Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.10 vom 10.05.2001, Seite 8

In der zweiten Klasse des Deutschlandexpress

Ursachen des Rassismus in Ostdeutschland

Seit dem Vorstoß des bayrischen Innenministers Beckstein in Sachen NPD-Verbot im Sommer 2000 ist in der deutschen Öffentlichkeit die Debatte "über die besonders große Anfälligkeit der Ostdeutschen für neofaschistisches Gedankengut" erneut entbrannt. Folgt man der Medienberichterstattung, so ist es einmal mehr die westdeutsche Mittelklasse, die Rechtsextremismus und latenten Rassismus in Ostdeutschland als Erbe der ehemaligen DDR interpretiert, um die eigene Gesellschaft von jeder Mitverantwortung freizusprechen. Die Ostdeutschen sehen sich zu Recht mit einer Hetzkampagne konfrontiert, die darauf hinausläuft, die Schuld an der Misere in Ostdeutschland den "Eingeborenen" in die Schuhe zu schieben.
Exemplarisch für die Lesart West stehen die Theorien des Kriminologen Pfeiffer, der schon seit einigen Jahren eine Korrelation zwischen dem "Nachttopfzwang" in den DDR-Kindergärten der Ulbricht-Ära und kollektiv agierenden jugendlichen Faschos in den neuen Bundesländern ausmacht.
Pfeiffers Lesart sei hier ebenso exemplarisch das Deutungsmuster des Hallenser Psychologen Hans-Joachim Maaz entgegengesetzt. Maaz schreibt der Gewalt gegen "sozial schwächere Ausländer" eine Ventilfunktion zu, der Adressat sei eigentlich der "sozial besser gestellte Wessi". Er stellt so der Sicht von Pfeiffer und Kollegen die Ursachenbestimmung im Feld des durch die von westdeutschen Eliten betriebenen kapitalistischen Transformationsprozesses hervorgerufenen sozialen Krise, begleitet durch die Bevormundung der Ostdeutschen quer durch alle Klassen durch ihre neuen Herren, entgegen und sei hier stellvertretend für die breite Anhängerschaft der Auffassung genannt, nach der die Gründe rechter Gewalt in Ostdeutschland in diesem Bereich zu suchen seien.

Rassistische Kontinuität

So sympathisch dieser Ansatz auch ist, greift er aber zu kurz. Es lässt sich eine Kontinuität eines rassistische Potenzials in Ostdeutschland von der DDR bis heute ausmachen. In der früheren DDR waren rassistische Ressentiments gegenüber Polen und Russen, Vertragsarbeitern aus Ländern der Dritten Welt und ein "Antisemitismus ohne Juden" bei Protagonisten aus fast allen Schichten präsent. Diese Ressentiments gehörten dabei gerade unter ArbeiterInnen zum mit sich zuspitzender ökonomischer Krise immer offener ausgesprochenen Common Sense. In der Zeit von der Herbstrevolution 1989 bis zum Anschluss ein Jahr später kam es unter den Bedingungen weitestgehender Abwesenheit der gewohnten Verfolgung zu immer dreisteren ausländerfeindlichen Attacken, die sogar in Westberliner Distrikte getragen wurden.
Von dort aus ging die Entwicklung kontinuierlich über Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen bis zum "Kampf um national befreite Zonen" im konkreten und einem nach wie vor vorhandenen latenten Rassismus im allgemeinen bis heute weiter. RassistInnen kommen dabei in den neuen Bundesländer nicht nur aus den Reihen der sozial Deklassierten, Rassismus ist heute ebenfalls ein bei BürgerInnen aus allen Klassen der ostdeutschen Gesellschaft anzutreffendes Phänomen.
Erklärungsmuster, die bei der historischen Kontinuität oder bei der fehlenden Übung im Zusammenleben mit Ausländern ansetzen, können hier letztendlich nur die Abrufbarkeit rassistischer Vorurteile erklären, aber nicht warum sie abgerufen werden.
Um das zu erklären, muss man sich die Funktionen vergegenwärtigen, die der Rassismus sich gesellschaftlich benachteiligt Fühlender hat, um den es sich in der früheren DDR und in den jetzigen neuen Bundesländern — trotz der Herkunft seiner Träger aus allen Klassen und Schichten beider Gesellschaften — handelt. Für den sich gesellschaftlich benachteiligt fühlenden Rassisten ist es unerheblich, ob er sich selbst auf der untersten Ebene der gesellschaftlichen Hierarchie befindet oder ob man tatsächlich vom sozialen Abstieg bedroht ist, als Motiv offener Ausländerfeindlichkeit reicht das Gefühl des drohenden Absturzes.
Der sich gesellschaftlich benachteiligt fühlende Rassist hat sich mit der Idee, dass es immer ein "Oben und ein Unten" gäbe und dass immer "einer der Gewinner und einer der Verlierer sein müsse" bereits abgefunden. Im Gegensatz zum Prinzip der kollektiven Gegenwehr setzt er unter den Systembedingungen der früheren DDR und der bürgerlichen Demokratie der BRD den bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien die Idee einer anderen Hierarchie entlang ethnischer Kriterien entgegen.
Es geht also darum, sowohl für die Zeit der DDR und des gesellschaftlichen Umbruchs 1989/90 als auch für die Zeit nach dem Anschluss zu klären, welches die gesellschaftlichen Krisenphänomene waren und welche Bedingungen dazu führten, dass sich eben im Gegensatz zu einer Kultur der Solidarität Unterprivilegierter immer wieder rassistische Raster in vielen Köpfen durchsetzen konnten.

