Sozialistische Zeitung |
Ursprünglich waren Sozialleistungen ein Schutz gegen Niedriglöhne und Arbeitszwang; jetzt werden sie zunehmend dazu
genutzt, Arbeitslose untereinander und mit anderen abhängig Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt in eine Lohnkonkurrenz zu treiben. Diese Entwicklung droht,
Solidarität aufzukündigen und Rassismus anzufachen; letzten Endes führt er zu Lohndumping.
Nicht nur in Großbritannien sind Erwerbslose mit solchen Angriffen konfrontiert; der Prozess findet
in ganz Europa und darüber hinaus statt. Workfare-Programme wurden zuerst in den 80er Jahren in Amerika eingeführt. Für einen erfolgreichen Kampf
gegen diese Art von "Reformen" wird es infolgedessen immer wichtiger, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wie regionale und nationale
Verhältnisse mit der internationalen Situation zusammenhängen.
Grundsätzlich können die heutigen "Reformen" des Sozialstaats als ein Teil des
globalen Restrukturierungsprozesses der Kapitalbeziehungen entlang neoliberaler Modelle betrachtet werden. Die Restrukturierung ist eine Antwort auf die
Verwertungskrise, die durch die Klassenkämpfe der 60er und 70er Jahre ausgelöst wurde. Sie ist Bestandteil des Versuchs des Kapitals, die Produktion so zu
reorganisieren, dass Rückgang der Kapitalrentabilität aufgehoben wird - bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung.
Die Restrukturierung schließt die Beseitigung herkömmlicher Systeme der Regulierung des
Arbeitsmarktes, die in der Nachkriegszeit unter sozialdemokratischer Regierung entwickelt wurden, ein. Sie werden durch neue, die Ausbeutungsrate maximierende Formen
ersetzt, die neue Arbeitsbedingungen und eine neue Arbeitsdisziplin aufzwingen. Aus dieser Sicht ist die neoliberale Restrukturierung des Sozialstaats Teil eines Angriffs
auf die gesamte Arbeiterklasse.
Dabei wird der Versuch unternommen, die Arbeiterklasse in einzelne Individuen zu zersetzen. Soziale
Leistungen werden von der Willigkeit abhängig gemacht, jede Arbeit zu akzeptieren das zwingt abhängig Beschäftigte, miteinander um die Jobs
zu konkurrieren, die eine Existenzsicherung versprechen. Die Konkurrenz läuft auf allen Ebenen ab: lokal, national und international; das Ergebnis ist eine
erhöhte Ausbeutungsrate zu niedrigerem Lohn.
Es wäre allerdings falsch zu behaupten, diese Strategie laufe auf die völlige Streichung
sozialstaatlicher Leistungen hinaus; vielmehr werden sie dazu genutzt, einen sog. Niedriglohnsektor zu schaffen.
Obwohl der Prozess global ist, nimmt er in Europa eine spezifische Form an (oft als der "Dritte
Weg" bezeichnet). Die Europäische Union (EU) übernimmt in seiner Durchsetzung die führende Rolle. Die EU hat einen Mechanismus zur
Reorganisation des europäischen Kapitals entwickelt, um dessen internationale Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen. Sie hat eine Welle von Fusionen und
Privatisierungen beaufsichtigt, die es den Unternehmen ermöglicht, bestehende Tarifverträge, die den abhängig Beschäftigten geschützte
Arbeitsverhältnisse und Lohnzuwächse sichern, zu umgehen, um sie im internationalen Vergleich konkurrenzfähiger zu machen.
Durch die Einführung der Europäischen Währungsunion wurden staatliche Ausgaben,
die von Unternehmern als eine Belastung angesehen werden könnten, begrenzt. Seit 1997 hat die EU damit begonnen, Änderungen im Arbeits- und Sozialrecht
zu veranlassen, und zwar entlang von Richtlinien, die die Herstellung von "Beschäftigungsfähigkeit" (employability) verlangen. Ihr Ansatz macht
die Erwerbslosen für ihre Situation selbst verantwortlich und rechtfertigt Strategien, die die Arbeitlosen dazu zwingen, unsichere, zeitlich begrenzte Billigjobs zu
akzeptieren. In der Regel bedeutet dies, staatliche Sozialausgaben, auf die Erwerbslose bislang ein Recht hatten (eine sog. "passive" Politik), durch sog.
