Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 14.02.2001, Seite 3

Tute Bianche und Widerstandskultur

Die internationale Bewegung gegen die kapitalistische Globalisierung hat unterschiedliche Strömungen und Aktionsformen hervorgebracht. Herausragend unter ihnen die Tute Bianche, deren Selbstverständnis wir nachstehend dokumentieren.
Spätestens seit den Protesten in Prag anlässlich des IWF/Weltbankgipfels sind die Bilder der Tute Bianche, der weiß gekleideten und gepolsterten AktivistInnen aus Italien, wie ein Mythos um die ganze Welt gegangen. Hinter der Aktionsform verbirgt sich eine Suche nach einem Prozess der Befreiung aus den Zwängen der kapitalistischen Welt.
"Wir sind eine Armee von Träumern, deshalb sind wir unbesiegbar", schreiben die AktivistInnen auf ihren Transparenten und in Broschüren. Nach Prag fuhren fast 900 von ihnen aus Italien mit dem Zug, dem Global Express. Davon haben sich ca. 100 aktiv an der Aktion der Tute Bianche beteiligt. Hinter ihnen stand eine grosse Menschenmenge, die sie unterstützte, neben ihnen die Medien aus der ganzen Welt und vor ihnen die Robocops des Staates mit Panzern, Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray. Die sog. Demokratie des IWF und der Weltbank hinter Panzer und Gittern.

"Wenn die Welt verkauft wird, ist rebellieren selbstverständlich."

Die Tute Bianche sind gut ausgerüstet und benutzen dazu hauptsächlich billige Materialien und ihre Kreativität: Matratzen, alte Reifen, Baustellenhelme, Rettungsjacken, Armpolster aus Isomatten und Isolierband, Gasmasken, aber auch Luftballons, Wasserpistolen oder selbstgemachte Schutzschilder.
Wieso? "Gegen eine Welt, in der das Geld alles regiert, bleiben uns nur noch unsere Körper, um gegen die Ungerechtigkeit zu rebellieren", meint Don Vitaliano, ein Pfarrer, der auch unter den Tute Bianche zu finden ist. "Wir sind nicht bewaffnet, wir agieren als Menschen und setzen unsere Person ins Spiel. Wir fürchten uns vor der Polizeigewalt, deshalb schützen wir uns."
Die Aktionsform begann vor knapp einem Jahr in Italien und überraschte alle durch ihren Erfolg. Im Januar 2000 gab es in ganz Italien Mobilisierungen gegen Abschiebeknäste. Mehrere zehntausend Menschen gingen auf die Straße. Die Demonstration gegen den Abschiebeknast in Via Corelli war ein besonderer Erfolg. Die Tute Bianche hatten ihre Entschlossenheit angekündigt, in den Abschiebeknast einzudringen und ihn zu schließen. Mehrere tausend Tute Bianche marschierten an der Spitze des Zuges und mussten stundenlang Auseinandersetzungen mit der Polizei aushalten, bevor diese aufgab und die Leute ins Lager eindringen konnten. Abends kündigte der Innenminister die Schliessung von Via Corelli an.
Die aufgeblasenen Reifen dienen dazu, die Schlagstöcke der Robocops zurückprallen zu lassen. "Über 150 Tränengaspatronen haben wir bei dieser Aktion gezählt", grinst ein junger Aktivist. Die rauchenden Tränengaspatronen werden in Kisten oder unter Eimer geworfen, um sie zu neutralisieren. Es erinnert an eine Beschreibung Ghandis des zivilen Ungehorsams: "Feuer mit Wasser löschen".
Seitdem sind Tute Bianche auf vielen Mobilisierungen zu sehen: antifaschistischen Demos, Mobilisierungen gegen den OECD-Gipfel in Bologna oder gegen die Eröffnung der Gentechweltausstellung in Genua — hier sind sie bis zum Eingang vorgedrungen und haben die Ausstellungsleiter zur Debatte gezwungen.

