Sozialistische Zeitung |
Zeitgleich zu dem seit 1971 stattfindenden Weltwirtschaftsforum von Konzernmanagern, Finanzwelt und politischen
"Globalisierungs"strategen im Schweizer Nobelort Davos wurde im südbrasilianischen Porto Alegre mit dem Weltsozialforum erstmals ein
umfassender Kontrapunkt gesetzt. 117 Länder waren mit zahlreichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus den verschiedensten Sozial-, Umwelt- und
Kulturbereichen, mit Vertreterinnen der Frauenbefreiungsbewegung, ethnischer Minderheiten, mit kirchlichen Organisationen, Gewerkschaften, Parteien der
politischen Linken einschließlich ihrer parlamentarischen Repräsentanten sowie mit Wirtschafts-, Sozial- und Naturwissenschaftlern vertreten.
Unter dem Kongressmotto "Eine andere Welt ist möglich" wurden sechs Tage lang
die zerstörerischen Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus analysiert und diskutiert. Bei allen Unterschieden in der politischen Ausrichtung, der
thematischen Schwerpunkte und der Arbeitsweisen gab es eine gemeinsame Klammer: die Ablehnung der angeblichen Alternativlosigkeit der neoliberalen
Wirtschafts-, Sozial- und Kulturpolitik sowie die Suche nach weltweiter sozialer Gerechtigkeit, umfassender Demokratisierung aller Lebensbereiche und Erhaltung der
natürlichen Lebensgrundlagen.
Das Treffen von Porto Alegre hat eine historische Marke gesetzt vor allem durch die Zahl
der Teilnehmenden, die alle Erwartungen gesprengt hat, durch die Vielfalt der versammelten Ansätze sowie aufgrund der Qualität seiner Diskussionen,
Perspektiven und Forderungen. Aber auch durch die Tatsache, dass es gelungen ist, die Aufmerksamkeit eines großen Teils der Weltmedien auf sich zu ziehen
und auf das Treffen von Davos spürbar Druck auszuüben. Während in Davos Belagerungszustand und staatliche Repression gegenüber den
Protestierenden herrschten, entfalteten sich in Porto Alegre Demokratie und Zukunftshoffnung. "Davos ist", wie es einer der Organisatoren auf den Punkt
brachte, "der triste Hafen (porto triste) für die Völker der Welt, hier ist Porto Alegre" (wörtlich übersetzt: der fröhliche
Hafen).
Das Weltsozialforum stellte sich bewusst in den Kontext der zahlreichen Demonstrationen und
Gegenveranstaltungen gegen die Treffen der mächtigen Akteure (Weltbank und IWF, G7, WTO, EU-Gipfel usw.), die in den letzten Jahren in Washington,
Seattle, Prag, Nizza, Amsterdam und anderswo stattgefunden haben. Ganz im Gegensatz zu den haltlosen Vorwürfen aus dem Lager der Davos-Freunde, das
Forum in Porto Alegre repräsentiere mit den "Globalisierungsgegnern" wirtschaftlichen und technologischen Rückschritt und veraltetes
nationalstaatliches Denken, machte hier das Wort vom Neuen Internationalismus die Runde. Globalisierung ja insoweit sie allen Menschen durch solidarische
Verhältnisse zu Würde, Fortschritt und kultureller Entfaltung verhilft; Globalisierung nein insoweit damit lediglich ungehinderte
Profitmaximierung für "global players", sozialer Rückschritt, Privilegien für wenige, Umweltzerstörung, kulturelle Einseitigkeit,
Unterdrückung und kriegerische Gewalt gemeint sind. "Die Welt ist keine Ware", war ein weiterer, vielzitierter Satz in Porto Alegre.
