Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 25.04.2001, Seite 1

Für eine Neubestimmung von Arbeit

Zeit statt Konsum

Ausgerechnet die Springer-Zeitung Die Welt sang in ihrer Ausgabe vom 7.April ein "Loblied auf die Faulheit" — eine Antwort auf Schröders Diffamierung der Erwerbslosen, die man aus dieser Ecke nicht vermutet hätte. In zwei ausführlichen Kommentaren polemisierte sie gegen "den rattenhaften Fleiß": "Für sich genommen ist der Fleiß nichts Gutes, genausowenig wie die Faulheit etwas Böses ist . Denn wie die Faulheit eine Sekundärtugend, ist der Fleiß eine Sekundärtugend; um sie zu bewerten, muss man wissen, zu was sie dienen."
Faulheit (hier sinngleich mit "Muße" und "Zeit zum Nachdenken") wird vor allem mit Kreativität in Verbindung gebracht ("Ohne die Faulheit säße der Mensch heute noch in der Höhle") und die ist die Voraussetzung für produktivitätssteigernde Innovationen. Aber der Faulheit wird auch eine ausgesprochen soziale Seite anerkannt: "Nur wer seine Zeit nicht dauerhaft mit Arbeit, der Karriere, dem Vorankommen belastet, findet Muße für die wirklich wichtigen Dinge im Leben: die Familie, Freunde, der Plausch mit dem Nachbarn, das Verströmen sozialer Wärme. Nur wer die Beine hochlegt, hat auch die Arme frei. Und nur mit freien Armen kann man den Sozialkitt anrühren, den alle so schmerzlich vermissen."
Schade nur, dass die Welt wenige Ausgaben später ihre Einsichten wieder zurücknimmt und in den allgemeinen Chor nach Disziplinierung der Erwerbslosen einstimmt.
Warum nur nimmt niemand zur Kenntnis, dass gerade Erwerbslose sich Gedanken machen, was sie Nützliches vollbringen können, obwohl der Arbeitsmarkt ihnen "Wertlosigkeit" bescheinigt? Je höher sie qualifiziert sind, desto genauer ihre Vorstellungen, was sie gerne arbeiteten, wenn sie denn dafür entlohnt würden. Schröder hat dies indirekt bestätigt, als er ihnen gleichzeitig vorwarf, faul in der Hängematte zu liegen und nebenbei noch schwarz zu arbeiten. Was denn nun, arbeiten sie oder sind sie faul?
Springers Blatt kommt immerhin das Verdienst zu, aufgezeigt zu haben, dass die Debatte um die Erwerbslosigkeit nicht mit ein paar Manipulationen an der Arbeitslosenversicherung abzuhandeln ist. Beim Zusammenbruch der DDR konnte man erleben, wie die westdeutsche Industrie mit ihrem Arbeitskräftepotenzial ohne größere Engpässe in der Lage war, 17 Millionen Menschen mehr zu ernähren und mit Autos und Videorecordern zu versehen. Um die Gesellschaft auf ihrem jetzigen Niveau zu reproduzieren, sind auch die 38 Millionen zuviel, die in Deutschland derzeit noch erwerbstätig sind. Beim erreichten Stand der Produktivität kann gesellschaftlicher Fortschritt nicht mehr allein in der weiteren Akkumulation von Waren bestehen; wichtiger sind Dienstleistungen am Menschen, die nur dann von guter Qualität sind, wenn sie unter guten Arbeitsbedingungen hergestellt und gut bezahlt sind. Ob man will oder nicht, wirft jede grundsätzlichere Debatte über Wege aus der Massenarbeitslosigkeit die Frage auf, worauf wir unsere Arbeits- und Lebenszeit über die Reproduktion hinaus verwenden sollen.
Für die Gewerkschaften wird das zu einer Gretchenfrage, sofern sie überhaupt noch den Anspruch haben, gestaltend in die gesellschaftliche Auseinandersetzung einzugreifen. Sie wären am ehesten in der Lage, eine sinnvolle Verteilung der gesellschaftlichen Arbeitszeit und des verfügbaren Reichtums durchzusetzen. Und mit diesen Mitteln allen Menschen die Möglichkeit zu geben, ihren Drang nach einer sinnvollen Tätigkeit nicht in Schwarzarbeit pervertieren zu müssen, sondern zur Entfaltung von kreativem Potenzial zu nutzen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt damit zu pflegen und dabei auch noch einen angemessenen Lebensunterhalt zu verdienen. Was aber sind ihre gesellschaftlichen Visionen?