Zapatismus, Ya Basta und Tute Bianche

Ya Basta ist nicht gleich Tute Bianche. Tute Bianche ist hauptsächlich eine Aktionsform und ein Selbstverständnis. In ihr erkennen sich verschiedene Menschen, Gruppierungen und politische Strömungen wieder; sie prägen die Art der Aktionsform.
Ya Basta ist ein Netzwerk von Gruppen, das sich mit dem Aufstand der Zapatistas in mehreren Städten Italiens gebildet hat, und eine der politischen Strömungen, die zur Herausbildung der Tute Bianche beigetragen haben: "Die Zapatistas haben einen wichtigen Beitrag geleistet, mit ihren Ideen Politik zu machen, ohne um die Macht zu kämpfen. Wir versuchen, diese Botschaft zu übersetzen, und unsere eigene Ausdrucksform zu finden."
Inspiriert wurden die AktivistInnen, als sie selbst in den chiapanekischen Dschungel Südmexikos anlässlich eines interkontinentalen Encuentros reisten. "Am Anfang haben wir über frühere Formen der direkten Aktion diskutiert, Sabotage, revolutionäre Gewalt usw. Wir haben daraus geschlossen, dass unter den aktuellen Bedingungen der Zivilgesellschaft der Einsatz unserer Körper als Waffe die Kräfte derjenigen Menschen freisetzen könnte, die auf die alten Formen und Schemata nicht reagiert haben. Es ist eine kreative Form, die andere Seite in ein Problem mit einzubeziehen. Mit gewaltfreien Mittel der direkten Aktion bleibt die Sprache der Gewalt auf der Seite der Polizei und des Staates. Klassische Demonstrationen beeindrucken sie nicht mehr, jetzt sind wir als BürgerInnen ungehorsam, sie schlagen zurück, aber wir verteidigen uns. Das weckt die Aufmerksamkeit der Menschen und gibt unserem Protest ein Echo."
Diese konfrontative Haltung macht Sinn: Das tiefverwurzelte (Selbst)bild des Staates als eine Institution, die die Interessen aller vereint, ist im neoliberalen Zeitalter stark am bröckeln, in Italien auf jeden Fall früher als in der BRD. Ein offen zum Ausdruck gebrachter Interessengegensatz zwischen den legitimen Bedürfnissen der Bürger und den staatlichen Maßnahmen ist eine gute Voraussetzung für emanzipative Prozesse — weg von der Forderung an den Staat, sozial abfedernd zu agieren oder ökonomisch steuernd zu intervenieren mit dem Anspruch, einen Wohlstand für alle zu sichern.
"Unser Beitrag ist eine radikale Form der Konfrontation, die über die klassischen Formen der Demonstration hinaus geht und die Möglichkeit einer Massenbeteiligung mit sichereren Methoden ermöglicht. Junge Leute sehen, dass der Einsatz ihres vor der Polizei geschützten Körpers klare Wirkungen hat. Die Bewegung wächst. Wir sind keine politische Gruppe, es handelt sich um eine horizontale Bewegung, in der jede Person auf ihre besondere Weise zur Debatte und Organisation beiträgt. Alles ist miteinander verbunden, es gibt Leute allen Alters. Alte Modelle von Avantgarden und Anführer sind vorbei."
In einem Flugblatt schreiben sie: "Wir haben uns eine neue Herausforderung gesetzt: Wir wollen aus dem Boden sprießen, uns auf diese Weise in den Aufbau der Gesellschaft einzubringen, die Selbstverwaltung und Selbstorganisation fördern, die in den letzten Jahren aufgebaut wurde. Wir wollen uns vom Widerstand in die Offensive kommen, hin in die Arena der Träume, der Rechte, der Freiheit, für die Eroberung der Zukunft zu kämpfen, die heute den neuen Generationen verweigert wird."
Wie die Zapatistas erkennt Ya Basta, dass die Befreiungsprozesse notwendigerweise kontinuierlich in Frage gestellt und neu definiert werden müssen. "Wir gehen mit Fragen auf unseren Lippen", sagen sie, "nicht mit Befreiungsstrategien, die als absolute Wahrheit festgelegt werden. Diese Tabus, die die Bewegungen der Vergangenheit charakterisiert haben, müssen wir hinter uns lassen."

