Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.04 vom 14.02.2001, Seite 12

Gang durch ein Minenfeld

Türkischer Menschenrechtler kritisiert Bundesregierung

Seine Hände suchen die Worte, formen sie, einzeln. Die rechte Hand kann er nicht mehr so gebrauchen wie früher. "Die linke Hand" heißt deshalb der Titel seiner Erinnerungen über die Zeit nach dem Attentat. Er hat das Buch im Gefängnis geschrieben. Es ist gerade auf türkisch erschienen.
Akin Birdal durfte zwei Jahre lang nicht aus der Türkei ausreisen. Zwischen dem 10. und 12.Februar hat er sich drei Tage in Deutschland aufgehalten, in Köln und Stuttgart. Nach Berlin ist er zwar von Regierungsmitgliedern der SPD-Grüne- Koalition eingeladen worden. Aber das ist am Anfang der Regierungsbildung gewesen. Konkretisiert und terminiert hat man die Einladung zu seinem Bedauern bislang nicht.
Obwohl gerade jetzt die offizielle deutsche Unterstützung für die türkische Menschenrechtsarbeit wichtig wäre. "Es ist wie der Gang durch ein Minenfeld", charakterisiert Birdal die derzeitige Situation, "man weiß nicht, wo und wann die nächste Explosion hochgeht." Er schaut ruhig, wenn er das sagt, seine grauen Haare sind sorgfältig gescheitelt, er spricht sicher, langsam, bestimmt. Öffentlich für Menschenrechte und Minderheitenrechte einzutreten, sei derzeit in der Türkei praktisch unmöglich.
Er selbst ist in den letzten Tagen erneut von der türkischen Staatsanwaltschaft wegen Verunglimpfung der Türkei angeklagt worden. Die türkische Zeitung Hürriyet hatte behauptet, er habe die Türkei dazu aufgefordert, sich für den Genozid an den Armeniern zu entschuldigen.
Nach Ansicht von Akin Birdal hat 1915 tatsächlich ein Genozid an den Armeniern stattgefunden. Doch stünde derzeit nicht die politische Auseinandersetzung über dieses 85 Jahre zurückliegende Verbrechen auf der Tagesordnung sondern die politische Auseinandersetzung über die aktuellen Menschenrechtsverletzungen. Dazu dürfe Europa nicht länger schweigen. Wenn das französische Parlament jetzt den Völkermord an den Armeniern geißele, aber gleichzeitig zu den Toten, Verschwundenen, Gefolterten, Bedrohten von heute schweige, mute das skurril, ja, fast zynisch an. "Sollen wir jetzt 85 Jahre warten, bis Europa die heutigen Menschenrechtsverletzungen brandmarkt?", fragt er.
Nach der Niederschlagung des Hungerstreiks von Gefangenen im Dezember vergangenen Jahres hat sich die Situation für die türkischen Menschenrechtler erneut verschärft. Die Aktion, in deren Verlauf 32 Gefangene zu Tode kamen, wurde auch außerhalb der Türkei bekannt. Kaum bekannt wurde hingegen, dass die meisten Opfer von den Militär- und Polizeieinheiten bei lebendigem Leibe verbrannt worden seien, sagt Akin Birdal. Bei der Erstürmung der Gefängnisse hätten die Sicherheitskräfte gezielt und systematisch Brandbomben eingesetzt.
Ebenso wenig bekannt wurde, dass in den folgenden Wochen Mitglieder der kurdischenHADEP im Polizeigewahrsam verschwanden, dass die Rechtsanwaltsvereine in Ankara und Diyarbakir von der Staatsanwaltschaft wegen Unterstützung der Gefangenenaktion angeklagt, dass Büros der Menschenrechtsorganisation IHD von der Polizei gestürmt und geschlossen wurden.
Der Hungerstreik, der in Deutschland als isolierte Aktion linksextremer Gruppen gewertet wurde, fand in der Türkei Unterstützung auch in der Zivilgesellschaft. An Vermittlungsgesprächen zwischen Gefangenen und der Regierung waren bspw. Intellektuelle wie der Schriftsteller Yasar Kemal beteiligt, der 1997 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hatte.
Der angebotene EU-Beitritt, die Kopenhagener Kriterien, die Beendigung des türkisch- kurdischen Krieges — all das habe die Türkei nicht als Chance genutzt, um das Land zu demokratisieren. Nicht einen ernsthaften Schritt auf diesem Gebiet habe die Regierung unternommen. Europa allerdings habe bislang darauf verzichtet, den türkischen Partner zu mahnen, man habe stattdessen die Türkei wie einen zwar schlechten aber wichtigen Schüler weiter protegiert.
Und das, obwohl die türkische Regierung weder die Todesstrafe aus den Gesetzen verbannt noch Anstalten macht, das von ihr offiziell akzeptierte Verbot der Folter in die türkischen Gesetze zu integrieren. Immer noch hat bspw. das Gefängnispersonal das Recht, auf eigene Faust Gefangene zu verhören. Immer wieder werden dabei Menschen gefoltert oder kommen sogar um. Deshalb hat der IHD den Hungerstreik in den Gefängnissen unterstützt und gegen seine Niederschlagung protestiert. Das hat er ohne die bislang geübte Solidarität aus Europa tun müssen und sich dadurch im Lande noch mehr gefährdet.
Gewiss würden Regierungen ihre eigenen Prioritäten setzen. Doch sei er enttäuscht und traurig, dass SPD-Grüne die Versprechungen nicht eingehalten haben, die ihre Vertreter gegenüber dem IHD vor der Regierungsbildung gemacht hatten. "Wir haben wieder einmal erkennen müssen, sagt der Ehrenvorsitzende des Türkischen Menschenrechtsvereins, dass Versprechungen der Opposition nicht mehr in gleichem Maße gelten, wenn man an der Regierung ist."
Akin Birdal fuhr anschließend nach Mailand und Rom weiter, um dort vor dem regionalen bzw. dem nationalen Parlament zu sprechen.

Albrecht Kieser (Rheinisches JournalistInnenbüro Köln)

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