Die Mehrheit der Veranstaltungen fand in der modernen Katholischen Universität von Porto
Alegre im Südosten der Stadt statt, aber auch die Universität des Bundesstaats Rio Grande do Sul stellte Räume zur Verfügung. Mitte
September letzten Jahres bestand der Unterstützerkreis noch aus über 80 brasilianischen Organisationen (darunter die Generalvertretung der
brasilianischen NGOs, ABONG; ATTAC, die internationale Aktion zur Besteuerung von Finanzbewegungen zugunsten der Bedürftigen; der
Gewerkschaftsdachverband CUT; die Landlosenbewegung MST; die Hilfsorganisation Justitia et Pax der brasilianischen Bischofskonferenz; IBASE, das brasilianische
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut, sowie aus über 140 internationalen Organisationen (darunter die französische Erwerbslosenorganisation
AC!, Brot für die Welt, die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit und Ausgrenzung, FIAN, OXFAM, die französischen SUD-
Gewerkschaften, der internationale kämpferische Bauernverband Via Campesina, der Weltfrauenmarsch usw.).
Vertreten waren schließlich rd. 1500 Organisationen, davon 500 aus dem Ausland. Es waren
4702 Delegierte registriert, davon 1509 aus dem Ausland. Angesichts der Flut von Anmeldungen war das Organisationskomitee im Dezember gezwungen, Quoten
anzusetzen, um allen Interessierten eine Teilnahmechance zu gehen und dafür zu sorgen, dass die Zahl der während des gesamten Forums Anwesenden
3000 nicht überschritt. Die Gesamtzahl der Teilnehmenden an den täglich parallel stattfindenden fünf thematischen Plenarsitzungen sowie an den
über 400 Arbeitsgruppen wird auf weit über 10000 geschätzt. Den zahlreichen ParlamentarierInnen unter den Gästen wurde ein gesondertes
Forum angeboten, das am 27. und 28.Januar nachmittags tagte und sogar eine gemeinsame Abschlusserklärung zustandebrachte.
Von den international bekannten Prominenten hatten sich eingefunden: der alte algerische Befreiungsführer Ahmed Ben Bella; der brasilianische
Befreiungstheologe Frei Betto; der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano; der Friedenspreisträger José Ramos Horta aus Osttimor; die
französische Präsidentenwitwe Danielle Mitterrand; der Direktor von Le Monde Diplomatique (die Zeitung hatte übrigens großen Anteil am
Zustandekommen der Konferenz), Ignácio Ramonet; der brasilianische Fotograf Sebastião Salgado; der portugiesische Romanautor José Saramago; der
indische Organisator des Weltkindermarsches, Kalaysh Satyarti; und der Ehrenvorsitzende der brasilianischen PT, Lula da Silva.
Unter den 104 kritischen Vertreterinnen und Vertretern aus Sozial- und Wirtschaftswissenschaften,
Juristerei, Ökologie, Politik, Gewerkschaften, NGOs und Kulturschaffenden, die auf den Podien argumentierten, waren Samir Amin (Ägypten/Senegal),
Walden Bello (Philippinen), Mark Ritchie (USA), Eric Toussaint (Belgien), Jacques Testart (Frankreich), Riccardo Petrella (Italien), Eduardo Suplicy (Brasilien),
Emir Sader (Brasilien), Joyce Phekane (Vizepräsident von COSATU/ Südafrika), Milton Santos (Brasilien), Hillary Wainwright (Großbritannien),
Silvya Borren (Niederlande, OXFAM), Tariq Ali (Pakistan/Großbritannien), Michael Löwy (Brasilien/Frankreich), Raul Pont (Brasilien), Manuel
Monereo (Izquierda Unida, Spanien), Sergio Yahni (Israel), Roberto Savio (Italien), Anibal Quijano (Peru), Patrick Viveret (Frankreich), Kjeld Jakobsen
(Gewerkschaftsbund CUT, Brasilien), Friedrich Müller (Uni Heidelberg, Deutschland), Park Hasson (Gewerkschaftsbund KCTU, Südkorea), Boa
Ventura de Souza Santos (Portugal), Aruna Roy (Indien) und João Pedro Stédile (MST, Brasilien).
Über 1870 registrierte Journalisten von über 60 Agenturen berichteten über das Ereignis. Ihnen standen in einem technisch hervorragend
ausgestatteten Pressezentrum alle erforderlichen Arbeitsmittel zur Verfügung. Selbst die hochgradig konzentrierte und weitgehend neoliberale Presse in
Brasilien berichtete umfassend und musste den Erfolg des Forums anerkennen.
