Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 25.04.2001, Seite 11

NTW heißt Pressefreiheit?

Russlands liberaler Journalismus und sein größter privater TV-Kanal

In den bürgerlichen Medien hierzulande wird die Ersetzung des Topmanagements des privaten russischen Fernsehsenders NTW durch die Tochtergesellschaft des staatlichen Erdgaskonzerns, die die Aktienmehrheit beim Sender hält, als ein Angriff auf die Pressefreiheit dargestellt. Worum es wirklich geht, analysiert Boris Kagarlitzki im folgenden Beitrag.

Die russische Fernsehgesellschaft NTW zeigt seit einiger Zeit gleich nach der Werbung ein dramatisches Bild: Ein maskierter Mann schiebt das gewohnte Logo des Senders vom Bildschirm. Der Sinn prägt sich ein. Heute gibt es die Pressefreiheit noch; bald wird sie uns genommen sein. Die Nähe von Werbespot und Selbstbild sagt viel. Die Media-Holding von Wladimir Gussinski präsentiert sich wie eine politische Partei, sie setzt die Pressefreiheit mit dem eigenen Unternehmen gleich. Mit NTW sind wir frei. Ohne NTW gibt es keine Freiheit.
Nun sind die russischen Behörden sicher nicht die leidenschaftlichsten Verfechter der Menschenrechte und des freien Wortes. Doch die Pressefreiheit im Land hängt weniger von ihnen als von den Massenmedien selber ab. Die Tragik besteht darin, dass Journalisten, die sich vor den Anmaßungen des Kreml zu schützen suchen, nicht unbedingt Protagonisten der Freiheit sind. Das Gegenteil ist der Fall.

Diktatur braucht Disziplin

In den vergangenen zehn Jahren haben die Medien unter Beweis gestellt: Fremde Freiheit, Rechte der Anderen sind ihnen nicht viel wert. Insofern muss man sich nicht wundern, wenn die Gesellschaft trotz des Aufschreis der liberalen Intelligenz kein so großes Interesse am Schicksal der in Ungnade gefallenen Fernsehanstalt bekundet. Diese Elite der schreibenden Zunft hat nie ein Hehl aus ihrer Verachtung des Volkes, aus ihrem Hohn gegenüber dem "Mob" (80% der Bevölkerung) gemacht. Die Gesellschaft zahlt es den Journalisten jetzt mit der gleichen Münze heim.
Nicht ohne Zutun des liberalen Journalismus setzte sich in Russland das Gespenst eines "aufgeklärten" Autoritarismus fest. Zunehmend materialisiert gibt sich dieser genauso bieder, abgeschmackt und brutal wie eine "richtige" Diktatur. Liberale Publizisten lobten Pinochet und klärten das Publikum auf, dass jene Diktatoren, die in Chile Kommunisten erschossen hatten, keineswegs mit unseren ekelhaften Kommunisten verglichen werden können, auch dann nicht, wenn diese selbst niemanden erschossen haben.
Der herbeigeredete Autoritarismus war in dem Sinne "aufgeklärt", als er zwischen "Unseren" und "Fremden" zu unterscheiden wusste. Er hatte jene wunderbaren Marktreformen vor dem "debilen" Volk zu schützen, das immer wieder dazu neigt, für falsche Kandidaten zu stimmen und der Schocktherapie zu entgehen. Die Propagandisten der Schocktherapie brauchten keine Leiden auf sich zu nehmen; sie legten sich Gehälter und Diäten zu, die einen hundertprozentigen sozialen Schutz vor jeder "Reform" garantierten.
Jammerschade! Der aufkommende Autoritarismus berührt unweigerlich die korporativen und geschäftlichen Interessen der eigenen Propagandisten. Diktatur erfordert Disziplin, vor allem im ideologischen Bereich. Das bedeutet, dass alle Mitarbeiter der ideologischen Front auf einer Linie geradestehen müssen. Viele von ihnen wären durchaus bereit, die verkündete Ideologie zu akzeptieren, doch sie verstehen nicht, warum sie stramm stehen müssen. In zehn Jahren zensurlosen Lebens haben sie die Spielregeln gründlich vergessen.
In Jelzins Russland war die Propaganda der privaten Initiative überlassen. Es entstand ein Propagandamarkt, auf dem Ideen und Losungen genauso wie Erdöl, Betriebe und Beamte ge- und verkauft wurden. Marktzugang hatten nicht alle, sondern nur jene, die bereit waren, die Regeln des Markts einzuhalten und sie als die einzig möglichen zu betrachten.
NTW wurde von Anfang an nicht nur als ein guter Informationsdienst aufgebaut, sondern auch als ein konsequent ideologisches Unternehmen. Bezeichnenderweise haben es die Väter des NTW immer abgestritten, das Kanalkürzel als "unabhängiges Fernsehen" (nesawissimoje telewidenije) zu entziffern; sie bestanden auf den Varianten "nasche" (unser) oder "normales" Fernsehen. Eine sehr typische Mischung, denn in diesem Kreis wurde das "unsere", eigene, als Normalität gesetzt. Alles andere, fremde, galt als unnormal.

