Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.06 vom 15.03.2001, Seite 12

Krieg mit dem Präsidentenpalast

Streit um Korruption stürzt Türkei in Finanzkrise

Am frühen Vormittag des 19.Februar verließ der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit wutentbrannt die monatliche Tagung des Nationalen Sicherheitsrats (MGK). Anders als sonst offenbarte der empörte Premier der wartenden Presse die Details der Auseinandersetzung in dem für gewöhnlich geheim tagenden Gremium, das zur Hälfte mit Militärs und zur Hälfte mit ZivilpolitikerInnen besetzt ist und seit dem Militärputsch von 1980 die einflussreichste Instanz der Türkei darstellt. Staatspräsident Ahmed Necdet Sezer habe sich dort "über alle Formeln der Höflichkeit hinweggesetzt" und durch sein "ungehöriges" Verhalten eine "ernsthafte Krise" ausgelöst, ließ Ecevit seinem Zorn öffentlich freien Lauf.
Anlass für den Streit zwischen Sezer und Ecevit, so ließ die türkische Presse später verlauten, sei der Vorstoß des Staatspräsidenten gewesen, wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Korruption durchzusetzen. In der Tat ist die Verflechtung von Staat und organisiertem Verbrechen, Vetternwirtschaft und die weite Verbreitung von Bestechung bis in höchste politische Kreise in der Türkei seit langem ein offenes Geheimnis.
Noch in ihrem regelmäßigen Bericht vom 8.11.2000 hatte die "Kommission über die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt" vor dem EU-Gipfel in Nizza angemerkt: "Seit zu Jahresbeginn parlamentarische Untersuchungen über die mutmaßliche Verwicklung zweier Parteiführer in Korruptionsfälle eingeleitet wurden, steht dieses Thema oben auf der politischen Tagesordnung. Korruption ist nach wie vor ein weit verbreitetes Problem, das Grund zu ernsthafter Besorgnis gibt." Auf einer während des Weltwirtschaftsforums in Davos verteilten Liste über staatliche Korruption lag die Türkei nach China, Russland und Indonesien an vierter Stelle.
Zwar ratifizierte die Türkei vergangenes Jahr das OECD-Abkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr. Jedoch hat sie keines der entsprechenden Abkommen des Europarates bisher unterzeichnet — weder das "Strafrechtsabkommen zur Bekämpfung der Korruption", noch das "Zivilrechtsabkommen zur Bekämpfung der Korruption" noch das "Abkommen über Geldwäsche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Erträgen aus Straftaten".
Deshalb haben EU, Weltbank, IWF und andere Institutionen von Ankara mehrfach konsequente Maßnahmen gegen die Korruption gefordert. Der Vorsitzende der Weltbank nannte die Türkei unlängst ein von Korruption und Bestechung verrottetes Land. Und selbst der türkische Generalstabschef Kivrikoglu erklärte vor einem Jahr, Korruption habe alle Bereiche der türkischen Gesellschaft infiltriert und sei für das Land "genauso gefährlich wie der Separatismus". Im Mai 2000 ordnete der Innenminister daraufhin eine Untersuchung über Korruption in der türkischen Verwaltung an, die allerdings bis heute im Sande verlief. Gegen Staatsanwalt Talat Salk, der auch gegen ranghohe Minister ermittelt, leitete das Justizministerium gar ein Disziplinarverfahren ein.
Grund genug für einen über jeden Verdacht erhabenen Staatspräsidenten, sich das Thema Korruptionsbekämpfung zu eigen zu machen. Auf der turbulenten Sitzung des MGK kündigte Präsident Sezer die Reaktivierung eines in der Verfassung zwar verankerten, bisher aber fast vergessenen Kontrollamtes an — den mit der Aufsicht der staatlichen Banken beauftragten Staatskontrollrat (DDK). Er solle personell neu besetzt werden und nur dem Staatspräsidenten Bericht erstatten. Die türkischen Banken stellen traditionell das Zentrum des Klientelsystems in der türkischen Politik dar und hatten im Jahr 2000 durch Gefälligkeitskredite einen Verlust von 20 Mrd. US-Dollar erwirtschaftet.
