Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.05 vom 01.03.2001, Seite 13

Irak

Die große Vertuschung

Am Vorabend einer Wahlkampagne versucht die Regierung des britischen Premierministers Tony Blair mit wachselnder Verzweiflung einen Skandal zu unterdrücken, der potenziell größer ist als die Vertuschung der Waffenlieferungen an den Irak: der Tod hunderttausender Menschen, der durch Entscheidungen in Whitehall und Washington hervorgerufen wird.

Im Zentrum dieses Skandals steht die eindeutige, bewusste Zerstörung einer ganzen Gesellschaft, des Irak, um das Regime in Bagdad schwach genug zu halten, damit es vom Westen beeinflusst werden kann, und doch stark genug, um sein eigenes Volk zu kontrollieren. Dies ist seit langem angloamerikanische Politik.
Entgegen der Propagandaversion vom Schutz der ethnischen Gruppen des Irak ist das Ziel die Verhinderung einer Lostrennung der kurdischen Gebiete im Norden und der Errichtung eines schiitischen religiösen Staates im Rest des Landes, während der Westen seine Vorherrschaft in der Region und den Zugang zu billigem Öl aufrecht erhält.
Die Opfer dieser Politik sind 20 Millionen Iraker, die auf einzigartige Weise vom Rest der Menschheit durch ein Wirtschaftsembargo isoliert sind, das in seiner Bösartigkeit mit einer mittelalterlichen Belagerung verglichen wurde.
Das Wort "Völkermord" wurde von Experten des Völkerrechts und anderen vorsichtigen Stimmen verwendet, darunter der frühere stellvertretende UNO-Generalsekretär Denis Halliday, der als UN-Menschenrechtsbeauftragter für den Irak zurückgetreten ist, und Hans von Sponeck, sein Nachfolger, der auch aus Protest zurücktrat. Beide hatten 34 Jahre bei der UNO gearbeitet und waren auf ihrem Gebiet anerkannt. Ihre Rücktritte, zusammen mit dem des Chefs des Welternährungsprogramms in Bagdad, sind ohne Beispiel.

Sanktionen

Nach mehr als einem Jahrzehnt der Sanktionen, will niemand sie mehr im Sicherheitsrat, außer Großbritannien und die USA. Frankreichs Außenminister Vedrine nannte sie "grausam, weil sie ausschließlich das irakische Volk und die schwächsten der Bevölkerung bestrafen, sowie uneffektiv, weil sie das Regime nicht treffen".
Hätte Saddam Hussein bezüglich der von UNICEF gelieferten Zahl von einer halben Million toter Kinder im Fernsehen gesagt: "Wir glauben, der Preis ist es wert", wäre er von der britische Regierung als Monster bezeichnet worden. Madeleine Albright aber hat dies gesagt. Whitehall hat geschwiegen.
Die Blair-Regierung hat die traditionelle Rolle der Stellvertreter Washingtons mit besonderem Enthusiasmus gespielt. Die jüngste Resolution des Sicherheitsrats, 1284, wurde von britischen Vertretern in New York entworfen. Man sagt, sie seien stolz darauf. Peter Hain, Staatssekretär im Außenministerium, bezeichnet die Resolution ständig als "Ausweg für den Irak". Tatsächlich handelt es sich um eine bestechende Reihe von Forderungen, die die Rückkehr von Waffeninspektoren verlangen, aber keine Garantie bieten, dass die Sanktionen aufgehoben werden, wenn das Regime klein beigibt.
Im vergangenen Jahr gab Jon Davies, der damalige Chef der Irak-Abteilung im Außenministerium, zu, es bestehe ein "Mangel an Klarheit genau darüber, was die Bedingungen sein werden". Es besteht schon lange der Verdacht, so Dr Eric Herring, Spezialist der Universität Bristol, dass die "Politik der USA und Großbritanniens die Zielmarken ständig verändern oder verbergen, so dass die Zustimmung [durch den Irak] unmöglich wird und die Sanktionen nicht aufgehoben werden können".
In den letzten Monaten hat Peter Hain in den Spalten des New Statesman und des Guardian ein Regime von Sanktionen unterstützt, das, so UNICEF, eine Hauptursache für den Tod von mindestens 180 Kindern täglich ist.
Hains Artikel und Briefe werden von Beamten des Außenministeriums geschrieben, die den vertrauten zweideutigen Jargon benutzen, der die britische Unterstützung für die Roten Khmer, den Einsatz von Hawk-Flugzeugen in Osttimor und die illegale Lieferung von Waffenteilen an den Lieblingstyrannen der Briten in den 80er Jahren, Saddam Hussein, leugnet.
Einen guten Eindruck vom Ausmaß dieser "Kultur der Lüge" erhält man von Hains letzten Brif an den New Statesman (15.1.), worin er behauptete, dass "etwa 16 Milliarden Dollar an humanitärer Hilfe im vergangenem Jahr dem irakischen Volk zugekommen sind". Hans von Sponeck antwortete, UNO-Dokumente zitierend, dass sich diese Zahl tatsächlich auf einen Zeitraum von vier Jahren bezieht und dass, nach der Reparationszahlungen an Kuwait und die Ölgesellschaften, dem Irak gerademal 100 Dollar bleiben, um einen Menschen am Leben zu erhalten.
Dass Hain nicht einmal die Kompetenz derjenigen in Frage zu stellen scheint, die diese Desinformationen schreiben, ist bemerkenswert. Dass er der Bürokratie einer räuberischen Ordnung, deren Gegner er einst war, erlaubt, seine Antiapartheidaktivitäten zu beschwören, ist eine traurige Ironie. Dass er privat ernsthafte Zweifel über Sanktionen hegen soll, die er in Bezug auf Zimbabwe abgelehnt hat, da sie "die einfachen Leute, nicht die Elite treffen", ist ein Maßstab für seinen Ehrgeiz und erklärt vielleicht, warum er sich weigert, auf seine Kritiker einzugehen, und stattdessen zu Rhetorik und Beschimpfungen Zuflucht nimmt.
Jedesmal, wenn er einen prinzipientreuen und informierten Kritiker wie Halliday oder von Sponeck als "nützliche Idioten Saddam Husseins" bezeichnet, ist dies ein Echo der Anklagen des früheren Apartheidregimes gegen Hain als "nützlichen Idioten des Kommunismus".