Erster Höhepunkt war die Eröffnungsveranstaltung mit rd. 4000 Teilnehmenden. Zum Klang der Trommeln von Afro-Tche wurden alle 131
anwesenden Länder aufgerufen, Grußadressen von namhaften Persönlichkeiten zu verlesen (darunter Bischof Pedro Casaldáliga,
Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel und Stararchitekt Oscar Niemeyer). Es folgte ein Grußwort durch den neuen Bürgermeister
der Stadt Porto Alegre, Tarso Genro (PT), und vielfach umjubelt eine Ansprache des Gouverneurs des Bundesstaats Rio Grande do Sul, Olívio
Dutra (PT). Dutra wurde nicht nur in seiner Eigenschaft als höchster Repräsentant des Bundesstaats auf das Podium gebeten, sondern auch im
Hinblick auf seine Abstammung als "Sohn des Guaraní-Volks".
"Das Weltsozialforum", so Dutra, "ist der Ort, an dem wir das wertvollste Erbe
unserer Geschichte einlösen können: die Solidarität. Sie ist das Instrument, um weltweit der Ethik in der Politik und der Demokratie in den
gesellschaftlichen Beziehungen zum Durchbruch zu verhelfen."
Begrüßungsworte für das Organisationskomitee sprachen Maria E. Bezerra (CUT)
und Bernard Cassen (Attac Frankreich und Herausgeber von Le Monde Diplomatique, die sich, um mit dem brasilianischen Kolumnisten Fernando Verissimo zu
sprechen, zu einer Art Wall Street Journal der Anti-Davos-Bewegung entwickelt hat). Anschließend zogen Arbeitslose über die Bühne und hielten
symbolisch verschiedenste Arbeitsgeräte hoch, während Bilder des weltberühmten Fotografen Sabastião Salgado über die beiden
Großbildschirme gingen. Nach einem bunten Fahnengemisch, das die Einheit der Völker zeigen sollte, proklamierte die schwarze Künstlerin
Celina Alcantara bemalt und mit entblößter Brust das Recht aller Menschen, von Gleichheit und Gerechtigkeit zu träumen.
Am späten Nachmittag demonstrierte dann eine unübersehbare fröhliche und
bunte Menschenmenge auf dem "Marsch für das Leben" von der Präfektur im Altstadtzentrum die Avenida Borges e Medeiros hinunter, an
der Landesverwaltung vorbei zum Amphitheater Por-do-Sol am Rio Guaíba geschätzt wurden zwischen 20000 und 30000 Teilnehmende. Im
Amphitheater fanden jeden Abend Konzerte mit bekannten Bands und Stars aller Richtungen der brasilianischen Kulturszene (u.a. Bide ou Balde, Nei Lisboa e Lobao,
Leonardo Ribeiro, Nacão Zumbi, Beth Carvalho, Paulinho da Viola und Sambagruppen), aber auch aus Frankreich und Kuba statt.
Zusätzlich zu den großen Themenveranstaltungen und zahlreichen Arbeitsgruppen
wurden eine Reihe von hochkarätigen Goßveranstaltungen angeboten, auf denen Zeitzeugen sprachen, u.a. der Ehrenvorsitzende der brasilianischen PT,
Lula; der mexikanische Politiker Cuauhtémoc Cárdenas; Hebe de la Bonfini von den Müttern vom Maiplatz in Buenos Aires, die seit Jahren
Aufklärung über das Schicksal der Verschwundenen während der argentinischen Militärdiktatur und die Bestrafung ihrer Mörder
verlangen; der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano, der chilenische Schriftsteller Ariel Dorfmann sowie João Pedro Stédile von der Leitung der
brasilianischen Landlosenbewegung MST. Diese Treffen zählten zu den Highlights des gesamten Forums, an denen viele tausend Menschen teilnahmen.
