Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.03 vom 31.01.2001, Seite 12

Gewerkschaften in Chile

‘Sagt dem Arbeiter, dass er kämpfen kann!‘

Viele chilenische Arbeitsgesetze stammen noch aus der antigewerkschaftlichen Ära Pinochets. In den Jahren 1990 bis 1994 passierten einige Reformen das Parlament. Doch im Dezember 1999 vereitelte der Senat wieder ein Gesetz, das Millionen Arbeitern die Möglichkeit geben sollte, Tarifverhandlungen mit den Unternehmerverbänden zu führen und Tarifverträge für ganze Branchen abzuschließen. Dadurch bleiben die meisten Beschäftigten weiterhin auf das Aushandeln individueller Arbeitsverträge, höchstens betrieblicher Vereinbarungen beschränkt.
Nicht selten lässt der Unternehmer die Arbeiter ein leeres Blatt unterschreiben — und heftet anschließend die von ihm allein festgelegten Bedingungen dazu", berichtet Manuel Ahumada. Der Vorsitzende der Gewerkschaft für Tourismus, Lebensmittelindustrie, Restaurant- und Hotelwesen Chiles besuchte im Januar die BRD auf Einladung der Gewerkschaft Nahrung-Genuss- Gaststätten (NGG) in Frankfurt am Main.
Die NGG gestaltete für den chilenischen Gewerkschaftssekretär ein reichhaltiges Informations- und Veranstaltungsprogramm. Er traf sich mit dem NGG-Vorsitzenden Franz-Josef Möllenberg und dem früheren Chefredakteur von Metall, Jakob Moneta, der im Auftrag der IG Metall 1973 unmittelbar nach dem Putsch nach Chile gereist war, um verfolgten Gewerkschaftern bei der Ausreise zu helfen. Anschließend wurde Manuel Ahumada vom Ersten Bevollmächtigten der IG Metall in Würzburg, Werner Ring, empfangen. Die Betriebsräte der Nestlé-Hauptverwaltung in Frankfurt, von McDonald‘s in Wiesbaden, der Erdnuss-Fabrik Felix in Dortmund, des Siemens-Werks in Würzburg und der Südzucker-Filiale in Ochsenfurt führten ihn durch "ihre" Unternehmen. Mit dem Betriebsratsvorsitzenden des Frankfurter Marriott-Hotels, Yürdakul Küroglu, vereinbarte er den Aufbau direkter kooperativer Beziehungen: Widersetzt sich die Geschäftsleitung von Marriott in Santiago der Wahl eines Betriebsrats, dann wird internationale Solidarität von der BRD aus organisiert.
Wie kompliziert sich die Verhältnisse für die Gewerkschaften in Chile darstellen, zeigt nicht nur die immer noch überwiegend repressive, unternehmerfreundliche Gesetzgebung. Die faschistische Diktatur manipulierte und zerstörte auch das Bewusstsein zahlreicher abhängig Beschäftigter. "Beim Übergang zur bürgerlichen Demokratie zerbrach die gewerkschaftliche Einheit, weil sie während der Diktatur nicht an der Basis entwickelt worden war", erläutert Manuel Ahumada. "So glauben die Arbeiter heute noch, nicht sie selbst seien die Gewerkschaft, sondern eine kleine Gruppe an deren Spitze."
Zudem fehle eine umfassende gewerkschaftliche Infrastruktur — Versammlungshäuser und Druckereien: "Wir entdeckten, dass wir nackt sind!" Und die Betreuung der Betriebe im äußersten Norden oder Süden des Landes bleibt äußerst beschwerlich, setzt sie doch häufig eine 24- oder gar 52-stündige Busfahrt des Gewerkschaftssekretärs voraus. Unter solchen Bedingungen zerschlägt sich jede Hoffnung auf ein schnelles und breites Organisieren der abhängig Beschäftigten.
"Wir müssen die politische wie organisatorische Krise der Arbeiterbewegung überwinden und die gewerkschaftliche Arbeit wiederbeleben", beschreibt Manuel Ahumada seine Strategie. "Den arbeitenden Menschen ist wieder bewusst zu machen, dass sie einer Klasse angehören." Dazu zähle auch, sich "als Subjekt in den Auseinandersetzungen zu begreifen".