Der erste Chef der neuen Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), Frank Bsirske, hat sich in seiner Jungfernrede auf dem Gewerkschaftskongress aus dem "Bündnis für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit" nicht verabschieden wollen. Das Bündnis bereitet aber Vorstöße wie den, Arbeitslosengeld nur noch gegen Arbeit zu zahlen, vor; es bindet damit die Gewerkschaften in die neoliberale Strategie ein, die in der Arbeit nur einen Kostenfaktor, nicht die Grundlage für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sieht. Dem fälligen Bruch mit dem Ultraliberalismus wich er aus.
Anders der ausscheidende IG-Medien-Vorsitzende Detlef Hensche. Er rief in einem Interview mit dem Neuen Deutschland in Erinnerung, mit der Abwahl der Kohl-Regierung habe 1998 auch das neoliberale Modell eine Absage erhalten und sei der Wunsch nach einem Kurswechsel in eine solidarische Gesellschaft zum Ausdruck gebracht worden. "Solidarische Lösungen sind mehrheitsfähig."
Das gehe auch aus einer Untersuchung des Allensbacher Instituts hervor, das nun wahrlich nicht linkslastig sei: "Danach wünschen sich 72% der Deutschen einen fürsorglichen Staat, eine solidarische Umverteilung, sie haben ein hohes Sicherheitsbedürfnis und Angst vor dem, was uns im Sinne der New Economy oder des Schröder-Blair-Papiers als Eigenvorsorge und Selbstverantwortung suggeriert wird. Das ganze klassische Sozialmodell, um das die Gewerkschaften jahrzehntelang gekämpft haben und das die Sozialdemokratie umzusetzen versucht hat, wird nach wie vor von einer breiten Mehrheit getragen."
Detlef Hensche hat auch Vorstellungen, wie sich ver.di politisch profilieren sollte. Danach gefragt, ob man ernsthaft versprechen könnte, jedem Menschen, der dies wolle, eine lebenslange, sozial abgesicherte Vollzeitarbeit mit existenzsicherndem Einkommen zuteil werden zu lassen, antwortete er:
"Wenn man will, geht das auch. Bei einer Arbeitszeitverkürzung auf 32 Stunden hätten wir in der Bundesrepublik Vollbeschäftigung. Ich kann eine staatliche Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik betreiben, die in zwei, drei Jahren 1,5 Millionen Arbeitsplätze schaffen würde. Tue ich den Schritt zur Ganztagsschule als Regelschule, müssen zigtausend Lehrerinnen und Lehrer neu eingestellt werden . Das setzt allerdings einen Kraftakt voraus, für den ich derzeit nicht die gesellschaftlichen Kräfte sehe."
Hensche kann sich auch vorstellen, "je nach Lebensphase mal auf 20 Stunden herunterzugehen, oder Blockfreizeiten zu nehmen, oder eine Zeitlang ganz auszusteigen". "Im Sinne von Marx", fragt das Neue Deutschland nach, "dass die frei verfügbare Zeit das wirkliche Maß der Freiheit ist?"
"Die Frage ist eben, welche Gesellschaft ich will. Für mich spiegelt sich im Umgang mit der Zeit entweder Autonomie oder Knechtschaft wider. Ich bin sehr für autonome Gestaltung — nicht nur der Freizeit. Ein reichhaltiges Leben, Anerkennung, Selbstverwirklichung und Selbstbestätigung sollen sich auch in der Arbeitswelt finden", antwortet Hensche.
Die Gewerkschaften könnten Schröders menschenverachtende Entgleisungen zum Anlass nehmen, die Debatte über die "Souveränität der Zeit" neu zu entfachen. Aber wahrscheinlich müssen ihnen die Erwerbslosen dabei ein bisschen helfen.

Jakob Moneta/Angela Klein


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