Erstmals gelang es, das Forum von Davos auch zu einer direkten Diskussion mit namhaften
Vertretern beider Veranstaltungen herauszufordern, die live im Fernsehen übertragen wurde. Die Diskussion ging nach Punkten an die Vertreter von Porto
Alegre. Der Superspekulant George Soros, eine der zentralen Figuren von Davos, musste einräumen, dass der Weltkapitalismus "ein Spielfeld mit sehr
ungleichen Bedingungen" schaffe und dass es "etwas gibt, wogegen man im globalen Kapitalismus protestieren kann". Natürlich war er nicht
bereit, mehr zuzugestehen als Vorschläge, die "das System perfektionieren" sollen. Die massiven Proteste hätten laut Soros unter den
Teilnehmern von Davos eine Unruhe ausgelöst, die es früher so nicht gegeben hätte.
Währenddessen glich die Katholische Universität einem Bienenstock. Sie war mit
Infoständen der verschiedenen Akteure (u.a. für freie Software, Hilfsprojekte für Straßenkinder, linke Buchverlage, Zeitungsprojekte),
Verkäufern von Politdevotionalien und thematisch bedruckten T-Shirts und Mützen gespickt. Täglich zogen Gruppierungen durch die Gänge
und Veranstaltungsräume, um auf ihre Themen aufmerksam zu machen: Frauengruppen, die für das Recht auf Abtreibung eintraten, Organisationen der
schwarzen brasilianischen Bevölkerung, Universitätspersonal, das unter den massiven Kürzungen des brasilianischen Bundespolitik zu leiden hat
usw.
Und überall die unvermeidliche und landestypische Cuia, das Trinkgefäß aus
einem Kürbis, aus dem mit einem Metallröhrchen der im brasilianischen Süden so heißgeliebte Chimarrao (Mate-Tee) getrunken wird. Aus
Steinen, die die Delegationen aus aller Welt mitgebracht hatten und in die das jeweilige Organisationslogo eingemeißelt war, wurde ein Mosaik von mehreren
Metern Durchmesser gebildet Symbol der Einheit der Vielfalt und der "anderen" Globalisierung.
Eine Episode während des Weltsozialforums zog die besondere Aufmerksamkeit der Medien auf sich: Am 26.1. fuhren Busse mit Bauern und
Landlosen in den Norden von Rio Grande do Sul, unter ihnen prominente Gegner des Neoliberalismus, wie der französische Bauernaktivist José
Bové aus Millau, der sich bereits mit McDonalds angelegt hatte. Ihr Ziel war der Ort mit dem bedeutungsvollen Namen Não-me-toque (Rühr-
mich-nicht-an), wo sie sich mit hunderten weiterer Bauern und Landloser trafen. Gemeinsam zerstörten sie demonstrativ zwei Hektar mit genmanipulierten
Mais- und Sojapflanzen, die der Chemiemulti Monsanto hier versuchsweise hat anlegen lassen.
Der Widerstand gegen Genversuche und die sich daraus ergebenden Gefahren und
Abhängigkeiten hat auch in Brasilien enorm zugenommen. Die Versuche sind übrigens allein per Dekret des Staatspräsidenten erlaubt und nicht
durch ein Bundesgesetz. Gegner weisen darauf hin, dass es weder ein umfassende Folgenabschätzung noch eine konkrete und öffentliche Berichtspflicht
gibt. Roberto Kishinami, Leiter von Greenpeace Brasilien, erklärt dazu: "Die Versuche entbehren jeder akzeptablen rechtlichen Grundlage und die
Technische Aufsichtskommission des Bundes (CTNBio) ist vollkommen diskreditiert."
Bové wurde als "Anführer" auserkoren und kurzzeitig verhaftet. In den
Medien entwickelte sich eine heftige Debatte über die Aktion (die Positionen reichten von "Vandalismus" bis "vollkommen
gerechtfertigt"). Monsanto forderte Schadensersatz und ein rechter Landtagsabgeordneter stellte Strafanzeige gegen Bové. Die brasilianische
Bundespolizei verfügte daraufhin unter Bezug auf das Ausländergesetz, dass Bové innerhalb von 24 Stunden das Land zu verlassen habe,
andernfalls abgeschoben werde.
Nach massiven Protesten und einer großartigen Solidarität (binnen weniger Stunden
trugen zahlreiche Forumsteilnehmer Aufkleber mit dem Motto: "Wir alle sind Bové") waren seine Anwälte beim Bundesgericht erfolgreich.