"aktive" (die angeblich "arbeitsunwilligen" Erwerbslosen aktivierenden) Strategien zu ersetzen. Arbeitssuchenden werden "Trainings- und
Qualifizierungsprogramme" angeboten; sie erwerben dadurch angeblich Fähigkeiten, die ihre Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt verbessern. Die
Erfahrungen mit solchen Maßnahmen in Großbritannien zeigen, dass es jedoch eher darum geht, Menschen daran zu gewöhnen, für wenig Geld zu
arbeiten.
Von der Wohlfahrt zum Arbeitszwang
Der New Deal wurde als das Flaggschiff der Welfare-to-work-Politik (wörtlich: Wohlfahrt zur Arbeit) von New Labour präsentiert. Alle, die nicht
arbeiten aber Sozialleistungen erhalten (Arbeitslose, Behinderte, Alleinerziehende), werden angehalten, jedwede Arbeit zu verrichten zu einem Mindestlohn von
3,60 Pfund (11 DM) oder darunter. Zunächst waren nur die unter 25- und über 54-Jährigen im Visier, mittlerweile sind alle betroffen, die Leistungen
beziehen.
Die Betroffenen dürfen "wählen" zwischen einer Arbeit in einem
Privatunternehmen, einem Wohlfahrtsverband, einer Umwelteinrichtung oder einer Qualifizierungs- bzw. Ausbildungsmaßnahme. Lehnen sie eines dieser
"Wahl"-Angebite ab, verlieren sie die Stütze. Die kann ihnen allerdings auch während der Maßnahme entzogen werden wegen
unregelmäßiger Teilnahme, Unpünktlichkeit oder sogar wegen der äußeren Erscheinung. Das sind die wahren
"Fähigkeiten", die Unternehmer Arbeitern beibringen wollen.
Während New-Deal Trainees ein Einkommen erzielen, das kaum über den
Sozialbezügen liegt, kassieren Unternehmen wie Tesco, Ford und GEC, die entsprechende "Arbeits"plätze zur Verfügung stellen, einen
Zuschuss von 75 Pfund (230 DM) pro Woche.
Der New Deal baut auf vorherigen Maßnahmen wie dem Project Work oder der Jobseekers
Allowance (JSA) auf. Die JSA verwandelte Erwerbslose in Arbeitssuchende, von denen jeder einen individuellen Jobseekers-Vertrag erhielt. Der Prozess der Vereinzelung
beeinflusst auch die Formen des Widerstands; viele Betroffene suchen nach individuellen Wegen, sich dem Zwang zu entziehen. Sie geben vor, Arbeit zu suchen, wechseln
von JSA zu Krankengeld, oder steigen ganz aus. Kollektive Gegenwehr ist von Mal zu Mal schwieriger geworden.
Brighton: Anti-JSA
Noch vor der Einführung von JSA entstanden im ganzen Land Anti-JSA-Gruppen, die sich zu einem "Groundswell"-Netzwerk verbanden.
Die Anti-JSA group in Brighton war wohl die erfolgreichste. Ihre Strategie war es, Kontakte zu dole
workers (Mitarbeitern in der staatlichen Fürsorge und Arbeitsvermittler) aufzubauen. Die Gruppe hatte erkannt, dass diese selbst sehr unzufrieden mit den
Entwicklungen bei der Arbeitsvermittlung waren. Anlässlich eines Streiks der dole workers suchten die Erwerbslosen den Kontakt zu ihnen. Sie erkannten, dass deren
Kampf ebenso in ihrem Interesse lag, und unterstützten ihn; die dole workers revanchierten sich, indem sie Informationen und Taktiken weitergaben. Am Tag der
Einführung des JSA wurden die Arbeitsämter von über 300 Menschen belagert. Die dole workers nutzten die Gelegenheit zu einer Arbeitsniederlegung,
und so ging der erste Tag des JSA im Chaos unter.
Leider war Brighton war ein isoliertes Beispiel. Das gleiche gilt für Project Work, das schlecht
finanzierte Workfare-Projekt der Tories. Project Work zwang Arbeitslose unter der Androhung, Leistungen zu streichen, für regionale Wohlfahrtsverbände, z.B.
karitative Institutionen, zu arbeiten. Diese Träger (zumeist karitative Organisationen) wurden Ziel von Besetzungen besetzt wurde z.B. auch eine Kirche, die
behauptet hatte, die Erwerbslosen bräuchten einen Ansporn, um morgens aus dem Bett zu kommen; die Aktion endete in einer Prügelei mit der Polizei;
täglich standen Streikposten vor deren Einrichtungen, um der Öffentlichkeit klarzumachen, dass dort Billiglöhne gezahlt werden. Am Ende sahen sich
viele gezwungen, aus den für sie peinlich gewordenen Projekten auszusteigen. Auf diese Art wurde Project Work in Brighton in die Knie gezwungen, aber leider
geschah das nur an wenigen anderen Orten.
