Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.06 vom 15.03.2001, Seite 13

Mexico

EZLN — ethnische Reformorganisation?

Die Zapatistas wollten, so der offizielle Grund der Reise, vor dem Kongress in Mexiko-Stadt ihren Standpunkt zu der Gesetzesinitiative über "indianische Rechte und Kultur" darlegen. Doch der wirkliche Grund ist die erneute Mobilisierung der Linken und die Stärkung der sozialen Bewegungen. Die EZLN nutzt die Reise, um ihre politischen Vorstellungen direkt und ungefiltert der Bevölkerung mitzuteilen und für Bündnisse und Unterstützung zu werben. Das ist gelungen. Wo immer die Zapatista-Comandantes auftraten, wurden sie von zehntausenden begeisterter Anhänger empfangen, die Reise war in das Zentrum der medialen Aufmerksamkeit gerückt, die mexikanische Linke hatte eine gewisse Mobilisierungsfähigkeit wiedererlangt.
Es ist allerdings nicht der erste Versuch der EZLN, eine mexikoweite Dynamik auszulösen. Da sich aber in der Vergangenheit die indianischen Organisationen als einzig verlässliche breite politische Kraft herausgeschält hatten, rückte die Forderung nach "Autonomie" zunehmend in den Mittelpunkt.
Von Unkenntnis zeugt die von einigen Deutschen u.a. in der Wochenzeitung Jungle World geäußerte Kritik, die EZLN konstruiere vor allem ethnische Subjekte. In der Autonomieforderung der Zapatistas entsteht die Inanspruchnahme gewisser Rechte ausschließlich aus der Selbstzuschreibung und ist eng an die "Gemeinschaft" gekoppelt. Autonomie ist demnach eine Befugnis und ein universelles Recht all derjenigen, die sich selbst als Teil einer Geschichte mit definierten Bestrebungen anerkennen. Dabei handelt es sich nicht um ein rückwärtsgewandtes Projekt der Traditionspflege: aus der vergangenen Erfahrung, aktuellen Situation, den gesprochenen Sprachen und dem bewohntem Land soll ein Projekt für die Zukunft aufgebaut werden.
Um der Autonomie eine konkrete Form zu geben, bedarf es — außer der politischen Bewegung zu ihrer Durchsetzung — auch einer entsprechenden juristischen Verankerung. Dazu dient das 1996 unterzeichnete "Abkommen von San Andrés über indianische Rechte und Kultur". Das mag reformistisch erscheinen, ist aber — so lange der bürgerliche Staat weiter existiert — nicht ganz unwesentlich.
Gemäß der Vorlage folgt der Anerkennung der indianischen Gemeinschaften als Rechtssubjekte die Anerkennung der kollektiven Rechte. Dabei geht es nicht um weiterreichende individuelle Rechte — diese sollen, so die Organisationen des Nationalen Indígena-Kongresses (CNI), für alle Menschen (auch NichtmexikanerInnen!) gelten: Kollektive Rechte sind der Rahmen, in dem die individuellen Rechte anders ausgeübt werden.
Hier liegt auch die Wurzel des Konflikts, weil eine solche Definition natürlich auch das volle Recht umfaßt, eigene gesellschaftliche Organisationsformen inklusive der entsprechenden Vertretungs- und Entscheidungsmechanismen herauszubilden und die eigenen Normen ihre Entsprechung in Justiz, Eigentumsfragen und -formen, Erziehung, Gesundheit, Ökonomie und "Entwicklung" finden. Dies ist mit dem hegemonialen — und damit homogenisierenden — Anspruch eines modernen Staatsverständnisses unvereinbar.
Das Verständnis einer bürgerlichen Gesellschaft fußt auf der Vorstellung der Unzertrennlichkeit der Kategorien Nationalstaat/Territorium als universelles Normsystem. Die parallele Existenz verschiedener Normsysteme in einem Territorium bei gleichzeitiger Selbstzuordnung zu den jeweils anderen Systemen beißt sich mit dem Allmachtsanspruch des modernen Staates.
Angesichts dessen erscheint die in einigen — vor allem deutschen — Kreisen erhobene Kritik, die Autonomieforderung sei ein bürgerlicher Reformansatz, unverständlich. Sie geht an der Realität vorbei und zeugt nur von einem quasireligösen puritanischen Politikverständnis. Die Option Reform oder Revolution ist in dieser Form falsch: Die Entscheidung hängt nicht von den subjektiven Wünschen oder dem Willen Einzelner ab, sondern vom Kräfteverhältnis, der politischen Konjunktur und dem gesellschaftlichen Klima.
Reformen oder Revolutionen sind ein Resultat der objektiven Verhältnisse. Eine solche Kritik kann nur aus einer Position geäußert werden, die die Privilegien bürgerlicher Rechte genießt. Auch die Verbesserung der Situation von AsylbewerberInnen und/oder MigrantInnen in Deutschland ist nicht revolutionär, soll sie deshalb abgelehnt werden? Von bürgerlich-naiven Vorstellungen zeugt viel eher das Ideal der republikanischen Bürger, die unabhängig von ihrer Herkunft vor dem Gesetz gleich sind.

Dario Azzellini

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