In einem Eilverfahren kassierte die zweite Strafkammer des Bundesgericht die Ausweisung als "unverhältnismäßig"; der
Bundespolizei wurde jede Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Bové untersagt und er konnte in Brasilien bleiben.
Die brasilianische Linke bezeichnete die Bundesregierung Cardoso als politisch verantwortlich
für den Ausweisungsversuch: "Wenn Cardoso nur einmal daran dächte, Konzerne auszuweisen, die dem Land durch ihr Verhalten tatsächlich
und ständig schaden. Aber genau das ist von ihm nicht zu erwarten" (so der PT-Vorsitzende José Dirceu). Olívio Dutra, Gouverneur von Rio
Grande do Sul, erklärte sich uneingeschränkt solidarisch mit "dem Genossen und Weltbürger" Bové. Im Übrigen
erklärte die Landesregierung wiederholt, dass sie Rio Grande do Sul von Genmanipulationen frei halten wolle. Dies werde auch in anderen
Bundesländern wie Paranà, Mato Grosso do Sul und São Paulo so gesehen. Der Landwirtschaftsminister von Rio Grande do Sul, Hoffmann,
kündigte für die im März beginnende Erntezeit strenge Kontrollen an. Zu diesem Zeitpunkt läuft eine höchstrichterlich
verhängte Duldungsfrist ab. Die Aktion von Não-me-toque hat der Diskussion über die Gefahren der Genmanipulation auch in Brasilien enormen
Auftrieb gegeben.
Nicht zufällig war Porto Alegre, mit rund 1,3 Mio. Einwohnern Landeshauptstadt des südlichsten Bundeslstaats Rio Grande do Sul, dessen
Bewohner sich selbst "Gaúchos" nennen, als Ort für das erste Weltsozialforum ausgewählt worden. Hier hat die Arbeiterpartei (PT)
mit einem starken linken Flügel im letzten Oktober zum vierten Mal in Folge die Kommunalwahlen gewonnen und im Oktober 1999 sogar die
Gouverneurswahlen.
Rio Grande do Sul ist mit über 280000 km2, über 9 Millionen Einwohnern und einer
enormen Wirtschaftsleistung eines der bedeutendsten Bundesstaaten Brasiliens. Die PT-Verwaltung in Porto Alegre gilt seit zehn Jahren als Modell für
erweiterte Demokratie und eine Stadtentwicklung, die erfolgreich dabei ist, "alle Prioritäten umzukehren": Soziales zuerst bei allen
öffentlichen Investitionen, grundlegende Sanierung, ausgeglichene Stadtentwicklung, Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus,
Beseitigung von Korruption und Vetternwirtschaft, umfassende Förderung von Bildung, Ausbildung und kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten,
Gründungshilfen im Rahmen einer solidarischen Wirtschaft usw.
Sogar auf der Landesebene wurde gegen den erbitterten Widerstand der konservativen
Mehrheit im Landesparlament der sog. Beteiligungshaushalt eingeführt, d.h. ein Haushaltsvorschlag auf der Basis einer Volksmobilisierung. Porto
Alegre gilt als die politisierteste Stadt Brasiliens mit einer starken Basisbewegung in den verschiedensten Bereichen. Das fiel auch den zahlreichen
ForumsteilnehmerInnen aus dem Ausland auf, die überall auf Menschen trafen, denen das Forum und seine Zielsetzung ein Begriff war.
Viele tausend Menschen waren unmittelbar in die Aktivitäten des Forums einbezogen. Aus
dem Hotel- und Gaststättengewerbe, dem Taxiverband und der Kaufmannschaft kamen positive Kommentare sicher in erster Linie aufgrund der
Tatsache, dass viele tausend mehr oder weniger zahlungskräftige ForumsteilnehmerInnen für entsprechende Umsätze sorgten und das zu
einer Jahreszeit, in der viele Einheimische, die es sich leisten können, die Sommerferien nutzen und an die Strände fahren.