Abgereichertes Uran

Die Frage der Sanktionen ist einer von drei miteinander verbundenen Skandalen, die mit ungeheurem Leid und dem Verlust von Leben verbunden sind. Die Wahrheit über die Auswirkungen des abgereicherten Urans in den Granaten, die 1991 im Golfkrieg und 1999 beim Überfall der NATO auf Jugoslawien abgefeuert wurden, ist, dass Amerikaner und Briten einen nuklearen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führten, wobei sie die Gesundheit und Sicherheit ihrer eigenen Soldaten missachteten. Und dies hauptsächlich, um die Pentagonstrategie des "umfassenden Krieges" nach Ende des Kalten Krieges zu testen.
Am 9.Januar erzählte Verteidigungsminister John Spellar dem Unterhaus, dass die Schlussfolgerung aus vielen Jahren der Forschung darin bestehe, dass "es keine Anzeichen für die Verbindung des abgereicherten Urans mit Krebserkrankungen oder dem allgemein schlechteren Gesundheitszustand von Golfkriegsveteranen gibt". Dies ist ein Echo auf Peter Hain, der behauptet hatte, es gebe "keine glaubwürdige Forschungsdaten".
Tatsächlich sind die Daten glaubwürdig und umfangreich und sie gehen zurück auf die Entwicklung der Atombombe 1943, als Brigadegeneral Leslie Groves, Chef des Manhattan Project, warnte, dass in Munition verwendete Uranpartikel "permanente Lungenschäden" verursachen könnten. 1991 warnte die britische Atomenergiebehörde, dass, wenn Partikel von nur 8% des im Golfkrieg verwendeten abgereicherten Urans inhaliert wurden, mit "300.000 potenziellen Todesfällen" zu rechnen sei.
Spellar behauptete, dass es keinen Anstieg in der Anzahl von Nierenleiden oder Krebs bei Golfkriegsveteranen gegeben hätte. Der britische Verband der Golfkriegsveteranen und ihrer Angehörigen hat das Verteidigungsministerium über eine dramatische Zunahme solcher Erkrankungen bei Veteranen informiert.
Im vergangenen Jahr sagte Spellar: "Wir haben keine Informationen darüber, dass abgereichertes Uran die Ursache für Krankheiten oder den Tod von Menschen ist, die im Kosovo oder in Bosnien gedient haben." Auch dies ist falsch. In den Richtlinien der NATO selbst heißt es: "Die Inhalation von Staubpartikeln aus unlöslichem abgereicherten Uran ist mit langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen, darunter Krebs und Geburtsfehler, in Verbindung gebracht worden."
Erst nachdem sechs italienische Soldaten, die in Kosova gedient hatten, an Leukämie starben, verursachte der Skandal eine Panik bei der NATO, so dass sich der Sekretär im Verteidigungsministerium Geoffrey Hoon selbst widersprach, als er erst sagte, dass abgereichertes Uran "ein begrenztes Risiko" beinhalte, dann "keine Risiken", dann absurderweise, dass es die "britischen Streitkräfte schützt". Für das irakische Volk jedoch geht die Vertuschung weiter.
Bezeichnend an der Reaktion der Politiker und der Medien ist, dass die Mehrheit der Opfer des abgereicherten Urans kaum einer Erwähnung für wert befunden worden sind. Doch Blair selbst wurde mit ihrem Leiden konfrontiert, als ihm im März 1999 die im British Medical Journal veröffentlichte UN-Statistik zugeschickt wurde, die von 1989 bis 1994 im Südirak eine siebenfache Zunahme an Krebserkrankungen zeigen.