Katastrophale Intoleranz

Niemand kann bestreiten, dass sich bei NTW beste russische Fernsehjournalisten versammelt haben. Um so größer ist das Problem, ist die moralische Verantwortung. Die ideologische Einfarbigkeit der NTW-Belegschaft ist ihr Vorteil und Nachteil zugleich. Was erwarten wir vom Fernsehen? Ist es ein Mittel der Propaganda oder eines der Information? Die Praxis liberaler Medien der 90er Jahre war es, allen das Rederecht zu verweigern, die auch nur leichte Abweichungen von den in dieser Szene gängigen Normen aufkommen ließen. Hier herrscht eine katastrophale Intoleranz gegenüber Andersdenkenden.
Die Wahrheit braucht kein Fernsehen. Sie spricht für sich selbst. Das unabhängige Fernsehen nahm während des ersten Tschetschenien-Krieges eine antimilitaristische Position ein und stärkte damit sein Ansehen in der Gesellschaft. Doch die Aufrichtigkeit war dahin, als dieselben Journalisten im zweiten Krieg eine gegenteilige Berichterstattung machten. Das lag nicht an der gewandelten Situation und auch nicht daran, dass die Militärs dieses Mal alle Meldungen aus dem Kampfgebiet zu kontrollieren suchten. Vielmehr wurden die propagierten Grundsätze und Werte sowie das Herangehen an die Information total ausgewechselt.
Das "freie" Fernsehen brachte im zweiten Tschetschenien-Krieg keine Berichte, die den offiziellen Meldungen widersprachen (es sei denn, ausländische Agenturen hatten sie verbreitet), dafür aber reichlich Ungereimtheiten, die von militärischen Chefs und Kreml-Beamten ausgingen, und zwar ohne Ironie und Kommentar.
Verweise auf eine "gewandelte Stimmungslage in der Öffentlichkeit" sind unsinnig und beschämend. Denn es gibt keinen Wandel in der Stimmung. Die Gesellschaft hat sich 1999—2001 annähernd zweigeteilt in Anhänger und Gegner des Krieges, wie 1994—96 auch. Doch während des ersten Krieges war jede kleine Gruppe, die gegen den Krieg demonstrierte, von Journalisten umlagert, während 2000—2001 zahlreiche Protestaktionen vom Bildschirm verbannt waren. Das "unabhängige" Fernsehen unterschied sich dabei in keiner Weise von staatlichen Kanälen.