Vor diesem Hintergrund war Porto Alegre genau die richtige Wahl. Zahllose Freiwillige halfen bei
der Organisierung des Forums, die Stadt war mit Hinweisen, Infoständen, Plakaten und Transparenten übersäht, das ohnehin hervorragende, dichte
und preiswerte Sammeltransportwesen wurde mit zusätzlichen Buslinien für die Forumsteilnehmer optimiert. Auffällig die Hilfsbereitschaft und
das Interesse etwa des Fahrpersonals! Das mehrsprachige Programmheft und weitere Teilnahmeunterlagen waren vorbildlich.
Stadt- und Landesverwaltung stellten nützliche Broschüren und Faltblätter zur
Verfügung, damit sich die Gäste besser zurechtfinden konnten und um ihre Politik vorzustellen. Die Landesregierung war mit einer eigenen
Forumszeitung vertreten. Sämtliche großen Veranstaltungen wurden synchron ins Portugiesische, Englische und Französische übersetzt.
Zehntausende konnten die allabendlichen Kulturveranstaltungen besuchen. Für die Jugend wurde ein Zeltlager organisiert.
Alles in allem hat das Organisationskomitee, unterstützt von Stadtverwaltung und
Landesregierung, angesichts der enormen TeilnehmerInnenzahlen und vielfachen Aufgaben eine große logistische Leistung vollbracht.
Besonders herausragend waren dabei die Aktivitäten von Vizegouverneur Miguel Rosetto
(PT), der sich für das Zustandekommen des Forums sehr engagiert hatte. Der finanzielle Aufwand wurde aus Beiträgen und Spenden bestritten. Neben
den Teilnehmerbeiträgen und vielen Spenden aus Bewegungen und Organisationen hatten das Land Rio Grande do Sul, die Landesbank Banrisul und das
öffentliche Energieversorgungsunternehmen CEEE einen Zuschuss von 970000 Reais (etwa 970000 Mark) für die Organisation des Forums zur
Verfügung gestellt.
Dies rief, wie nicht anders zu erwarten, eine Polemik auf der politischen Rechten hervor. Auch
Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso meinte, die Verwendung öffentlicher Mittel kritisieren zu müssen. Er erhielt die passende Antwort,
u.a. von der Fraktion der PT im Bundesparlament: "Abgesehen davon, dass Cardoso mit seinem Kommentar wieder einmal gezeigt hat, auf wessen Seite er steht,
sollte jemand, der soeben von einer aufwendigen Asienreise mit drei Flugzeugen und einem Tross von 100 Begleitern zurückkommt und dabei dreimal mehr
öffentliche Gelder ausgegeben hat, als die Ausrichtung des Forums kostet, besser schweigen."
Die vielfältigen Vorträge und Diskussionen hatten vier Schwerpunkte:
Entstehung von Reichtum und gesellschaftliche Reproduktion;
Zugang zu Ressourcen und Nachhaltigkeit;
Zivilgesellschaft und öffentlicher Raum;
Politische Macht und Ethik in der neuen Gesellschaft.
In diesem Zusammenhang wurden weitere Themen entwickelt:
Wie kann ein System erreicht werden, das allen die lebensnotwendigen Güter und
Dienstleistungen sichert?
Welchen internationalen Handel wollen wir?
Wie können die verschiedenen Funktionen des Bodens gesichert werden?
Welche wissenschaftliche Entwicklung brauchen wir, um menschliche Entwicklung zu
sichern?
Wie können sozialer Fortschritt und Umweltschutz vereinbart werden?
Wie könnten wohnliche Städte aussehen?
Wie können die sozialen Bewegungen gestärkt werden?
Wie kann der freie Zugang zu den Informationen und die demokratische Verfügung
über die Kommunikationsmittel hergestellt werden?
Wie kann kulturelle Identität gesichert und künstlerisches Schaffen vor der
Kommerzialisierung geschützt werden?
Wie kann erweiterte Demokratie für alle funktionieren, örtlich und im
Weltmaßstab?
Wie können Konflikte bewältigt und dauerhaft Frieden gesichert werden?
Es wäre unschätzbar wertvoll, könnte zumindest ein Querschnitt der vielen
spannenden und lehrreichen Beiträge, aber auch Kontroversen in einem Sammelband und in mehreren Sprachen veröffentlicht werden.