Ein zweites Hiroshima

Auf den Südirak lässt sich die theoretische Zahl von "500.000 Todesfällen" anwenden, in einer Wüstenlandschaft, in der der Staub in Nasen, Augen und Kehle dringt und die Menschen auf den Straßen und die Kinder auf den Spielplätzen umweht. In den Krankenhäusern Basras sind die Krebsabteilungen überfüllt. Vor dem Golfkrieg gab es sie nicht.
"Der Staub ist Träger des Todes", sagte mir Dr. Jawad Al-Ali, ein Krebsspezialist und Mitglied des britischen Royal College of Physicians. "Unsere eigenen Studien legen nahe, dass mehr als 40% der Bevölkerung in diesem Gebiet an Krebs erkranken werden. Die meisten in meiner eigenen Familie haben jetzt Krebs, und dabei liegt diese Krankheit nicht in unserer Familie. Sie hat sich auf den medizinischen Stab des Krankenhauses ausgedehnt. Wir durchleben ein zweites Hiroshima. Natürlich kennen wir nicht die genaue Quelle der Kontaminierung, weil man uns [infolge der Sanktionen] nicht erlaubt, die Ausrüstung zu bekommen, um eine entsprechende wissenschaftliche Untersuchung anzustellen oder auch nur das Ausmaß in unseren Körpern zu testen. Wir vermuten abgereichertes Uran. Es kann schlichtweg keine andere Erklärung geben."
Das für die Sanktionen verantwortliche Komitee in New York hat die Versendung einer Reihe von Geräten zur Krebsdiagnose sowie von Medikamenten und sogar Schmerzmitteln in den Irak blockiert oder verzögert. Professor Karol Sikora, Chef des Krebsprogramms der Weltgesundheitsorganisation, schrieb im British Medical Journal: "Angeforderte Ausrüstung zur Bestrahlungstherapie, chemotherapeutische Medikamente und schmerzstillende Mittel werden von den britischen und amerikanischen Beratern [des Komitees für die Sanktionen] kontinuierlich blockiert. Es scheint die ziemlich lächerliche Auffassung zu bestehen, dass solche Mittel in chemische oder andere Waffen verwandelt werden könnten."
Professor Sikora äußerte mir gegenüber: "Das traurigste, was ich im Irak gesehen habe, waren die Kinder, die starben, weil es keine Chemotherapie und keine Schmerzkontrolle gab. Es klingt verrückt, dass sie kein Morphium haben konnten, weil dies für jeden mit Krebsschmerzen das beste Mittel ist. Als ich dort war, hatten sie nur eine kleine Flasche mit Aspirinpillen für 200 Schmerzpatienten."
Wenngleich es in manchen Regionen zu Verbesserungen der Lage kam, so werden doch mehr als 1000 lebensrettende Objekte in New York "festgehalten", während Kofi Annan persönlich für ihre "unverzügliche" Freigabe eintrat.
Ich interviewte Professor Doug Rokke, Arzt in der US-Armee, der die "Säuberung" von abgereichertem Uran in Kuwait leitete. In seinem Körper befindet sich nun das 5000-fache des erlaubten Grads von Radioaktivität und er ist krank. "Es kann keinen vernünftigen Zweifel daran geben", sagte er. "Als Folge der Vergiftung durch das abgereicherte Uran leiden die Menschen im Südirak an Atem- und Nierenproblemen und Krebs. Angehörige meines eigenen Teams sind an Krebs gestorben oder werden daran sterben. Auf verschiedenen Treffen und Konferenzen haben die Iraker um die normalen medizinischen Behandlungsprotokolle ersucht. Das US- und das britische Verteidigungsministerium haben es ihnen verweigert. Ich besuchte eine Konferenz in Washington, wohin die Iraker kamen, um Hilfe zu bekommen. Sie wurden zurückgewiesen: es läge in ihrer eigenen Verantwortung."

