Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.09 vom 25.04.2001, Seite 15

Coincidence — Zuversicht

Ausstellung von Esther Bejarano

Fingerabdrücke", eine Ausstellung bildender Künstlerinnen und Künstler, erinnert nicht nur bis zum 29.4. in der Galerie Pferdestall der Berliner Kulturbrauerei daran, dass immer noch sechs Gefangene aus der RAF in deutschen Knästen eingesperrt sind, sondern sie fordern ausdrücklich die "Beendigung der staatlichen Rache" ihnen gegenüber. Mit ihrem Auftritt vor dieser Kulisse unterstützten Esther und Edna Bejarano und die Gruppe Coincidence diese Forderung.
Rolf Heißler und Rolf Clemens Wagner sind seit 1979 inhaftiert, Christian Klar und Brigitte Monhaupt seit 1982, Eva Haule seit 1986 und Birgit Hogefeld seit 1993. Sie sind auch innerhalb der radikalen Linken manchmal vergessen, ihre Situation scheint verdrängt zu sein. Da ist die Erinnerungsarbeit, die durch die Musik transportiert wird, eindringlich, auch wenn die Lieder, die vorgetragen werden, scheinbar nichts mit diesen Gefangenen zu tun haben.
Esther Bejarano wurde 1924 in Saarlouis geboren. Ihr Vater, Oberkantor der jüdischen Gemeinde brachte Esther früh zur Musik. Nach fast zwei Jahren Zwangsarbeit in der Nähe von Berlin wurde Esther Bejarano 1942 nach Auschwitz deportiert. Dort spielte sie im "Mädchenorchester" Akkordeon. Es folgte die Deportation nach Ravensbrück, bevor sie während des "Todesmarsches" 1945 entfliehen konnte. 1945 ging sie nach Palästina, wo sie unter anderem eine Gesangausbildung bekam. "Es war sehr schwer für mich, nach Deutschland zurückzukommen. Der Hauptgrund war, dass ich die Sprache beherrschte. Erst als ich im Juni 1960 bundesdeutschen Boden betrat, wurde mir richtig bewusst, welchen Schritt ich getan hatte."
1978, nachdem NPDler vor ihrer Boutique einen Stand aufbauten und die Polizei ihr mit Verhaftung drohte, als sie die Gegendemonstration unterstützte, schloss sie sich der VVN an. Als sie dort auf einer Geburtstagsfeier jiddische Lieder vortrug, wurde sie "entdeckt" und am 20.4.1980 hatte sie auf einer Gedenkfeier im Alter von 56 Jahren den ersten Auftritt ihrer späten Karriere.
Ende der 80er Jahre machte ihre Tochter Edna ihr den Vorschlag, bei der eigenen Frauenfolkgruppe Coincidence mit einzusteigen (Edna Bejarano hatte als Mitglied der Rattles mit deren Song "The witch" 1969 den ersten Nr.1-Hit einer deutschen Rockgruppe in den USA). In Berlin gehörten zu Coincidence neben den beiden Sängerinnen noch Joram Bejarano am Bass, Wilfried Hesse am Cello und Clemens Völcker an der Gitarre.
Die Lieder — in Jiddisch, Hebräisch, Romanes, Deutsch, Griechisch und Ladino (das ist die Sprache der sephardischen Juden, die 1492 aus Spanien vertrieben wurden) vorgetragen — dokumentieren die Last von Unterdrückung, von Bedrohung, aber auch die Hoffnung und den Willen auf eine bessere, freiere und friedlichere Zukunft. Die Musik, vor allem das Cellospiel von Wilfried Hesse, erzeugte eine Atmosphäre, die weit über eine einfache Dokumentation hinausweist. Wie bei den Liedern über das Leid dennoch eine Leichtigkeit mitschwingt, macht deutlich, wie Menschen unendliches Leid überleben können, ohne menschlich völlig zu erkalten.
Die Widerständigkeit dieser Musik bekommt nie einen Marschcharakter. Besonders deutlich wurde dies bei "Zu ejens, zej, draj". Shalom Katscherginski schrieb den Text zu diesem Lied 1943 im Getto Wilna als Hymne für die Farejnikte Partisaner Organisazje (FPO) die ein Zusammenschluss unterschiedlicher politischer Gruppierungen war. Die Melodie war von Hanns Eisler für das Einheitsfrontlied von Bert Brecht komponiert worden. Aus dem: reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront... wird: "Die Ghettos, die Gassen verlasst. | Jeder Tritt hat seinen Klang. | Doch ein anderer Gesang. | Wenn du weißt wohin du gehst und wofür."
Die Interpretation von Esther und Edna Bejarano sowie der Gruppe Coincidence nimmt den Unterschied zum Einheitsfrontlied auf und macht aus dem Marschlied die Forderung für einen Widerstand, bei dem Kopf und Herz den Weg vorgeben und nicht die befohlene Marschrichtung.

Tommy Schroedter

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