Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.05 vom 01.03.2001, Seite 10

Umweltminister als ‘Castor-Lokomotivführer‘

"X-tausendmal quer" und andere Aktionen geplant

Für den grünen Parteivorsitzenden Fritz Kuhn ist es keine Frage: Die Bundesregierung habe mit der Industrie einen Atomkonsens ausgehandelt, der nun die grüne Anhängerschaft dazu verpflichte, nicht diesem "Ausstiegskonzept" (Kuhn) Steine in den Weg zu legen. Kurz: es sei falsch sich heute noch an Protesten und Blockaden gegen Castortransporte zu beteiligen.
Dass die grüne Parteispitze und der grüne Umweltminster im Kabinett Schröder dazu aufrufen, nicht gegen Atommülltransporte auf die Strasse zu gehen, mag einigen wie ein schlechter Witz vorkommen.
Fakt ist: Nach dem Krieg gegen Jugoslawien, bei dem das interessante Phänomen zu beobachten war, dass sich führende SPD- und Grünen-Politiker "erleichtert" darüber zeigten, wie glatt der erste Krieg mit direkter deutscher Beteiligung, noch dazu einer, der gegen das Grundgesetz und das Völkerrecht verstieß, über die Bühne ging (und wie wenig Menschen dagegen auf die Straße gingen), ist nun auch bei einem wichtigen innenpolitischen Thema ein ähnlicher Vorgang zu verzeichnen. Zumindest Teile der grünen Partei (die SPD war nie Teil der Antiatomkraftbewegung!) treten nun als Demobilisierungsfaktor in Erscheinung, rufen ihre Anhänger auf, zu Hause zu bleiben.
Gerade dashelb könnten die Castor-Transporte für viele Menschen zu einem sog. "Aha-Erlebnis" werden; kurioserweise vielleicht sogar noch eher als die erste Kriegsbeteiligung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Ganz einfach schon deshalb, weil anders als beim Hantieren mit dem "Feindbild Milosevic" und einer in eine teils geschickte Propaganda, teils in plumpe Lügen verpackte Kriegsvorbereitung die "Befriedung" ehemals oppositioneller Kreise erfolgreicher verlief, als dies nun bei der "Befriedung" der Antiatomkraftbewegung bzw. entsprechender Proteste der Fall ist.
Sogar grüne Landesverbände — und viele an der Basis ohnehin — weisen gegenwärtig laut vernehmlich darauf hin: Der Konsens ist Nonsens. Einen Atomausstieg, der diesen Namen verdient, gibt es nicht. Vor diesem Hintergrund mache es Sinn weiter mit Protesten und Demonstrationen für seine Ziele ("Ausstieg aus der Atomwirtschaft") zu streiten und Druck auszuüben.
Dass eine Partei, die sich einst den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie auf die Fahnen geschrieben hatte — wie auch z.B das "Prinzip Gewalfreiheit", um dann einem Angriffskrieg mehrheitlich die Zustimmung zu erteilen —, nun in der "Regierungsverantwortung" den Wünschen der AKW-Betreiber zu gefallen weiß, führt zu dem nun zu beobachtenden Rumoren an der Basis und wiedersprüchlichen Aufrufen, "zu Hause zu bleiben" (Fritz Kuhn) und "auf die Straße zu gehen" (Rebecca Harms, niedersächsische Landesvorsitzende der Grünen).
Stellt sich also die Frage: Um was geht es bei den nun anstehenden Atomtransporten? Wie lange werden diese noch rollen? Warum ruft "X-tausendmal quer" weiterhin dazu auf, Transporte zu blockieren?
Am 15.Juni 2000 hatten sich die Bundesregierung und die Vorstandschefs der vier größten Stromkonzerne (RWE, Bayernwerk, Energie Baden-Württemberg und PreussenElektra) auf den sog. Atomkonsens geeinigt. Die Frage, ob damit der Ausstieg aus der sog. zivilen Nutzung der Atomkraft beschlossene Sache war, lässt sich mit Blick auf die getroffenen Vereinbarungen schnell beantworten. Zwar hatten SPD und Grüne im Koalitionsvertrag beschlossen, die Nutzung der Atomenergie "umfassend und unumkehrbar" zu beenden.
Doch schon die Art wie die Konsensgespräche geführt wurden und in welcher Zusammensetzung sie stattfanden, ließ tief blicken: Einzig die Interessen der Wirtschaft waren Gegenstand der Gespräche, andere gesellschaftliche Gruppen wurden an den Konsensgesprächen gar nicht erst beteiligt. Was dann auch zu so bissigen Zeitungskommentaren führte wie: "Vergleichbar wäre es, wenn die breite Einführung der vegetarischen Ernährung in Gesprächen mit der Fleischerinnung festgelegt werden soll."

