen Mehrheit der Anwesenden, und als Mitglieder der stärksten Regierungspartei in Frankreich keinen leichten Stand.
Henri Weber antwortete auf einen vereinzelten Pfiff im Saal, als er ums Wort gebeten wurde, lächelnd: "Aber ich habe doch noch gar nichts gesagt!", und der Saal reagierte nur mit milder Verständnislosigkeit auf die von ihm dargelegte Idee, Mobilisierungen wie von Seattle und Nizza seien dafür gut, das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit der guten alten Zeit der 70er Jahre wiederherzustellen — weiter ging seine "Utopie" nicht.
Jean-Pierre Page von der Jean-Jaurès-Stiftung, der in einer Arbeitsgruppe die II.Internationale als Ansatz des weltweiten Kampfes für mehr soziale Gerechtigkeit hinstellen wollte, musste eher froh sein über den vorläufigen Konsens, den die Diskussion erbrachte: Wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen, können weder die II. noch die IV.Internationale das letzte Wort der Geschichte sein; es muss etwas Neues erfunden werden!
Der unmittelbar nach Nizza anstehenden wichtigste Termin ist das Weltsozialforum in Porto Alegre, der Stadt des "partizipatorischen Haushalts" im brasilianischen Rio Grande do Sul Mitte Januar 2001. Die Versammlung in Paris hat einen starken Willen ausgedrückt, die internationalen Mobilisierungen fortzusetzen und den positiven Wendepunkt "Seattle" zu verstärken: z.B. die Zusammenarbeit des kämpferischen Gewerkschaftsflügels mit den radikalisierten Jugendlichen.
Vertreterinnen des Weltfrauenmarschs betonten ihren Willen, sich unter Wahrung ihrer Autonomie in die gemeinsamen Aktionen und deren Vorbereitung zu integrieren. Doch darüber hinaus wurde viel darüber diskutiert, wie sich die weltweite Bewegung weiterhin strukturieren soll: Zwischen einer "Internationale der sozialen Bewegungen" und einer international organisierten, wenn auch pluralen politischen Strömung ist ein großer Unterschied. Einigkeit bestand darin, den entstandenen Raum für einen weltweiten Reflexionsprozess zu positiv formulierten Alternativen (mit dem Ausgangspunkt "Die Welt ist keine Ware") auszubauen und zu nutzen.

Manuel Kellner

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