Die Unsichtbaren sichtbar machen

Die weißen Overalls werden als Symbol der Unsichtbarkeit getragen, als Ausdruck der "Nichtidentität" (siehe "sans papiers"). Die Aktionsform hat eine stark symbolische Wirkung und kommunikative Stärke. Der Aufbau einer gesellschaftlichen Praxis ist Träger einer sicheren Identität, aber mit offenen Beziehungen. Die "Unsichtbaren" versuchen, viele anzusprechen und in den Konflikt mit einzubeziehen, dazu wollen sie "Kommunikationsräume erobern".
Organisiert sind die AktivistInnen zum größten Teil in ihren "sozialen Zentren", besetzte und selbstverwaltete Häuser oder Gelände, die in vielen Städten zu finden sind. Wie schon erwähnt, findet man hier Leute, die sich zu Ya Basta zählen oder nur zum sozialen Zentrum oder zu beidem.
Auf der Straße aber sind alle "Tute Bianche". Das wohl größte und beeindruckendste Centro sociale ist das Leoncavallo in Mailand, das eine lange Widerstandsgeschichte hat. Das Gelände ist riesig: mehrere Räume, Cafés, Bühnen, eine Kantine, ein Buchladen, Büro- und Versammlungsräume, ein Konzertsaal, in dem Konzerte für 5000 Leute veranstaltet werden können, und noch viel mehr. Alles selbstverwaltet. Auffällig ist, dass man nicht nur junge Leute antrifft, sondern alle Generationen. Eine Kontinuität in der Widerstandsgeschichte ist spürbar. Eine ältere Frau, die hier als "la madre" vorgestellt wird, erzählt Geschichten: unter anderem, wie sie in Argentinien war und die Madres de la plaza de mayo getroffen hat. Sie sagt, dass über 1000 Gerichtsverfahren gegen ca. 200 Leute aus dem Centro sociale am Laufen sind, dass sich aber alle kollektiv den Ermittlungen entgegenstellen.
Die Centri sociali sind alle untereinander vernetzt und mobilisieren oft gemeinsam, wie z.B. nach Prag. In jedem Centro sociale gibt es kleine Bezugsgruppen, die bestimmte Rollen in der Aktion der Tute Bianche üben und sich Gedanken zur Schutzkleidung machen.
Einer der Erfolge der italienischen AktivistInnen ist es, mit sogenannten "grünen Zügen" zu Protesten zu fahren. Erkämpft haben sie sich dieses Recht durch direkte Aktion. Die Überlegung ist unkompliziert: "Wir wollen dort protestieren, wo sich die Macht konzentriert und viele sich gemeinsam artikulieren wollen. Wir sehen es als legitim an, dorthin mit öffentlichen Transportmitteln billig oder umsonst fahren zu können." Die AktivistInnen verhandeln mit der Bahnleitung über einen Zug. Die Leute, die mitfahren, können je nach Selbsteinschätzung ihrer finanziellen Mittel etwas an die Bahn zahlen oder auch nicht. In anderen Ländern wie Frankreich und den Niederlanden hat die Idee schon Fuß gefasst. Der kostenlose Transport ist innerhalb Italiens immer erfolgreich, in andere europäische Städte ist er manchmal problematisch wie zuletzt nach Nizza, wo der Global Express von der französischen Armee und den CRS angehalten wurde.

Perspektiven

Die Tute Bianche sind gerade dabei, ihre Aktionsform auf "internationalen Bühnen" wie Prag, Nizza (gescheitert) und Davos vorzustellen. Sie gewinnen an Dynamik und Unterstützung. Die Aktionsform greift auf andere Länder über. In Spanien waren kurz nach Prag im Rahmen von Antirepressionsaktionen gegen den tschechischen Staat auch weiß gepanzerte Menschen auf den Straßen von Madrid zu sehen.
Englische Reclaim-the-Streets-AktivistInnen haben schon überlegt, ganz durchsichtige Rüstungen zu bauen, in denen nackte Frauen auf die Polizei losgehen, um die Polizisten mit der Idee zu konfrontieren, eine nackte Frau zu schlagen, und die Rüstungen mit kleinen drahtlosen Kameras auszurüsten, die dann die Bilder aus ihrer Sicht live ins internet einspeisen. Auf jeden Fall wird deutlich, dass die Aktionsform ausbaufähig ist und dass mehr Menschen sie sich aneignen können.
Im Juni 2001 tagen die G7 in Genua; zusammen mit anderen italienischen Gruppen haben auch die Tute Bianche vor, dort Präsenz zu zeigen. Offizielle Aufrufe gibt es bislang noch nicht, aber viele europäische AktivistInnen wissen schon längst Bescheid. "Wenn die Italiener sich gut ins Zeug legen, können sie das ganze Land blockieren", meinte ein Aktivist in Prag. Ob das stimmt, werden wir sehen. Im Frühjahr findet in Mailand ein europäisches Treffen statt, zu dem Ya Basta und Reclaim the Streets aufrufen. Dort sollen weitere Schritte in der europäischen Vernetzung und in der inhaltlichen Auseinandersetzung diskutiert werden.

el desaparecido

PS. 111 Tute Bianche wollen am 20.Februar mit drei Jets nach Mexiko fliegen, um ab dem 25.Februar an der Seite von Subcomandante Marcos den Marsch der EZLN nach Mexiko-Stadt zu begleiten, der am 11.März dort ankommt. Die Zahl 111 soll die Anzahl der zapatistischen Gemeinden im Urwald darstellen.

Kontakt: Associazione Ya Basta! For Peoples‘ Dignity and Against Neoliberalism. Centro sociale Leoncavallo, Via Watteau 7, 20125 Milano, Italien, www.yabasta.it oder www.ecn.org/yabasta.milano.

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