Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 14.02.2001, Seite 2

Eine alte Hymne für Russland

von Boris Kagarlitzki

[Zum Jahreswechsel hat die russische Regierung die Melodie der letzten sowjetischen Nationalhymne als Melodie der neuen russischen Nationalhymne übernommen. Ihr Komponist war Alexander Alexandrow.]
Die liberale Intelligenz hat argumentiert, die Musik von Alexander Alexandrow sei die "Hymne der Kommunistischen Partei der Sowjetunion" gewesen. Tatsächlich war die Hymne der Partei die "Internationale", und sie war bis 1942 auch die Hymne der Sowjetunion. Mitten im Krieg traf Stalin eine Reihe von Entscheidungen, um mit den alten revolutionär-kommunistischen Symbolen und Traditionen zu brechen. Er gab den Offizieren ihre Schulterstücke zurück und ersetzte die "Volkskommissare" durch Minister. Er klärte das Verhältnis zur russisch-orthodoxen Kirche und löste die Komintern auf.
Die Alexandrow-Hymne war von Anfang an als offenes Signal der Rückkehr zu Stil und Methoden der alten Monarchie gedacht. Sie war die Parteiversion von "Gott schütze den Zaren". Indem er diese Hymne mit dem zaristischen Doppeladler zusammenbringt, vollendet Präsident Putin nur, was Stalin begonnen hat. Die Rückkehr zur Musik der Sowjethymne soll das derzeitige Regime stärken, wie die Rückkehr zu zaristischen Symbolen Stalin stützen und der Sowjetmacht Legitimität geben sollte.
In diesem Sinn sind die Begriffe "sowjetisch" und "sozialistisch" nicht nur nicht dasselbe, sie sind vielmehr direkt gegensätzlich. Putin ist für alles "sowjetische", obwohl er kapitalistisch ist. Die "Sowjet"- Symbole sollen die Herrschaft der neuen Privateigentümer stützen (die nicht zufällig aus der alten Parteielite hervorgegangen sind).
Ich denke, die Intelligenzler glauben wirklich, die Wiederherstellung der Sowjethymne bereite irgendwie den Weg zur Rückkehr zu den Sowjetmethoden. Die Sowjetunion aber liegt weit in der Vergangenheit, und der "point of no return" [die Möglichkeit der Umkehr] ist längst überschritten. Die Leute im Kreml haben absolut kein Interesse, die "Ergebnisse der Reformen" rückgängig zu machen, durch die sie zu Macht und Reichtum kamen. Auch die Mehrheit der Bevölkerung sehnt sich nicht nach der Sowjetzeit zurück, als wir eingesperrte Dissidenten, eine große Armee und Militärberater in Afrika hatten. Sie sehnen sich aber nach dem kostenlosen (und wahrscheinlich weltbesten) Bildungssystem zurück. Sie erinnern sich, wie sie ihre Löhne pünktlich bekamen und — nach ein oder zwei Stunden Schlange stehen — für das Geld sogar etwas kaufen konnten.
All die armen Teufel ohne Geld und Essen bekommen jetzt Alexandrows Nationalhymne. Zweimal täglich, mindestens. Die Leute werden zwar nicht weniger hungrig sein, aber die bekannten Klänge werden ihnen helfen, sich an den Geschmack längst vergessener Speisen zu erinnern. Ist das nicht ergreifend?
(aus: Inprekorr, Nr.352, Februar 2001)

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