Zivile Opfer von Luftangriffen

Der dritte Strang der Vertuschung betrifft die Tötung irakischer ziviler Personen durch die britische und amerikanische Luftwaffe in den "Flugverbotszonen". Wie Hans von Sponeck hervorhebt, verstoßen diese gegen internationales Recht. In einem vom UN-Sicherheitssektor untersuchten Zeitraum von fünf Monaten bestand fast die Hälfte der Opfer aus Zivilpersonen.
Ich interviewte Augenzeugen eines der im UN-Bericht erwähnten Angriffe. Eine sechköpfige Schäferfamilie — ein Großvater, der Vater und vier Kinder — wurde von einem britischen oder amerikanischen Piloten getötet, der zweimal im offenen Wüstengelände im Stoßflug auf sie niederging. Teile des Geschosses lagen unter den Überresten ihrer Schafe. UN-Offizielle — nicht die irakische Regierung — bestätigten persönlich die Fakten dieser Greueltat.
Die Blair-Regierung hat für die Bombardierung des Irak 800 Millionen Pfund ausgegeben.
In seinem Brief an den New Statesman vom 15.Januar hat Peter Hain meine Erwähnung der Möglichkeit, dass er, zusammen mit anderen westlichen Politikern vor den neuen Internationalen Gerichtshof für Kriegsverbrecher zitiert werden könnte, als "unbegründet" bezeichnet. Es ist keineswegs unbegründet.
Ein von Professor Marc Bossuyt verfasster Bericht für den UN-Generalsekretär, stellt fest, dass das "Sanktionsregime gegen den Irak nach den bestehenden Menschenrechtsbestimmungen unzweideutig illegal ist" und "ernste Fragen gemäß der Völkermordkonvention aufwerfen könnte". Er deutet damit an, dass, falls der neue Gerichtshof Vollmachten haben soll, er nicht bloß das Recht der Mächtigen verkünden kann.
Ein zunehmender Teil der juristischen Meinung stimmt darin überein, dass der Gerichtshof die Pflicht hat, wie Eric Herring schrieb, "nicht nur gegen das Regime zu ermitteln, sondern auch zu den UN-Bombardierungen und Sanktionen, die die Menschenrechte der irakischen Zivilisten dadurch in ungeheurem Ausmaß verletzt haben, dass sie ihnen viele der zum Überleben wichtigen Mittel verweigern. Er sollte auch gegen jene ermitteln, die [Saddam Husseins] Programme jetzt verbotener Waffen unterstützt haben, darunter westliche Regierungen und Unternehmen."
Im vergangenen Jahr blockierte Peter Hain eine parlamentarische Anfrage, eine vollständige Liste schuldhafter britischer Unternehmen zu veröffentlichen. Warum? Ein Ankläger könnte fragen, wer die größte Anzahl unschuldiger Menschen im Irak umgebracht hat: Saddam Hussein oder britische und amerikanische Politiker? Die Antwort könnte sehr wohl den mörderischen Tyrannen auf den zweiten Platz verweisen.

John Pilger

Der Artikel erschien ursprünglich im New Statesman vom 22.1.01. Hier übersetzt und leicht gekürzt nach Green Left Weekly, Nr.435, 7.2.2001.



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