Sozialistische Zeitung |
Über die aktuellen sozialen Bewegungen im globalen Kapitalismus ist schon viel geschrieben worden. Doch wie sehen die
Bezüge zu ihren Vorgängern aus? "Wir sind, weil andere sind", sagte Libia Grueso vom Proceso de los Comunidades Negras in Kolumbien
auf dem jüngsten Kongress der Bundeskoordination der entwicklungspolitischen Gruppen (BUKO). Diesen Satz kann man erst dann richtig verstehen, wenn
man zu den "anderen" die hinzu nimmt, die uns vorausgegangen sind: "wir sind, weil andere waren".
Nie kämpft man allein die Kämpfe der Gegenwart, und der Sieg, der morgen vielleicht
erkämpft wird, korrigiert auch die Niederlagen, die andere gestern hinnehmen mussten. Deshalb können wir die Dynamik sozialer Bewegung wie die
Perspektiven internationaler Solidarität nur so diskutieren, indem wir die fundamentale Niederlage sämtlicher systemoppositionellen Kräfte im
Blick behalten wodurch der Globalisierungsprozess erst so richtig in Fahrt gekommen ist. Historisch genauer gesprochen: Die Globalisierungsoffensive des
Kapitals beginnt in den 70er Jahren, und sie beginnt als Antwort auf seine globale Infragestellung Mitte bis Ende der 60er Jahre. Der kapitalistischen Globalisierung
geht also eine internationale Offensive der Systemopposition voraus. Der kapitalistischen Globalisierung gelingt es, diese Systemopposition zu brechen.
Der entscheidende Wendepunkt das ist keine neue Erkenntnis liegt um das Jahr
1989 herum, als mit dem Kollaps der Sowjetunion der ganze staatssozialistische Block einschließlich der an ihn gelehnten Entwicklungsstaaten zusammenbrach.
Auch ich gehörte damals zu denen, die die Dramatik der Lage nicht begriffen. Da ich nie
besondere Symphatien für das sowjetische Modell und seine diversen Varianten übrig hatte, begrüsste ich deren Verschwinden in der naiven
Annahme, dass jetzt die libertäreren Strömungen der Linken zum Zuge kommen würden. Stattdessen mussten wir alle zur Kenntnis nehmen, dass
eben nicht nur der sogenannte Staatssozialismus, gleichgültig welche besondere Tradition im einzelnen vertreten wurde, eine Niederlage erlitten hatte, sondern
es handelte sich um eine umfassende Niederlage.
Jeder mögliche Neubeginn muss die Konsequenzen dieser Niederlage anerkennen und
austragen. Mit Karl Heinz Roth gesprochen: wir müssen als "paradox wirkenden Pluspunkt" anerkennen, dass sämtliche "bewaffneten
oder unbewaffneten Varianten und Ansatzpunkte von sozialistischer, kommunistischer, sozialrevolutionärer oder anarchistischer Politik gescheitert sind".
Gelingt dies, können die verbliebenen Linken wieder miteinander ins Gespräch kommen und eine offene und vorurteilslose Debatte über eine
radikal emanzipatorische und zugleich nichtsektiererische Politik eröffnen. Dies sollte ab jetzt eine Basisbanalität linker Politik und internationaler
Solidarität sein.
Vergesslichkeit der Linken
Wer von einer Niederlage spricht, spricht von der Übermacht des Gegners. Viel ließe sich nennen, was diese Übermacht auch als Ursache
der Niederlage erscheinen lassen würde. Es reicht hier, an die infame Geschichte der chilenischen Konterrevolution des Jahres 1973 zu erinnern, die für
den weltweiten Siegeszug neo-liberaler Politiken entscheidend war. Damit würde allerdings übersehen, dass eine Niederlage immer auch auf Ursachen
zurückgeht, für die allein die Unterlegenen verantwortlich sind: Das Ende, das von außen hereinbricht, ist von innen vorbereitet worden.
Deshalb müssten wir vor allem anderen in Erfahrung bringen, welche Gründe auf Seiten
der Systemopposition ich verwende dieses Wort in einem sehr allgemeinen und zugleich nicht-identitären Sinn für diese Niederlage
verantwortlich waren. Doch auch hier wirkt sich die Niederlage aus, die eben auch darin besteht, uns von unserer eigenen Geschichte, unserer eigenen Tradition zu
trennen und jedes Bewusstsein darüber auszulöschen, dass wir geschichtliche Subjekte sind. Als solche aber leben wir nicht nur im gegebenen
Augenblick, sondern im offenen Prozess der sozialen Kämpfe, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht defintiv getrennt sind: Was gewesen sein
wird, entscheidet sich jetzt und morgen, ist Teil unserer Kämpfe, und nicht einfach nur ein vergangenes Ereignis. Wir arbeiten immer auch daran, die
Hoffnungen, Wünsche und Ansprüche zu erfüllen, die sich bis jetzt nicht verwirklichen konnten.
Tatsächlich ist die Verdrängung der Geschichte und das Verschütten nahezu jeder
Erinnerung an eine Alternative zum bestehenden System, mehr noch: schon an die bloße Möglichkeit einer solchen Alternative, die zentrale Strategie der
neo-liberalen Ideologen. Seit 1989 haben wir es mit einem Antikommunismus neuen Typs zu tun. Der alte gehörte zum Kalten Krieg, er erkannte die
kommunistische Alternative ausdrücklich an und versuchte, diese in jeder erdenklichen Form als die schlechtere Wahl, gar als das real existierende Böse
im Vergleich zum Guten des "freien Westens" und der liberalen Demokratie hinzustellen. Zur fundamentalen Schwäche der Linken gehörte
damals, der westlich-liberalistischen Kritik des Staatssozialismus nicht klar und deutlich genug mit einer linken Kritik des sowjetischen Modells begegnet zu sein
zu viele Linke hielten viel zu lange an angeblichen "Errungenschaften" der sogenannten "Arbeiterstaaten" fest.
Der neue Antikommunismus besteht demgegenüber in der Leugnung einer Alternative
überhaupt. Auch und gerade deshalb ist "Globalisierung" eines seiner Schlüsselwörter: Wir sollen begreifen, dass wir Bürger
Einer Welt und Einer Weltordnung, der Neuen Weltordnung sind, dass diese Weltordnung die Einzige ist, neben der es eine andere gar nicht mehr geben kann, neben
der andere nicht einmal denkbar sind wie Margret Thatcher sagte: There is no alternative!
Neuer Antikommunismus
Der neuere Antikommunismus koexistiert mit einer noch vor wenigen Jahren wohl für unmöglich gehaltenen Renaissance des Nationalismus,
und dieser, besser: diese Nationalismen treten nirgendwo ohne ihre nächsten Verwandten Ethnizismus, Rassismus und Sexismus auf. Die Palette reicht hier
d.h. im europäischen Zentrum und ohne Anspruch auf Vollständigkeit vom Menschenrechtsrassismus der Neuen Mitte, der ausserhalb
der liberaldemokratischen Metropolen nur finstere fundamentalistische Horden erkennen will, die notfalls unters zivilisatorische Kuratel der NATO als des
militärischen Arms der "westlichen Wertegemeinschaft" gestellt werden müssen, über den bürokratischen Staatsrassismus des
Schengensystems, den Wohlstandschauvinismus der gesellschaftlichen Mehrheit bis zum blutigen Straßennazismus der "drögen Kerls".
Die materielle Basis dieser Nationalismen liegt im ausschliessenden Charakter der kapitalistischen
Globalisierung: Während den Ländern des Südens und Ostens jede Entwicklungsperspektive genommen wird, schliessen sich die des Nordens in
einem System zusammen, in dem der Waren-, Dienstleistungs-, Informations- und Kapitaltransfer von allen staatlichen Grenzen entbunden wird. Die territoriale
Scheidung wird allerdings regional differenziert, es gibt Regionen des Südens im Norden und umgekehrt.
Keineswegs zufällig bewegen sich auch die von der ausschliessenden Globalisierung
hervorgebrachten sozialen Bewegungen zwischen Nationalismus und Internationalismus. In Seattle wie in Prag, in den Reihen der NGOs, der Gewerkschaften wie der
grassroot-AktivistInnen finden sich nicht wenige, die dem Terror der globalisierten Ökonomie die vorgeblich zivilisierende Bändigungskraft des
nationalen Staates entgegenhalten, guten Willens oder aus einer explizit reaktionären Position heraus. Andererseits ist der ausgeprägte und bewusst
akzentuierte internationale Zusammenhang das hervorstechendste Spezifikum dieser sozialen Bewegungen. Die einen halten der Neuen Weltordnung des globalen
Kapitalismus die Integrität nationalstaatlicher Demokratie entgegen, die anderen setzen gegen die Globalisierung des Systems auf die Globalisierung der
Systemopposition. Für weitere Verwirrung und das meine ich nicht abschätzig, sondern beschreibend sorgen Ungleichzeitigkeiten
verschiedenster Art: verspätete nationale Befreiungskämpfe, die durch besondere Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse auch dann
gerechtfertigt sind, wenn sie historisch kaum eine Chance haben, und spiegelverkehrt dazu abstrakte Antinationalismen, in denen sich allerdings die nahezu
unüberwindliche Abschottung der herrschenden Verhältnisse gegen jeden emanzipatorischen Aufbruch reflektiert findet.
Dieses merkwürdige Doppel führt zu der Notwendigkeit zurück, nach den inneren
Ursachen der Niederlage von 1989 zu fragen und die abgerissene Verbindung zur Tradition der Linken und der historischen sozialen Bewegungen wiederherzustellen.
Denn der Konflikt zwischen internationalistischem "Fernziel" und nationalstaatlicher "Tagespolitik", zwischen internationaler
Solidarität und nationaler Organisation bestimmt die sozialen Bewegungen nicht erst seit Seattle, sondern schon seit den Anfängen der Arbeiterbewegung
im 19.Jahrhundert. Die im September 1864 gegründete Internationale Arbeiterassoziation, die so genannte Erste Internationale, war ein Zusammenschluss von
lokalen Bünden, Vereinen und Clubs und ging der Gründung nationaler Arbeiterparteien und Gewerkschaften voraus, zu der es erst kam, nachdem die
Internationale am Streit zwischen Bakunin- und Marx-Anhängern zerbrochen war. Das Besondere und vielleicht gerade heute Beispielhafte der Ersten
Internationalen bestand darin, dass sie Brücke zwischen der Organisation vor Ort und der internationalen Assoziation war und die national(staatlich)e Ebene
gleichsam übersprang. Die 1889 aus der Spaltung der Ersten hervorgegangene Zweite Internationale wollte sich dem drohenden Ersten Weltkrieg noch 1913
durch einen internationalen Generalstreik entgegenstellen; ein Jahr später unterstützten ihre nationalen Sektionen, allen vorweg die deutschen
Sozialdemokraten, die Kriegführung ihrer nationalen Regierungen. Die 1919 gegründete Dritte Internationale sollte ursprünglich die Permanente
Proletarische Weltrevolution organisieren; als diese ausblieb, wurde sie zum Machtinstrument sowjetischer Außenpolitik.
Was in diesem Scheitern jeweils auch zur Entscheidung anstand, war das sozialistische oder
kommunistische Politikverständnis. Die Entscheidung für die nationale Organisation war immer auch Entscheidung für den nationalen Staat,
für eine Politik, zu deren Kern die Eroberung der Staatsmacht zählte, für, in Stalins Worten, den "Sozialismus in einem Land". Der
stets abgedrängte Internationalismus war demgegenüber wenn nicht staatsfeindlich so wenigstens staatsfern.
Globalisierte Linke
Das gilt auch für die Neue Linke der 60er Jahre. Solange sie sich primär als antiautoritäre Bewegung verstand, wollte sie unmittelbar Teil
einer so Rudi Dutschke wörtlich auf dem Vietnam-Kongress von 1968 "Globalisierung der revolutionären Kräfte"
sein. Am Ende dieses Prozesses aber stand die Integration der Mehrheit der der Neuen Sozialen Bewegungen in einen nationalstaatlich beschränkten
Modernisierungsprozess, dessen konkrete historische Organisation, die Grüne Partei, den ersten deutschen Kriegseinsatz nach 1945 mitbefehligte. Die
verbliebene Minderheit wurde in diesem Prozess marginalisiert und verfügt gegenwärtig über keine gesellschaftliche Relevanz.
Die Orientierung auf den Staat und d.h. notwendig auf den nationalen Staat ist die
wesentliche innere Ursache der Niederlage von 1989 und der ihr vorangegangenen Niederlagen und zwar auch der, die zunächst Siege zu sein schienen.
Dies gilt nicht etwa nur für wesentliche Teile der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegungen in Deutschland, es gilt in entsprechend
unterschiedlicher Form auch für die Revolution von 1917, für die sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Parteien und
Gewerkschaften, und es gilt für die antikolonialen Revolutionen des Trikont.
Nun lässt sich dieses Dilemma nicht einfach korrigieren wie eine verpfuschte Rechenaufgabe;
und eine Lösung kann ich hier nicht einmal skizzieren. Festhalten will ich lediglich drei Dinge:
Erstens kann emanzipatorische Politik nur eine internationalistische Politik sein, mindestens deshalb,
weil es zum globalisierten Kapitalismus nur eine globale Alternative geben kann. Ein Neuer Internationalismus aber kann heute nur noch als gemeinsame Aktion auf
der Grundlage selbstbestimmter Gegenseitigkeit verstanden werden als Gegenseitigkeit eines globalen Demokratisierungsprozesses, der sich an den
unterschiedlichsten lokalen und subjektiven Bedingungen entzündet und deshalb notwendig widersprüchlich sein und bleiben wird, und deshalb in sich
selbst plural und demokratisch organisiert werden muss. Wenn es so etwas wie eine "zapatistische Lektion" gibt, dann liegt sie darin.
Zweitens muss mit der Orientierung am nationalen Staat das am Staatshandeln orientierte
Politikverständnis überwunden werden, das in der Organisation der sozialen Bewegung den künftigen Staatsapparat vorwegnehmen wollte. Der
globale Kapitalismus wurzelt nun aber nicht in einer Verschwörung der "Mächtigen" in Staat und Ökonomie, sondern im Ganzen der
alltäglich gelebten Produktions-, Konsum- und Lebensformen, auch und gerade in dem, was man unverstanden so oft als ‚Zivilgesellschaft bezeichnet.
Die Globalisierung ist keine abstrakte Supermacht, sondern das gesellschaftliche Verhältnis, das auch uns selbst einschließt und das auch wir
reproduzieren, in unserem alltäglichen Verhalten, unserer Lebensführung, in der Form unserer sozialen Beziehungen. Deswegen beginnt der
Internationalismus mit einer widerständigen Selbstorganisation in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und mit dem alltäglichen Widerstand
gegen das "nationale Interesse". Dies reicht vom praktischen Einsatz für das unbedingte Recht einer jeden und eines jeden, sich hier in Frieden
niederzulassen, bis hin zur Partizipation an dem, was sich seit Seattle in sehr widersprüchlicher Weise als "Anti-Globalisierungsbewegung"
abzuzeichnen beginnt.
Drittens ist damit eine Neukonzeption des Solidaritätsbegriffs selbst verbunden. Traditionell
zielte Solidarität auf die Vereinheitlichung und Vereinigung der Vielen, auf die Herstellung eines alle einzelnen umfassenden Bandes und war deshalb ein
Prinzip des Einschlusses, der Identität. Wenn ich dem entgegenhalte, dass Solidarität immer dem oder der Anderen gilt, dann meine ich damit in einem
radikalen Sinn, dass sie dem oder der gilt, die nicht mir gleich sind, die nicht zur Gemeinschaft der Gleichen gehören. Sie ist damit kein Prinzip der
Identität, sondern eines der Differenz, der Vielheit und nicht der Einheit. Deshalb ist die kommende Internationale nicht das, was alle Nationen einschliesst und
vereinheitlicht, sondern dass, was aus den Nationen auf- und ausbricht, was sie durchquert und sich davonmacht, was ins Freie und Andere fortzieht. Sie ist die
Internationale des Anderen.
Neue Internationale
Wie schaffen wir diesen Internationalismus, diese Neue Internationale? Auch hier möchte ich, zum Abschluss, an die von neo-liberaler Ideologie
täglich neu verdrängte Geschichte erinnern. Als sich Marx und Engels 1846 über den Sinn ihres eigenen Unternehmens verständigten,
fanden sie die folgende, berühmte Formulierung: "Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach
die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser
Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung."
Ich bin mir nicht sicher, ob der Begriff des Kommunismus noch aktuell ist. Für die sich
hoffentlich bald deutlicher zu Wort meldende Neue Internationale aber gilt wohl ebenso, dass sie kein "Zustand" sein darf, der hergestellt werden soll
d.h. keine bloße Utopie, und dass sie kein "Ideal" sein darf, "wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird", d.h. kein
bloß moralisches Postulat. Um herauszufinden, ob die Neue Internationale wirklich die "Bewegung" sein wird, "welche den jetzigen Zustand
aufhebt", bleibt uns nur eine Möglichkeit: uns an dem zu beteiligen, was auf eine solche Bewegung hindrängt, uns selbst auf diese Bewegung
einzulassen, in all ihren Widersprüchen, in all ihrer Brüchigkeit. Nichts garantiert den Erfolg dieser Bewegung, ihr liegt kein
weltgeschichtsmächtiges Supersubjekt zu Grunde, dass sich nur seiner selbst bewusst werden müsste. Nichts garantiert, dass eine solche Bewegung nicht
neue Fehler, neue Irrtümer, auch neue Verhängnisse produzieren wird. Und doch speist sich jede Internationale und jeder Internationalismus aus einer
nicht abzuweisenden Evidenz: Etwas besseres als die Nation finden wir immer.
Thomas Seibert
Thomas Seibert arbeitet bei medico international.
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