Sehr stark vertreten waren Beiträge, die der neoliberalen, elitären und
zerstörerischen Politik eine umfassende, ganzheitliche Sicht entgegensetzen wollten, menschliche Emanzipation von einem Ensemble von politischen, sozialen
und ökonomischen Voraussetzungen abhängig machten und zu einem kritischen Rückblick auf die bisherigen Befreiungsversuche in der Lage
waren.
Der brasilianische Befreiungstheologe Frei Betto forderte, die Linke und die sozialen Bewegungen
müssten ihre Anliegen in die Sprache des Volkes übersetzen. Er verteidigte das Recht auf Volksreligiosität und kritisierte "kolonialistische
Verhaltensweisen", von der selbst fortschrittliche Bewegungen nicht frei seien.
Der 84-jährige algerische Befreiungskämpfer Ahmed Ben Bella erinnerte eindrucksvoll
an das vorbildliche Denken und Handeln Che Guevaras und bat um eine Gedenkminute für ihn.
Raul Pont, bis Ende vergangenen Jahres PT-Bürgermeister von Porto Alegre, glänzte
mit seiner Darstellung der Demokratisierung der Kommunal- und Haushaltspolitik in dieser Stadt in den letzten zwölf Jahren. Sie habe ernsthaft damit
begonnen, die Prioritäten umzukehren; dabei gelte es, weniger Entscheidungen zu delegieren und die direkte Demokratie zu stärken, um
Bürokratisierungsgefahren zu vermeiden.
Die Sozialwissenschaftlerin Maria V. Benevides setzte auseinander, warum formale Rechte nicht
ausreichen und die Beachtung der sozialen Menschenrechte unverzichtbar ist, um echte Volkssouveränität zu erreichen.
Der belgische Ökonom Eric Toussaint beschäftigte sich mit der Außenschuld, die
den meisten Ländern der Erde keine Chance lasse. Er kritisierte auch die PT, deren Leitungsmehrheit in dem Maße eine klare Position dazu aufgebe, wie
sie politische Macht erobere.
Der ägyptische Volkswirtschaftler Samir Amin griff den sozialdemokratischen Dritten Weg als
"Nulloption" an und sah den Ausweg nur in einer sozialistischen Perspektive, die allerdings mit radikaler Demokratie zusammengehen müsse.
Der argentinische Ökonom Jorge Beinstein prophezeite, dass die kommende
Weltwirtschaftskrise noch verheerendere Auswirkungen haben könne als die von 1929. Deshalb könne nicht eine Humanisierung des Kapitalismus das
Ziel sein, sondern nur seine Überwindung.
Der pakistanisch-britische Filmemacher und Schriftsteller Tariq Ali kritisierte die durch die
weltweite Medienkonzentration und Kommerzialiserung immer einseitiger ausgerichtete Kommunikation, die sich auch in der künstlerischen Produktion
niederschlage. Dagegen seien die höchsten Formen der Kultur stets Synthesen aus verschiedenen anderen. Der Turbokapitalismus von heute habe
außerdem einen "kulturellen Fordismus" hervorgerufen. Massive Qualitätsverluste seien zu beklagen. Schlechter Journalismus sei nach den
Maßstäben der neoliberalen Demokratie eben gut für das Geschäft. Eine Kunstsprache werde entwickelt.
Tariq Ali zeigte anhand von Beispielen, wie verheerend sich gleichgeschaltete Medien auswirkten,
um "humanitäre" Kriege zu rechtfertigen, "Schurken vom Typ Hitlers zu produzieren" und kritische Fragen zu unterdrücken.
Beispiele wie der erfolgreiche Widerstand der Journalisten und der Bevölkerung in Prag, die zur Absetzung eines regierungshörigen Fernsehdirektors
geführt hatten, sollten Mut machen. Die Kommunikationsmittel müssten überall unter öffentliche und demokratische Kontrolle gebracht
werden.