Keine kollektive Gegenwehr

Will man diese Frage für die Gesellschaft der ehemaligen DDR beantworten, so muss man sich zuerst einmal ihrer wesentlichen Systembedingungen erinnern. Die in der DDR herrschende politbürokratische Elite unterband von vornherein jede autonome Organisation von "Werktätigen im ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat", von StudentInnen oder BerufsschülerInnen.
Sie schuf somit die Voraussetzung für den DDR-typischen "Individualismus des Arbeitskollektivs". Das heißt, in der DDR wurden die alten proletarischen Milieus durch die Gemeinschaft des Arbeitskollektivs ersetzt. Dem Arbeitskollektiv der DDR kam dabei eine Schutzfunktion des Einzelnen zu. Im spezifischen Konkurrenzkampf um die Zuteilung möglichst geringer Plankennziffern bei gleichzeitig möglichst hoch ausfallender materieller Zuteilung war das Kollektiv die kleinste Einheit in der DDR-Gesellschaft — wollte man die Norm auf gewohntem Niveau halten, mussten alle ihr Leistungsvermögen als nicht mehr steigerbar darstellen, und es war der Kollege, der sich in der Schlange am Werksverkauf schon eine Stunde vorher in Konkurrenz zur "Vorhut" der anderen Brigaden anstellte.
Diese Bedingung behinderte bereits entscheidend die Entwicklung einer Kultur kollektiver Gegenwehr über das Arbeitskollektiv hinaus. Verheerend wirkte sich zudem die Rechtfertigung des eigenen Machtmonopols der Staats- und Parteiführung gegenüber ihren an die "Konkurrenz der in der Schlange Stehenden" gewöhnten Untertanen unter Berufung auf solidarische Traditionen der Arbeiterbewegung.
Die Unangreifbarkeit dieses Monopols demonstrierte sie dabei besonders nachdrücklich gegenüber jungen Menschen in der Schule, beim Studium, in der Berufsausbildung und beim Wehrdienst. Wollte man aber die eigene Macht auf Dauer wirksam legitimieren, musste man ganz andere Register ziehen.
Schon seit den 50er Jahren orientierten sich die Lohnabhängigen in der DDR am Lebensstandart der BRD. Viel gewichtiger als z.B. das Gerede von der antifaschistischen Gesellschaftsordnung in der ehemaligen DDR war das Versprechen Ulbrichts unter den Bedingungen politbürokratischen Machtmonopols und auf Basis des Staatseigentums an Produktionsmitteln den Kapitalismus der BRD des sogenannten Wirtschaftswunders "zu überholen ohne ihn einzuholen" — die einen müssten eben nur gut regieren und die anderen gut arbeiten. Wenn es in der DDR eine breite Vorstellung sozialistischer Utopie gab, so verband sie sich wohl bis heute mit dem Weg, der hier bereits gewiesen wurde: soziale Sicherheit plus ständig steigende Konsumtion bei Erfüllung der gestellten Arbeitsaufgaben gleich erstrebenswerter Sozialismus.
Mit der Festschreibung des Zieles, unter anderen Systembedingungen wenigstens in Sichtweite hinter der Bundesrepublik hinterherzurennen, taten sowohl die Ulbricht- als auch die Honecker-Führung ihr Übriges, die DDR-Bürger auf die Perspektive des gleichen Konsums wie des in der sich als Leistungsgesellschaft definierenden Westdeutschlands üblichen als Lebensinhalt festzulegen.