Bequeme Opposition

Kein Zweifel, hier machte sich die elementare Angst breit, "Grenzen des Möglichen" zu überschreiten. Doch Angst ist keine Legitimation für Lüge. Es geht ja auch nicht um die Angst vor dem Lager oder der Hinrichtung wie in der Stalin-Zeit. Schlimmstenfalls drohte einigen Medienmagnaten die Perspektive, wenige Tage in der Luxuszelle mit Fernseher und Kühlschrank zu verbringen. Oder Vertreibung in spanische Kurorte. Journalisten riskierten Jobwechsel: von überbezahlt zu gut bezahlt.
Was und wie berichtet wird, ist eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit. Der Sinn von Medienstukturen lag schon immer nicht in der Information der Bevölkerung, sondern im Verheimlichen realer Entwicklungen.
Die Wahrheit über Ideen und Meinungen, die den Eliten nicht gefielen, wurde den Menschen noch eifriger vorenthalten als Berichte über ungünstige Ereignisse. Denn Ereignisse lassen sich unterschiedlich interpretieren, und wenn man das Monopol auf Interpretation besitzt, braucht man böse Nachrichten nicht zu fürchten.
Die Massenmedien haben die Macht nicht nur gestützt, sie haben auch eine für die Macht bequeme Opposition formiert. Sie haben von Anfang an Freiheit mit Privateigentum und Demokratie mit Kapitalismus und Markt gleichgesetzt, wobei der Markt für sie sinngemäß flächendeckende Privatisierung und soziale Verantwortungslosigkeit bedeutete.
Allen, die unter Demokratie etwas anderes verstanden, wurde einfach das Rederecht entzogen. Fernsehen und Printmedien waren bereit, Nationalisten, Faschisten, Stalinisten zur Diskussion (zu ihren Konditionen, selbstverständlich) zuzulassen, also all jene, die Freiheit grundsätzlich verabscheuen. Jeder Gedanke, dass auch ein demokratisches Freiheitsverständnis möglich ist, wurde unterdrückt.
In den 90er Jahren hat der Großteil der Gesellschaft die Demokratisierungsidee unterstützt, das Programm liberaler Reformen aber in unterschiedlicher Weise abgelehnt. Dieses Programm konnte nur in einer Art Kuhhandel an den Mann gebracht werden. Sie wünschen politische Freiheit? Die können Sie haben, im Doppelpack mit "freiheitlichem Kapitalismus", sonst gibt es beides nicht.
Ein Teil der Intelligenz glaubte sicherlich aufrichtig an diese Bindung, doch vom Standpunkt der Demokratie und Meinungsfreiheit ist es nicht so wichtig, wie richtig oder falsch ihre Meinung ist. Viel wichtiger ist, inwieweit sich diese Meinung im freien und gleichberechtigten Meinungskampf durchsetzt.