Im MGK warf Sezer Ministerpräsident Ecevit vor, die Gesetze des Landes nicht zu respektieren und nicht konsequent genug gegen Korruption vorzugehen. Offensiv forderte er den Rücktritt verschiedener korrupter Minister, u.a. von Energieminister Cumhur Ersümer und von Vizepremier Hüsamettin Özkan.
Özkan habe den Präsidenten gefragt, wer ihm das Recht auf den DDK einräume; im Verlauf der Debatte soll Sezer symbolträchtig ein Exemplar der Verfassung vor Ecevit auf den Tisch geknallt haben. Özkan habe den Band zurückgeworfen, bevor er gemeinsam mit dem Premier aus dem Saal stürmte.
An der Istanbuler Börse rutschte unmittelbar nach dem Ende von Ecevits pressewirksamem Zornausbruch der Hauptaktienindex innerhalb von sieben Minuten um 9% und im weiteren Tagesverlauf um 13% ab. Privatbanken mussten innerhalb weniger Stunden bei der Zentralbank etwa 5 Milliarden Dollar einkaufen. Die kurzfristigen Zinsen schossen auf 3000% hoch.
Um Schadensbegrenzung zu betreiben, erklärte Ecevit nach einer eilig einberufenen Kabinettsitzung, die Regierung werde auf keinen Fall zurücktreten und forderte von Präsident Sezer eine öffentliche Entschuldigung. Man werde das an einen Kredit von 11,4 Mrd. Dollar geknüpfte Sanierungsprogramm des IWF fortsetzen, betonte er.
Auch die Generäle ließen wissen, dass ein Rücktritt der Regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erwünscht sei, stellten sich jedoch inhaltlich hinter den Präsidenten. Wie General a. D. Kemal Yavuz mitteilte, sei die Regierung bereits mehrfach ermahnt worden, Maßnahmen gegen die Korruption der Politiker zu ergreifen, habe aber nichts unternommen.
Sezer selbst lehnte einen Rücktritt ebenfalls kategorisch ab, den Minister und Parteiführer mit Äußerungen gefordert hatten wie: "Es herrscht Krieg mit dem Präsidentenpalast". Ohnehin kann der Präsident auf legalem Weg kaum zum Rücktritt gezwungen werden.
Der freie Fall der Aktienkurse dauerte an. Der Börsenindex brach binnen drei Tagen um bis zu 36% ein. Um die Finanzkrise in den Griff zu bekommen, gab die Regierung nach einer nächtlichen Krisensitzung am 22.2. auf Anraten von IWF-Vizechef Stanley Fischer den Wechselkurs der Lira frei, der seit 1999 an einen Währungskorb aus Euro und Dollar gebunden ist. Sofort fiel der Kurs um 30%. Wechselstuben verlangten bis zu 1 Mio. Lira für einen Dollar, sofern sie den Verkauf nicht gänzlich einstellten.
Der IWF begrüßte nach den Worten seines geschäftsführenden Direktors, Horst Köhler, die Entscheidung, weil die ungünstigere Devisenbewertung die Kapitalflucht bremse. Er schloss weitere Hilfen für die Türkei nicht aus. IWF-Türkei-Spezialist Carlo Cottarelli kündigte an, bei gleichbleibendem Ziel müsse die Strategie zur Senkung der Inflation überarbeitet werden.
Während die Aktienkurse seither wieder steigen, haben Millionen von Menschen ein Drittel ihres oft ohnehin spärlichen Vermögens verloren. Zahllose Geschäfte blieben geschlossen, weil die HändlerInnen insbesondere für Importwaren die Preise nicht mehr festzulegen vermochten oder ihrerseits nicht mehr einkaufen konnten.
Noch entlädt sich der öffentliche Unmut über die Medien. Nach der Freigabe des Wechselkurses haben Gewerkschaften und Unternehmerverbände eine Umbildung der Regierung gefordert. Erfolglose Minister und Bürokraten müssten ersetzt werden, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung.
Doch Ecevit hält ungerührt an seinem Kabinett fest, ersetzte lediglich die Chefs der Zentralbank und der Bankenaufsicht. Zum Superminister für Wirtschaft und Finanzen ernannte er den Vizepräsidenten der Weltbank, Kemal Dervis, der auch den ehemaligen Schatzamts- und Notenbankchef ersetzen soll. Der bei der Weltbank für "Armutsbekämpfung" zuständige Dervis wird mit Ausnahme des Finanzministeriums die Verantwortung für die gesamte Wirtschaftspolitik übernehmen und die Verhandlungen mit dem IWF über ein neues Hilfspaket führen.

Knut Rauchfuss

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


zum Anfang