Als dann der New Deal eingeführt wurde, ein raffiniertes und gut finanziertes Projekt, war das
Groundswell-Netzwerk beinahe zusammengebrochen. Im Gegensatz zum Widerstand gegen Project Work war die Gegenwehr gegen den New Deal in Brighton weniger
erfolgreich. Die Werbung der Arbeitsvermittlung wurde verballhornt und überall in den Arbeitsämtern verteilt, aber es gab nur vereinzelte Streikposten und
Besetzungen. Ein nennenswertes Beispiel war die Besetzung der Parteizentrale von New Labour beim EU-Gipfel in Cardiff im Juni 1998. Betroffene aus Brighton, Bolton,
Newcastle und London schauten sich dort die Fußballweltmeisterschaft auf Großbildschirmen an, während sie indisches "Essen zum
Mitnehmen" genossen.
Bristol Fashion
In Bristol begann der Widerstand gegen den Abbau sozialer Rechte mit einer Kampagne zur "Sabotage von Project Work": Sabotage war die
Hauptform der Aktion. Erwerbslose verklebten Schlüssellöcher von Unternehmen, die Beschäftigungsangebote bereitstellten, setzten Verwaltungsbeamte
des Projekts unter Druck und eröffneten sogar ihre eigene gefälschte Project-Work-Stellenvermittlungsfirma. Bei der Besetzung eines Jobcentre brachten sie
eine Band mit, die die Leidensgenossen unterhielt. Vor diesem Jobcentre zogen bei der Einführung des New Deal Streikposten auf; es folgte die Besetzung des
Büros eines Arbeitsanbieters.
Vor kurzem gab es Aktionen gegen die Einführung von Employment Action Zones (EAZ)
sie sehen die Ausgabe von Mobiltelefonen an Erwerbslose vor wie auch gegen den Ersatz von Geldleistungen durch Gutscheine an Asylbewerber. Aktivisten
verwandelten die Büros der Labour Party in Bristol in Enjoyment Zones; sie forderten Less Labour, More Party und erklärten, The Party
is Over. Lokale Aktivisten haben verstanden, dass der New Deal Bestandteil eines umfassenderen Angriffs auf das Rechte auf Sozialleistungen, auf Löhne und
Arbeitsbedingungen ist. So wurde die Bristol Benefit Action Group gegründet, um Verbindungen zwischen Erwerbslosen, Arbeitern, Studenten, Rentnern usw. zu
schaffen. Das Ziel ist, eine gemeinsame Bewegung gegen den Abbaudes Sozialstaates aufzubauen.
Dies zeigt, dass gemeinsame Organisation und Aktionen möglich sind. Dennoch muss man erkennen,
dass die neoliberalen Strategien der Individualisierung von Wohlfahrt in großem Maße erfolgreich waren; es ist nicht möglich, heute in
Großbritannien von einer Bewegung der Erwerbslosen zu sprechen. Der Versuch, ein nationales Netzwerk von Betroffenen durch "Groundswell"
aufzubauen, war kurzlebig.
Es scheint, dass die meisten Gruppen, die noch existieren, mehr mit individueller Hilfestellung als mit der
Organisation kollektiven Widerstands befasst sind. Widerstand scheint individuelle Formen anzunehmen, indem Menschen Workfare-Angebote ablehnen oder vermeiden
und auch nicht jeden Mist annehmen, wenn sie in solchen Programmen sind. Ein Großteil der Kampagnen bestand darin, Workfare-Projekte zu diskreditieren, doch
dies hat begrenzten Erfolg bei denen, die in Workfare-Programmen sind.
Die Erfahrung zeigt, dass Aktionen am effektivsten sind, wenn Erwerbslose und dole workers zusammen
kämpfen; es ist auch möglich, dass die vorgeschlagene Privatisierung der Arbeitsvermittlung die Möglichkeiten zur Herausbildung vereinten Widerstands
verbessert. Auf jeden Fall ist es entscheidend, dass jede wiederauflebende Bewegung in Großbritannien Verbindungen mit ihren europäischen Partnern aufbaut,
weil die Strategien zum Abbau des Sozialstaats auf europäischer Ebene entwickelt werden.
Andy Mathers
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04