Hierzu verteilte seine Gewerkschaft im letzten Jahr auf den Straßen, vor Betrieben und Kaufhäusern 40000 Flugblätter mit dem einfachen Aufruf: "Sagt dem Arbeiter: Du hast Rechte! Sagt ihm, dass er kämpfen kann!" Die für eine unkomplizierte Kontaktaufnahme angegebene Telefonnummer wurde fortan täglich mehrere dutzend Male angewählt. Parallel schuf die Gewerkschaft zwei regionale Radiosender, die diese allgemeinverständliche Botschaft durch aktuelle Berichte und Informationen untermauern.
Gleichzeitig sollen die Menschen motiviert werden, auch "in anderen Gremien — den Elternbeiräten an Schulen oder den Initiativen der Arbeitslosen und Rentner — aktiv mitzumachen". Der Gewerkschaftssekretär legt dabei großen Wert auf die eigenen Erfahrungen der abhängig Beschäftigten. So organisierte er im Sommer 2000 eine Diskussion mit dem chilenischen Arbeitsminister, der wie alle Politiker bei seinen Zuhörern viele Hoffnungen weckte. Weil er seine Versprechen nicht einhielt, reagierte die Gewerkschaft wenige Monate später mit einem öffentlichkeitswirksamen Hungerstreik vor dem Ministerium. Das Ziel ist bei allen Aktionen dasselbe, meint Manuel Ahumada: "Wir wollen das Bewusstsein entwickeln, dass arbeitende Menschen keine Sklaven sind und dass sie ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben."
Das zeige sich schon im Alltag; beispielsweise bei der Benutzung von Schwimmbädern. Viele Arbeiter kennen diese Einrichtungen, aber nicht aus persönlichem Erleben. Die Gewerkschaft sage ihnen deshalb: "Es gibt sie, und sie stehen Euch zu!"
Wie mühsam und langwierig der Weg ist, die abhängig Beschäftigten für die Wahrnehmung ihrer Interessen zu mobilisieren und zu organisieren, veranschaulicht Manuel Ahumada mit dem Hinweis auf die Zuwachsraten der Mitglieder der Gewerkschaften seines Landes. Noch während der Pinochet-Diktatur verzeichneten sie ab 1986 einen jährlichen Anstieg der Mitgliedschaft um 7%. Die Hoffnung auf eine umfassende Demokratisierung und Verbesserung der Lage brachte 1990 etwa 15% und 1991 nochmal 10% mehr in die Gewerkschaft.
Doch schon im folgenden Jahr (ver)endeten die Aufbruchstimmung und das Vertrauen auf die angekündigten Veränderungen, und der Zuwachs an neuen Mitgliedern lag mit 3,5% gerade mal bei der Hälfte des vom Faschismus geprägten Jahres 1986. Manuel Ahumada schlussfolgert aus diesem Dilemma die sprichwörtliche Erkenntnis aller unterdrückten Völker: "Statt zu stolpern, sind wir auf die Erde gefallen. Aber jene, die hinter uns kommen, zwingen uns, wieder aufzustehen."
Auf Grund des eingehenden Gesprächs mit Manuel Ahumeda kam der Vorsitzende der NGG, Franz-Josef Möllenberg, zu dem wichtigen Schluss: "Wenn wir euch nicht durch unsere Internationale in euren Kämpfen um bessere Arbeitsbedingungen und Einkommen beistehen, droht auch uns das Absinken ins Elend. Solidarität im Kampf gegen die internationalen Konzerne ist auch in unserem eigenen Interesse eine absolute Notwendigkeit."
Eine Delegation der NGG wird mehrere Länder in Lateinamerika, darunter auch Chile, aufsuchen, um sich an Ort und Stelle über die Möglichkeiten der Koordination gewerkschaftlicher Aktivitäten zu infomieren.

Horst Gobrecht

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