Konsens ist Nonsens

Und entsprechend sehen die Ergebnisse der Konsensgespräche aus: "Die Bundesregierung gewährleistet den ungestörten Betrieb der Kernkraftwerke wie auch deren Entsorgung." Der zweite Teil dieses Satzes ist der Grund, warum gegenwärtig Fritz Kuhn, Jürgen Trittin und andere an der Spitze der Grünen an ihre Klientel appellieren, die Castor-Transporte nicht zu behindern.
Allerdings ist es keine Übertreibung festzustellen: In den Konsensgesprächen hat die Bundesregierung den Kraftwerksbetreibern alle erdenklichen Zugeständnisse gemacht. (Die Stellungnahmen der AKW-Betreiber lassen da nicht an Deutlichkeit zu wünschen übrig.) Zu den ausgehandelten Zugeständnissen gehört — neben einer "Gewährleistung" einer "ungestörte Entsorgung" — als zentraler Punkt die Vereinbarung, dass in Zukunft noch eine solche Menge an Atomstrom produziert werden darf, wie seit Inbetriebnahme des ersten Reaktors 1968.
Das aber bedeutet: Nicht ein Ausstieg wurde vereinbart, sondern eine Weiterlaufen der AKWs bis ans Ende ihrer technischen Lebensdauer. Diesen "Atomkonsens" danach öffentlich als einen Erfolg zu verkaufen, weil die Vereinbarungen auch die Bedingung enthielten, dass kein neues AKW mehr gebaut werden darf, ist ein schlechter Witz.
Die FAZ brachte es so auf den Punkt: "Die Energiewirtschaft verzichtet auf die Errichtung neuer Kernkraftwerke, was sie in absehbarere Zeit ohnehin nicht vorhatte" (seit 20 Jahren wurde hierzulande kein Reaktor mehr in Auftrag gegeben), "und sie gesteht zu, dass die Laufzeit ihrer Anlagen nicht unbegrenzt ist, was sie ohnehin nie war." Mit anderen Worten: Der Begriff "Verhandlungserfolg" wurde zur Beruhigung der eigenen Klientel in die öffentliche Debatte eingeführt. Nicht das tatsächlich erzielte, kümmerliche Ergebnis zählte, sondern es ging schlicht darum, das Ganze als Erfolg zu "verkaufen".