Die Geduld der Zuhörer wurde nur einmal ernsthaft auf die Probe gestellt, als Bernard Cassen
von Le Monde Diplomatique den französischen Handelsminister François Huwart auf einem Podium zu Wort kommen ließ. Dieser wurde mit
Zwischenrufen und Protesten konfrontiert. Der argentinische Altlinke Alberto Pujals sprach für viele, als er von Huwart wissen wollte, wie er seine Anwesenheit
auf dem Sozialforum mit dem praktischen Verhalten der französischen Regierung vereinbaren könne, die lateinamerikanische Produkte boykottiere und
eine restriktive Flüchtlingspolitik betreibe.
Überhaupt schien es so, als hätten die französischen Sozialdemokraten so etwas
wie eine beobachtende Rolle auf dem Treffen eingenommen. Massive Proteste gab es auch gegen die Anwesenheit des letzten Innenministers der Regierung Jospin,
Jean-Pierre Chevènement (siehe letzte SoZ). Während seiner Amtszeit zeichnete er für die Ausweisung von Flüchtlingen verantwortlich.
Folgekonferenz 2002
Das Weltsozialforum muss zu einem regelmäßigen Gegenpol zum Weltwirtschaftforum in Davos werden. Darüber waren sich alle einig.
Im Organisationskomitee umstritten waren allerdings Kontinent und Ort für das Jahr 2002.
Spannend wurde es, als am frühen Morgen des letzten Konferenztags durchsickerte, dass das
Forum auch im nächsten Jahr noch einmal in Porto Alegre stattfinden werde. Viele tausend Menschen waren bereits versammelt, Kampflieder wurden gesungen,
Sprechchöre wechselten einander ab, Transparente und Fahnen wurden geschwungen. Der offizielle Beginn ließ noch lange auf sich warten. Dann war es
soweit. Symbolisch wurden auf der Bühne dutzende Delegierte aller Kontinente befragt, ob und warum für sie "eine andere Welt
möglich" sei, ohne soziales Unrecht, ohne rassistische Diskriminierung, ohne Unterdrückung und Krieg.
Besonders beeindruckend: Der gemeinsame Auftritt eines Vertreters aus Israel und aus
Palästina: "Wir wollen ein freies Palästina, wir wollen Frieden!" Doch die Stimmung näherte sich dem Höhepunkt, als eine
Gaúcho-Band "El Condor Pasa" anstimmte. Als schließlich Kjeld Jakobsen (CUT-Bundesvorstand) die Entscheidung des
Organisationskomitees vortrug, war der Jubel der vielen tausend Versammelten unbeschreiblich: Porto Alegre!
Die Entscheidung war richtig. Porto Alegre ist ein Ort, der vorläufig ideale Voraussetzungen
bietet: Hier kann sich das Weltsozialforum auf eine breite und fortgeschrittene Basisbewegung stützen, hier stehen Stadtverwaltung und Landesregierung
konsequent dahinter politisch und organisatorisch. Hier wird Politik praktiziert, die im klaren Gegensatz zu den neoliberalen Rezepten von Davos steht. Diese
wird sinnvollerweise durch eine internationale Großveranstaltung und ihre weitreichende Publizität gestärkt.
Unbestritten ist auch, dass ab 2003 der Ort und möglichst auch der Kontinent
gewechselt werden soll. Griechenland oder Südafrika wurden schon in die Diskussion geworfen. Der Jubel ging schließlich in ein besonderes
Dankeschön an die OrganisatorInnen von Porto Alegre und Rio Grande do Sul über.
Im April soll ein Internationaler Rat für die Vorbereitung des II.Forums zusammentreten, eine
Grundsatzerklärung und die Orientierung ausarbeiten. Es ist zu hoffen, dass der Erfolg ansteckt und die diesmal noch schwach vertretenen Kräfte aus den
USA, Nord- und Osteuropa stärker präsent sein werden. Die Anzahl der deutschen Teilnehmenden darunter eine fünfköpfige
Gruppe der PDS dürfte höchstens zwanzig Personen betragen haben.
Porto Alegre muss zu einer weltumspannenden Bewegung gegen eine Globalisierung werden, die vor
allem soziale Ungerechtigkeit, Umweltzerstörung, Krieg, Rassismus und Frauenunterdrückung sowie kulturelle Verarmung verbreitet für
eine solidarische und menschenwürdige Zukunft.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04