Privatisierte Propaganda

Die Kritik der Nationalisten war ineffizient und deshalb akzeptabel. Kritik von seiten der Sozialisten, Ökologisten und linken Demokraten war wesentlich subversiver, denn sie stellte die dem Publikum tagaus und tagein suggerierte Hauptthese in Frage, einzig die Tschubais-Reform führe zur Demokratie.
Der liberale Journalismus hatte damit ein etwas unerwartetes Ergebnis: Linkes Andersdenkertum wurde erfolgreich unterdrückt und seine Verfechter an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gedrängt, während nationalistische, neostalinistische und parafaschistische Ideen eine gewisse Salonfähigkeit erhielten und sich zunehmend in der Gesellschaft verbreiteten.
Jetzt wundert sich die liberale Öffentlichkeit, dass die Enttäuschung des Volkes über den Kapitalismus und das freie Unternehmertum in Gleichgültigkeit gegenüber der Demokratie umschlägt. Unsere Helden sind auch darüber überrascht, dass die mit ihrer Hilfe geschaffene Macht den weiteren Aufbau des Kapitalismus demnächst "auf russisch", also ohne demokratische Schnörkel, fortsetzen will.
Ein Übergang zur Demokratie im Sinne von Volksmacht hat in Russland nicht stattgefunden. Die in mehrere Gruppierungen aufgeteilten Eliten haben neue, freiere Spielregeln einführt — für sich selbst. Die Privatisierung der Propaganda erfolgte nach derselben Logik wie die Privatisierung von Betrieben. Sie war genauso arrogant, kriminell und ungesetzlich.
Die Idee der "Vierten Gewalt" ging im Amerika des späten 19. Jahrhunderts von der Erfahrung journalistischer Recherchen, von der Konfrontation zwischen der unabhängigen Presse und korrupten Politikern aus. In diesem Fall hatte die Presse die Gesellschaft vor der Willkür der Regierenden zu schützen. Im Leben sah das Ganze sicherlich etwas anders aus.
In Russland hat die Losung von der "Vierten Gewalt" einen entgegengesetzten Sinn bekommen. Die Medien sind Teil der Macht geworden und beanspruchen ihr Stück vom Kuchen. Das Ergebnis ist, dass die "Vierte Macht" genauso korrupt wurde wie alle anderen auch. Man glaubt zwar ihren Enthüllungen, doch man zweifelt an der Ehrlichkeit der Journalisten. Medienkriege, in denen kompromittierendes Material als Waffe dient, haben mit dem Kampf gegen die Korruption oder mit dem Schutz der gesellschaftlichen Moral nichts zu tun.
Die Propaganda der 90er hat mit der sowjetischen ungefähr soviel gemein wie das massive Ausrauben des Landes mit der kleinlichen Korruption sowjetischer Bürokraten. Die Konvergenz, das Zusammenwachsen des kommunistischen Ostens mit dem bürgerlichen Westen, hat sich in der Tat vollzogen, aber nicht im sozialen und wirtschaftlichen Bereich, sondern auf dem Gebiet der Informationstechnologien.
Nicht das amerikanische State Departement und nicht die Bonner Politiker waren die Sieger im Kalten Krieg, es waren vielmehr Coca Cola, McDonald‘s und Adidas. Die Konsumidee eroberte die Massen. Die sowjetische Propagandamethodik wurde mit amerikanischen Werbetechnologien gekreuzt und zum Erfolgsrezept in Russland. Eine sonderbare Realisierung des Stalin‘schen Aufrufs, die russische Dimension mit amerikanischem Geschäftssinn zu verbinden.
Die Bilanz ist eine totale Propaganda orwellschen Formats. Die herrschende Ideologie dringt in alle Poren des sozialen Organismus, ohne ihr politisches Wesen zu benennen, mal unter dem Deckmantel der Kommerzwerbung, mal als public relations.
Diese mächtige propagandistische Waffe ist von der liberalen Journalistik geschmiedet worden, die sich jetzt darüber verblüfft gibt, dass der Staat sich diese Waffe zu eigen machen will. Er will das Propagandamonopol in dem gleichen Maße besitzen, wie er das Monopol auf Gewaltanwendung besitzt. Ein privater propagandistischer Kanal ist eine Bedrohung für den Staat wie es eine private Armee auch ist.

Unifizierung der Lüge

Die Verhängung eines Staatsmonopols für Propaganda muss nicht unbedingt zum Triumph der Macht führen. Es ist eher wahrscheinlich, dass nach der Konzentration propagandistischer Kapazitäten in einer Hand der Kreml herausfinden wird, etwas Unerwartetes bekommen zu haben. Das Problem liegt nicht im Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem Staat als solchem.
Es ist einfach so, dass Propaganda, wie jede Droge, eine ständige Vergrößerung der Dosis erfordert. Die Informationskriege der letzten zwei Jahre sind bis zur vollen Ausschöpfung psychologischer Ressourcen geführt worden. Die Gesellschaft ist müde von Propaganda.
Mit der Einführung der Kontrolle über (fast) alle Massenmedien wird der Kreml auch das öffentliche Misstrauen, den Unmut und Protest auf sich ziehen. Die Unifizierung der Lüge wird ihr kaum mehr Ähnlichkeit mit der Wahrheit vermitteln, eher umgekehrt. Die Distanz zwischen Propaganda und Realität dürfte noch deutlicher werden.
Der liberale Journalismus verliert, und der Kreml wird allem Anschein nach nichts dazugewinnen. Genauer ausgedrückt: 1993 bis 1998 haben die Liberalen die Gesellschaft überrannt und die Grundfesten jenes Regimes geschaffen, das heute im Ernst bereit ist, sie selbst aufzufressen. 2001 werden eine neue Beamtengeneration und eine durch liberale Reformen ins Leben gerufene Macht die Sieger sein. Und auch dieser Sieg wird ein Pyrrhus-Sieg sein.

Boris Kagarlitzki

Gekürzt aus: junge Welt, 6.April 2001 www.jungewelt.de

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