Kein Entsorgungskonzept

Selbst die Behauptung, die durchschnittliche Laufzeit der AKWs sei auf 32 Jahre festgelegt worden — wie erinnern uns: auf keinen Fall mehr als 20, dann 25, schließlich nicht mehr als 30 Jahre sollten es mal sein —, ist ein Schönreden des Atomkonsenses. Denn die vereinbarte Strommenge könnte in 32 Jahren nur dann produziert werden, wenn die Kraftwerke die nächsten Jahren ohne Pause am Netz wären. Und das ist schlicht (Atom- )Nonsens.
Nach Angaben von Jochen Stay, Aktivist von "X-tausendmal quer", beträgt die durchschnittliche Verfügbarkeit real nur 78%, weil Wartungsarbeiten, Brennelementewechsel und Störfälle immer wieder zu Betriebsunterbrechungen führen. Das aber heißt: eine realistische Einschätzung der getroffenen Ergebnisse bedeutet, dass nicht ein Laufzeit von 32, sondern von mindestens noch 35 Jahren vereinbart wurde.
Auch wann das erste AKW vom Netz gehen muss, wurde in den Vereinbarungen nicht festgelegt, sondern bleibt der Atomwirtschaft überlassen.
Noch düsterere sieht es hinsichtlich eines zu Oppositionszeiten verlangten, schlüssigen Entsorgungskonzepts aus. Im Koalitionsvertrag von 1998 hatten SPD und Grüne das bisherige "Entsorgungskonzept" als gescheitert bezeichnet. Mit Recht. Ein "Entsorgungskonzept", das diesen Namen verdient, gibt es nicht. Bei der Frage der Entsorgung gibt es bis heute nur ein Verschieben des Atommülls nach Frankreich und ein Verschieben des Problems in die Zukunft.
Doch nun wurde genau dieses "gescheiterte Konzept" in den Konsensvereinbarungen de facto übernommen. Weiterhin gibt es weltweit kein sicheres Endlager für hochradioaktive Abfälle. Trotzdem ist es den AKW-Betreibern gestattet, in den nächsten Jahrzehnten die Menge des Atommülls mehr als zu verdoppeln.
Das in diesem Frühjahr erstmals seit 1998 wieder nuklearer Abfall aus der Wiederaufbereitungsanlage La Hague zurück nach Deutschland transportiert werden soll, ist für Jochen Stay ein deutliches Signal dafür, dass die "rot-grüne" Bundesregierung da weitermacht, wo die Kohl-Regierung aufgehört hatte.
In der Öffentlichkeit, so Stay, werde am meisten wahrgenommen: Die Transporte sollen wieder nach Deutschland zurückrollen. Aber Teil dieses Abkommens sei ja auch, dass dann, wenn dieser Transport nach Gorleben angekommen ist, wieder Woche für Woche abgebrannte Brennelemente aus den hiesigen AKWs wieder nach Frankreich rollen werden. Deshalb sei das Argument jetzt nur der internationalen Verantwortung gerecht zu werden, also den Müll doch nicht einfach den Franzosen überlassen zu können, nur vorgeschoben.
Denn wenn dieser Transport nach Gorleben rollt, so Stay weiter, dann sei das der Türöffner für weitere Transporte nach Frankreich und dann würde, wenn man Ende des Jahres alles zusammenzähle, mehr deutscher Atommüll in Frankreich lagern als derzeit.Das Ergebnis des deutsch-französischen Gipfels, bei der die entsprechende Vereinbarung getroffen wurde, sei, den europäischen Atommülltourismus, dieses Hin und Her von Atommüll, in großem Stil fortzusetzen.
Die Frage sei abschließend: Was gehört noch alles zu den getroffenen Vereinbarung dazu. Zwar forderten die französischen Grünen ebenfalls diese Rücknahme. Aber zum erstem Mal würden sich auch französische Antiatomgruppen an Aktionen gegen diesen Transport beteiligen.
Einen guten Grund gegen die Transporte zu protestieren sei schlicht ihre Funktion:
"Diese Transporte haben die Funktion, dass die Atomkraftwerke weiter betrieben werden können, und dass die Wiederaufarbeitung, die schmutzigste Methode mit Atommüll umzugehen, fortgesetzt wird. Und man kann ja auch sagen: Die Leute im Wendland haben auch nicht diesen Atommüll gemacht, warum sollen die den nun bekommen? Er wurde von den internationalen Konzernen produziert. Da ist die Frage, wem gehört dieser Müll? Ich sage ja nicht", so Stay in der aktuellen Diskussion, "dass dieser Müll alle Zeit in Frankreich bleiben soll; das ist nicht der Punkt. Sondern als erster Schritt muss Schluss sein mit der weiteren Atommüllproduktion. Dass sich Trittin nun gebärdet wie der Castor-Lokomotivführer — das ist einfach nicht nötig."
Immerhin für nötig halten es inzwischen mehrere tausend Menschen, die ensprechende Erklärungen schriftlich abgegeben haben, am Tag X sich den Transporten entgegenzustellen. Und der Bundesregierung deutlich zu machen, was sie vom Atomkonsens halten: Gar nix!

Thomas Klein

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