In der Idee, man sei Anwärter auf ein vergleichbares Konsumniveau, wurde man durch die politischen Eliten der Bundesrepublik bestärkt, die DDR-BürgerInnen über ihr Staatsbürgerschaftsrecht als eigene BürgerInnen und somit aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit als "rechtmäßige Teilhaber" am Wohlstand der alten Bundesrepublik anerkannte, ganz im Gegensatz zu den seit 1961 in die BRD einwandernden ausländischen ArbeiterInnen und ihren Nachkommen.
Bis hierhin sind bereits folgende Bedingungen für den breiten Rassismus Unterprivilegierter gegeben: Man lebt in einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft. Die tägliche Erfahrung ist ein wenn auch anderer Konkurrenzkampf. Man orientiert sich an dem Wohlstand einer ebenfalls hierarchisch gegliederten Gesellschaft, in der jeder angeblich "des eigenen Glückes Schmied sei". Der Gedanke, dass Deutsche sowieso rechtmäßige Teilhaber an einem weltweit sehr hohen Lebensstandard seien, wird von den politischen Eliten in der alten Bundesrepublik zusätzlich genährt.
Der DDR-spezifische Rassismus war demzufolge eine Mischung aus Schuldzuweisungen an eine "undeutsche Wirtschaftsführung" seitens der SED-Oberen und aus dem Rassismus, der in der Warteschlange vermeintlich oder tatsächlich zu kurz Gekommenen. Das rassistische Weltbild vieler DDR-Arbeiter z.B. sah in Worte gefasst in etwa so aus:
"Die Russen haben uns ihre schlampige Wirtschaftsführung aufgezwungen. Die faulen Polen und die Vietnamesen kaufen uns die Geschäfte leer. Diese Neger aus dem Busch haben die dicke Westkohle und vergreifen sich an unseren Frauen, während wir für unsere Arbeit nur wertlose Alu- Chips bekommen. Hätten wir dieselben Chefs wie unsere Verwandten im Westen, würden wir nicht ständig von den Russen bevormundet und müssten wir nicht immer irgendwelche unterentwickelten Hungerleider mit durchfüttern, würden wir ganz woanders stehen."
Die "prokapitalistische Volksbewegung in der DDR" von der Öffnung der Mauer am 9.November 1990 über die Volkskammerwahl am 18.März und die Währungsunion am 1.Juli bis zum Anschluss der DDR am 3.Oktober 1990 hatte sich im Grunde die Losung "Jetzt sind wir auch einmal dran!" auf die Fahnen geschrieben. Das heißt, der Prozess bis zum Anschluss an die BRD hatte von vornherein eine Menschen anderer ethnischer Herkunft ausschließende Komponente.
Die bereits beschriebene immer offenere Gewalt von ostdeutschen Rechtsradikalen seit der Öffnung der Mauer in Fortsetzung der bereits zu DDR-Zeiten üblich gewordenen Ausschreitungen richtete sich nicht zufällig gegen Ausländer in der noch existierenden DDR und gegen Einwanderer in der ehemaligen BRD gleichermaßen.
Die einen attackierte man, weil man endlich ungestraft gegen die vermeintlich Bevorzugten im "Verteilungskampf in der Warteschlange" losschlagen konnte, die anderen galten als die "unrechtmäßigen Erben" des durch den Mauerbau "verloren gegangenen Platzes an der Sonne". Das es sich hier um die gewaltsame Äußerung weitverbreiteter Ressentiments handelte, bewiesen immer wieder Bewertungen ostdeutscher Arbeiter, die ihre ersten Erfahrungen in westdeutschen Betrieben gemacht hatten: Musste man die Arroganz eines westdeutschen Vorarbeiters ertragen, war das schlimm, viel erniedrigender war für viele, wenn er noch dazu türkischer Herkunft war.

