Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.03 vom 31.01.2001, Seite 4

Vergangenheitsbewältigung — oder:

Hast du dich heute schon distanziert?

Scheinbar zufällig fielen im Januar zwei Ereignisse zusammen, die über den Zustand der politischen Kultur hierzulande zehn Jahre nach dem Anschluss der DDR und dem Untergang des "Realsozialismus" nicht deutlicher Aufschluss geben könnten: Die Diskussion um die Biografie bestimmter Führungsfiguren der Grünen und die Feiern zum 300.Jahrestag der Königskrönung Friedrich I. von Preußen.
Beide Ereignisse sind nach Art der kommunizierenden Röhren miteinander verbunden: Während zahlreiche Kommentatoren sich bemühten, den preußischen Obrigkeitsstaat stark zu relativieren und die preußische Geschichte aus "Blut und Eisen" in eine Aufklärungsmär umzulügen, wird die Geschichte der 68er von den Rechten mehrheitlich als eine (selbstredend grundlose) Verirrung in die Gewalt präsentiert. Allenthalben ist man sich einig, dass es außerhalb des staatlichen Gewaltmonopols kein Heil geben könne.
Bei manchen konservativen Kommentatoren (vor allem der Springer-Presse, die die Kampagne wohl als eine Art Rache für damals losgetreten hat) fühlt man sich an den preußischen Historiker, Chefideologen und Hetzer gegen alles "Unpreußische", Heinrich von Treitschke erinnert, der einst von der "sittlichen Heiligkeit des Staates" phantasierte. Menschen, die verdächtigt werden, sich in den Bewegungen der 60er und 70er Jahre politisch "links" engagiert zu haben, werden aufgefordert, sich zu distanzieren; wer diese Absetzbewegung nicht glaubwürdig genug über die Lippen bringt wie etwa Jürgen Trittin, steht im Verdacht, noch immer mit womöglich "klammheimlicher Freude" zu den Sünden der Jugend zu stehen. Die neuen Exorzisten möchten den Teufel der 68er- Bewegung mit Stumpf und Stiel austreiben.
Die Fragestunde im Bundestag wurde auf Seiten der Union von aufstrebenden Jungspunden wie Eckart von Klaeden und Sylvia Bonitz zu Denunziationen von der Art eines McCarthy im "Ausschuss gegen un-amerikanische Umtriebe" genutzt. Ihre Fragen legten immer nahe, dass die Frankfurter Sponti-Szene insgesamt ein Sprungbrett zur RAF gewesen sei: Haben Sie den Terroristen Carlos getroffen? Haben Sie Hans-Joachim Klein unterstützt? Haben Sie Margit Schiller beherbergt? Fischer wiederholte in altkatholischer Weise sein Sündenbekenntnis: "Ja, ich war militant, ich habe mit Steinen geworfen. Ich wurde geprügelt, aber ich habe auch Polizeibeamte geschlagen. Dazu stehe ich." "Ich war damals kein Demokrat, sondern Revolutionär, aber mit dem Freiheitsanspruch." Und dann folgte zum wiederholten Mal die Entschuldigung bei allen, denen er Unrecht getan habe.
Doch Fischer kann sagen was er will, er kann seine Treue zum Westen als Madeleine Albrights Schoßhund bezeugen, ja sogar unter Bruch des Völkerrechts den Kriegseinsatz der Bundeswehr und der NATO gegen Jugoslawien billigen — kein Kotau vor den Interessen des Staates und der Bourgeoisie ist tief genug, als dass ihm nicht einige ein "ungenügend" zuriefen.
So der CDU-Fraktionsvorsitzende Merz in der Art von Molières Tartuffe, der "allen im Hause" ein Recht auf Irrtum zubilligte, aber: "Sie sind heute einer der maßgeblichen Repräsentanten dieses Landes. Deshalb müssen Sie sich, ob Sie wollen oder nicht, die Frage gefallen lassen, wie Sie es heute mit den Grundentscheidungen unserer Verfassung halten und wie Sie heute zur Anwendung politischer Gewalt stehen." Und so warf er Fischer vor, "kein klares und unmissverständliches Bekenntnis zum Gewaltmonopol des Staates abgelegt", sondern sich immer "ein Hintertürchen" offengehalten zu haben, um, wenn es die politische Opportunität erlaube, doch noch Gewalt anzuwenden. "Das widerspricht zutiefst dem, was eine Demokratie ausmacht", wusste der älter gewordene Rowdy, der in jüngeren Jahren Müllbehälter durchs Fenster in ein SPD-Lokal geworfen hat.
Hans-Peter Uhl von der CSU, der vor einigen Jahren in München als Chef des Kreisverwaltungsreferats beim Schikanieren und Drangsalieren von AusländerInnen hervorgetreten war, beschimpfte die "APO-Bewegung" gar als Verrat an der Demokratie. Den Terrorismus der 70er Jahre hätte es nicht geben können ohne Sympathisantenszene, und zu dieser habe auch Fischer gehört. Daher habe die "deutsche Öffentlichkeit" ein Recht darauf, zu erfahren, "welche Rolle er wirklich gespielt" habe.
Das schönste Stück Biedermeier gelang in dieser Fragestunde zur Vergangenheit von Joschka Fischer der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel, als sie voll Inbrunst und rechtgläubigem Pathos ausrief: "Unser Staat, die Bundesrepublik Deutschland, ist seit 1949 ununterbrochen eine freiheitliche, solidarische, weltoffene Republik, auf die wir stolz sein können. Mit dieser Sicht können wir gemeinsam weiterarbeiten, aber nicht mit Ihrem Geschichtsbild. Das ist die Wahrheit." Die Pfarrerstochter forderte Fischer gleichzeitig zu Reue und Buße auf, ohne allerdings zu erklären, ob er zwei Rosenkränze beten oder in der Toskana eine Wallfahrt mit Erbsen in den Schuhen unternehmen solle. Jedenfalls gibt es außerhalb des Staates (und der Kirche?) kein Heil.
Man kann der CDU-Vorsitzenden vielleicht zubilligen, im berühmten "Tal der Ahnungslosen" gelebt und daher nicht mitbekommen zu haben, von wem die Gewalt in den sechziger und siebziger Jahren zumeist ausging. Eine Lektüre der Süddeutschen Zeitung (vom 17.1.) hätte sie aufklären können:
"Die Chronologie der rasch gewalttätiger werdenden Geschehensabläufe wurde erweislich nicht durch die Aktivitäten von ,Putztruppen‘ wie jener, der Joschka Fischer angehörte, beschleunigt, sondern in erster Linie … durch das taktische Kalkül der Polizei, die sich dabei politisch gedeckt wusste. In der damals erprobten Straßenkampftaktik des Einkesselns und wahllosen Niederknüppelns von Demonstranten kam unübersehbar ein Machtzynismus zum Vorschein, der bewusst darauf spekulierte, Gewalttaten zu provozieren, die dann die nachträgliche Rechtfertigung für den exzessiven Missbrauch des Gewaltmonopols lieferten. Nicht ausgeschlossen auch, dass sich dieser unbedingte Wille zur Eskalation, der die Polizeitaktik prägte, mit der Biografie der damaligen Polizeiführer erklären ließe, die ihre Ausbildung und berufliche Prägung noch zu Zeiten erfahren hatten, als das Grundgesetz noch lange nicht in Geltung war."
Selbst der damalige Frankfurter Polizeipräsident Knut Müller, ein Hardliner und SPD- Mitglied (dem aber eine solche Vorgeschichte nicht nachgesagt werden kann), räumte inzwischen unumwunden die "übertriebene Härte" der Polizei ein und stellte fest, dass die damalige Hausbesetzerbewegung, das Ziel zahlloser Polizeieinsätze und Knüppelorgien, "das Frankfurter Westend vor der Zerstörung durch Hochhausbauten bewahrt" hat.
Worum geht es also bei dieser Kampagne? Offenbar proben Springerpresse und die krisengebeutelte Union, nachdem der Antikommunismus seine Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit eingebüßt hat, neue Formen gesellschaftlicher Polarisierung, um bei den Bundestagswahlen 2002 vielleicht doch noch eine Chance zu haben. Bei der FDP wurde überdeutlich, dass sie gerne mit der SPD ins Regierungsbett steigen und Westerwelle Fischer als Außenminister beerben möchte.
Interessant ist dabei, dass die FAZ als Zentralorgan der deutschen Bourgeoisie sich an dieser Kampagne nicht so richtig beteiligen mag, wohl weil es für sie am Weg der Grünen im Grundsatz wenig auszusetzen gilt. Bekanntlich herrscht im (bürgerlichen) Himmelreich über einen reuigen Sünder mehr Freude als über 99 Gerechte.

Paul B. Kleiser

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


zum Anfang