Neoliberalismus und Benachteiligung

Seit 1990 haben sich die Systembedingungen entscheidend verändert, aber die wesentliche Ursachenverkettung ist dieselbe geblieben. Der aktuelle Neofaschismus im Osten steht dabei in einem internationalen Kontext des Aufkommens neurechter Ideologien als Antwort auf die neoliberale Offensive der letzten Jahrzehnte.
Der Liberalismus geht als Ideologie von der Vorstellung aus, jeder hätte auf dem freien Markt als Anbieter von Waren oder Dienstleistungen eine gleichberechtigte Chance, staatliche Eingriffe würden die Selbstheilungskräfte der kapitalistischen Marktwirtschaft nur behindern, also hätte sich der Staat aus dem sozialen Bereich herauszuhalten und jedem ökonomischen Interventionismus abzuschwören.
In ihrer praktischen Anwendung bedeutet liberale Ideologie u.a. die Schaffung prekärer Einkommensverhältnisse bei LohnarbeiterInnen aus den ehemaligen Kernbelegschaften und die Bedrohung der sogenannten Mittelklasse durch die Armutsfalle.
In dieser Situation setzt die Neue Rechte dem liberalen Leistungsprinzip im Sinne des freien Markts die Idee des Ausschlusses von Menschen anderer ethnischer Herkunft vom Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt und vom Geschäftsleben des eigenen Landes programmatisch entgegen.
Die Ostdeutschen jeder sozialer Herkunft mussten dabei seit 1990 folgende kollektiven Erfahrungen machen, die in ihrer Summe Ursache des Abrufs rassistischer Ressentiments bei vielen sind: Da ist zum einen die Deindustrialisierung der neuen Bundesländer, welche zurecht als Verlust jeder Chance auf eine sich selbst tragende "Volkswirtschaft der Neuen Bundesländer" empfunden wird. Man fühlt sich also ökonomisch dauerhaft abhängig gemacht.
Dann gibt es über Klassen und Schichten hinweg die Erfahrung, schon einmal von Arbeitslosigkeit betroffen oder wenigstens von ihr bedroht worden zu sein und sich von lange gepflegten beruflichen Hoffnungen verabschieden zu müssen. Die Voraussetzung der breiten Krisenerwartung ohne Hoffnung auf ihre baldige Lösung ist also bereits gegeben.
Die Entlassung war dabei häufig das Resultat der Einführung der ostdeutschen Gesellschaft erst einmal fremder Institutionen. Die Transformation der Institutionen und die breite Zerstörung selbst konkurrenzfähiger Betriebe im Interesse westdeutschen Kapitals wurde zudem von der Erfahrung erneuter Arroganz der Macht begleitet: Kohl selbst lebte bereits 1989/90 mit seiner faktisch privat forcierten Einführung der DM — damals noch unter tosendem Beifall der Mehrheit der DDR-Bürger — diese Kultur der Machtanmaßung vor.
In den folgenden Jahren wurden die ehemaligen DDR-Bürger, welche sich eben erst daran gemacht hatten, die demokratische Kultur der Runden Tische einzuüben, mit der von niemanden demokratisch legitimierten Treuhand konfrontiert, deren Vertreter auch angesichts noch so großer Proteste jede Abteilung und jedes Werk schlossen, wenn es in ihr Konzept passte. Währenddessen wurden vermeintliche Interessenten an der Übernahme von Betrieben zu immer größeren Wirtschaftsverbrechen durch ihre nachlässige Subventionspolitik ermutigt.
Vertreter der neuen politischen und gewerkschaftlichen Elite bis hinunter in die Kommune und den Betriebsrat lebten allzu häufig nach der Devise: "Da kann man eben nichts machen" und arbeiteten in der Regel im Sinne des gesetzlichen Rahmens und der zu erfüllenden "Plankennziffern von abzusegnenden Entlassungen" nach Vorschrift.
Begleitet wurden sie dabei öffentlichkeitswirksam von Vertretern aus Wissenschaft und Medien, deren Botschaft nicht nur die angebliche Alternativlosigkeit in Sachen Privatisierung, Entlassungen und Billiglöhnen ist, sondern die jedes öffentliche Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen überhaupt tabuisieren. Der Glaube an den ewigen Fortbestand "von Oben und Unten" und die weitverbreiteten Zweifel am Erfolg kollektiver Gegenwehr haben in diesen kollektiven Erfahrungen ihre jüngeren Ursachen.

Alf Zachäus

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang