Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.10 vom 10.05.2001, Seite 9

Weltökonomie

Vor einer neuen Krise?

In der Ausgabe vom 24.März sprach der Economist in seinem Leitartikel offen von der Möglichkeit "der ersten Rezession der neuen Weltwirtschaft". In den vergangenen Monaten hat der Fall der Börsenkurse nach den USA auch Europa und andere Regionen erreicht und sich vom Hightechsektor auch auf den Rest der Wirtschaft ausgedehnt.
Viele US-Unternehmen bauen Stellen ab, und bis zu 200000 Jobs in der Fertigungsindustrie werden voraussichtlich in diesem Jahr in Großbritannien gestrichen. Wie ernst sind die Probleme für die Weltwirtschaft. Steht die Welt vor einer neuen Rezession?
Die Probleme, denen sich die Weltwirtschaft jetzt gegenüber sieht, resultieren direkt aus der Erfahrung des letzten Jahrzehnts und der vom Kapital während dieses Zeitraums verfolgten Strategien. Wir haben seit geraumer Zeit betont, dass die Turbulenzen der Weltwirtschaft der späten 90er Jahre als Produkt einer Anzahl getrennter, aber miteinander verwobener Entwicklungen betrachtet werden müssen.
Drei davon sind besonders wichtig geworden:
die langfristige Stagnation der japanischen Wirtschaft,
die spekulative Blase in den USA,
das Chaos auf den internationalen Finanzmärkten, das zu kontinuierlichen Währungskrisen der sich entwickelnden Ökonomien führt.
Der Albtraum für die Kapitalistenklasse bestand in der Möglichkeit, dass diese drei Entwicklungen sich zu einer verallgemeinerten Krise verbinden könnten, die den Rest der Welt destabilisieren würde, insbesondere das fragile Projekt des Euro.
Eine solche Entwicklung schien 1997 und 1998 möglich, trat aber in dieser Zeit nicht ein. Der Grund dafür war die Entscheidung der US-Regierung und -Zentralbank den Boom der US-Wirtschaft um jeden Preis am Laufen zu halten, selbst wenn dies die Ermutigung zu weiterer Spekulation bedeuten würde.
Die Fonds, die in dieser Zeit aus Ost- und Südostasien flossen, gingen zum größten Teil in die USA. Die US-Politik eines starken Dollars ermöglichte in Europa eine gewisse wirtschaftliche Erholung, als der Wert des Euros sank, und in Asien einen Exportboom, der nach und nach einen großen Teil der Region aus der Rezession heraus holte.
Die Finanzmärkte gewannen wieder an Zuversicht angesichts der Erwartung, dass die USA handeln würden, um einen globalen Abschwung zu verhindern. Daher hatten die Währungskrisen in Russland 1998 und in Brasilien 1999 jeweils nur begrenzte Auswirkungen, wenngleich diese regional beträchtlich waren.
Worin besteht nun der Unterschied? Ganz offensichtlich sind die USA nicht mehr in der Lage, dieselbe Rolle wie 1998 zu spielen. Weiter das Gros der Importe des Rests der Welt zu nehmen, wie sie es in den letzten Jahren getan haben, würde für die USA die Fortsetzung des heimischen Konsumentenbooms voraussetzen. Dies erscheint jedoch zunehmend weniger wahrscheinlich, da der Wohlstand der US-Bürger mit dem Niedergang der Börsenkurse und dem Anstieg der Erwerbslosigkeit zurück geht.

Panik der Finanzmärkte

Auch scheinen die USA als Bestimmungsort für Investitionsfonds nicht mehr so sicher wie zuvor. Das Ergebnis ist eine Panik auf den Finanzmärkten. Investoren in Regionen wie Südostasien stehen jetzt, beim Nachlassen der US-Wirtschaft, vor einem Niedergang der Exporte aus der Region und vor einem Mangel an anderen Orten, zu denen sie ihr Geld bringen können.
Unter solchen Umständen wird jeder Kapitalist versuchen so schnell wie möglich zu handeln, um seine Fonds zu retten, aber wenn alle so handeln, kann das leicht eine Krise auslösen.
Das erste Land der sog. sich entwickelnden Märkte, das zum Leidtragenden dieser Entwicklung geworden ist, ist die Türkei. Hier hat ein Prozess der Liberalisierung der Finanzen, ähnlich dem in Ost- und Südostasien in den 90er Jahren, dieselbe Wirkung der Ermutigung spekulativer Investitionen gehabt. Gleichzeitig hat die zugrunde liegende Profitrate die Spekulation nicht gerechtfertigt.
Die Realisierung dessen durch die Märkte führte zu einem Zusammenbruch der Währung. Aber die Sorgen des internationalen Kapitals konzentrieren sich mehr auf die asiatischen Ökonomien und auf Lateinamerika als auf die Türkei. Die Besorgnis von Beobachtern wie dem Economist in den letzten zwei Jahren besteht darin, dass die asiatischen Ökonomien sich nicht in dem Maße in eine marktwirtschaftliche Richtung umstrukturiert haben, wie dies nach 1997 erhofft wurde.
Die Stärke der US-Expansion bedeutete, dass in Südkorea, Thailand und Malaysia auf der Basis eines massiven Anstiegs an Exporten in die USA wieder Wachstum möglich war, ohne große Mengen unprofitablen Kapitals zu tilgen.
Doch dies hat solche Länder äußerst verwundbar im Falle eines längeren Abschwungs der US-Wirtschaft gemacht. Als Resultat besteht die Möglichkeit der Kombination eines solchen Abschwungs mit einer erneuten Panik auf den Finanzmärkten in Asien.
In Lateinamerika ist die Abhängigkeit von Exporten in die USA weit geringer. Doch die Belastungen, die aus jeder Währungsturbulenz herrühren, wirken sich regional aus. Als der brasilianische Real 1999 abgewertet wurde, hatte dies ungeheure Belastungen für den aus den Ländern Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay bestehenden Handelsblock Mercosur zur Folge. Mittlerweile ist Argentinien zum Problem geworden.
Mit einer Rezession seit fast drei Jahren und ständigen Drohungen, die Schulden nicht mehr bezahlen zu können, hat die argentinische Regierung gehandelt, um die Tarife für Konsumgüter zu erhöhen. Dies hat einen größeren Streit innerhalb von Mercosur entfacht.
Eine Währungskrise in Argentinien wäre von besonderer Bedeutung aufgrund des in diesem Land benutzten Systems zur Festlegung des Wechselkurses. Argentinien ist das größte einer Reihe von Ländern, die einen "Währungsausschuss" benutzen. Dieser bindet die zirkulierende Geldmenge an den Grad der Währungsreserven.
Dies ist in vielen Kreisen in den letzten Jahren als ein Weg betrachtet worden, die Widersprüche zu vermeiden, die in den Währungskrisen zum Ausdruck kommen. Wenn die Regierung per Gesetz daran gehindert wird, den Geldzulauf auszuweiten, werden die Märkte darauf vertrauen, dass die Währung stabil bleibt, und es sollte keine Krise geben.
Doch dies hängt vom Willen der Kapitalisten und der Werktätigen in solchen Ländern ab, unbegrenzte Perioden von Rezessionen auszuhalten, um den Wert der Währung zu verteidigen. Wenn der Wert der argentinischen Währung fällt, wird die Glaubwürdigkeit von Währungsausschüssen beträchtlich erschüttert werden. Dies könnte auf den internationalen Finanzmärkten weitere Paniken auslösen.
Es würde auch ein größeres politisches Dilemma für die Regierungen der Länder mit sich entwickelnden Ökonomien darstellen. Sie ständen vor der Entscheidung, ob sie die Währung entsprechend dem Markt fallen oder steigen lassen oder ob sie die Währung eines imperialistischen Landes, d.h. den Dollar, annehmen.
Eine solche "Dollarisierung" ist in den letzten Jahren zunehmend in Lateinamerika und anderswo unter den Eliten als ein Mittel diskutiert worden, die Region in das Projekt der Globalisierung zu integrieren. Aber das Potenzial eines solchen Projekts für die Steigerung des Ausmaßes an Klassenkampf hat sich im letzten Jahr auf dramatische Weise in Ecuador gezeigt.

Beispiel Japan

Die Möglichkeit eines Niedergangs der US-Ökonomie, der mit einer weiteren Periode der Instabilität auf den internationalen Finanzmärkten einher geht, kann nicht ausgeschlossen werden.
Dazu kommt, dass die Probleme für die japanische Wirtschaft weitergehen. In den letzten Jahren schien in Japan mehrere Male wieder ein Wachstum zu beginnen, doch ein solcher Anstieg der Produktion hat immer nur eine kurze Zeit angehalten.
Das zentrale Problem besteht darin, dass alle Wachstumsversuche in Japan von einer massiven Zunahme der staatlichen Schuldenaufnahmen abhängig waren. Diese machen derzeit 8% des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Strategie bestand darin, eine Überproduktionskrise mittels Warenaufkäufe durch die Regierung zu lösen — ohne einen Aufschwung bei privater Konsumtion und Investition.
Das Problem liegt darin, dass die japanischen Firmen und die japanischen Lohnabhängigen sehr wohl erkennen, dass diese Schulden irgendwann zurückgezahlt werden müssen und dass sie in Zukunft wahrscheinlich höhere Steuern und Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben nach sich ziehen werden. Ihre Antwort besteht in der Zunahme ihrer Sparguthaben.
Fallende Preise, die die Zinsrate in Japan auf Null sinken ließen, haben dies noch ermutigt. Unter solchen Umständen macht es Sinn, Einkäufe auf die Zukunft zu verschieben. Um so mehr die Regierung ausgibt, um so mehr hält sich der Rest des Landes dabei zurück und um so größer muss das Defizit werden.

Aus dieser Situation ergeben sich zwei Fragen, die für Sozialistinnen und Sozialisten hierzulande von Bedeutung sind. Erstens, wie wahrscheinlich ist es, dass diese getrennten Probleme tatsächlich zusammen kommen werden, um eine globale Krise zu schaffen? Zweitens, was werden die Auswirkungen dieser Entwicklungen hierzulande sein?
Es ist klar, dass die Gefahr einer Weltwirtschaftskrise heute größer ist als irgendwann seit 1997 oder 1998. Wie wahrscheinlich es ist, dass sich eine solche Krise entwickelt, hängt von einer Anzahl von Faktoren ab, die schwer vorhersehbar sind.
Es ist vor allem nicht klar, wie erfolgreich die Strategie der US-Bundesbank ist, durch Senkung der Zinsraten die US-Ökonomie anzukurbeln. Auch ist nicht klar, ob internationale Finanzinvestoren auf dieselbe Weise reagieren werden wie 1997. Viel hängt auch davon ab, ob die Ökonomien der EU oder Japans fähig sind, durch eine Steigerung ihrer Wachstumsraten etwas von der durch die US-Entwicklung hervorgerufenen Flaute zu profitieren.
Wir können jedoch sagen, dass die vom Kapital verwandten Strategien, um jetzt eine Wirtschaftskrise zu vermeiden, für die Zukunft weitere Probleme nach sich ziehen werden. Die USA ermutigen weiter Kreditaufnahmen durch Senkung der Zinsraten in einer Zeit, in der die Verschuldung bereits Rekordhöhe erreicht hat.
Die japanische Haushaltsdefizit bewegt sich auf einen Grad zu, der langfristig nicht tragbar ist. Und angesichts früherer "Erfolgsstorys" wie Argentinien, das Probleme hat, den Wert seiner Währung aufrecht zu erhalten, verengen sich die Möglichkeiten der sich entwickelnden Nationen drastisch.
Manche haben argumentiert, dass die direkte Auswirkung solcher Entwicklungen in Großbritannien begrenzt sein werden. Man hat hervorgehoben, dass Deutschland proportional mehr in die USA exportiert als Großbritannien. Doch dabei werden zwei Faktoren außer Acht gelassen.
Erstens bedeuten die Auswirkungen der zunehmenden Internationalisierung des Kapitals, dass die indirekten Auswirkungen globaler Störungen wahrscheinlich wichtiger sind als die direkten. Falls z.B. die asiatischen Ökonomien als Resultat eines Abschwungs in den USA in Schwierigkeiten geraten, wird sich dies hierzulande auswirken.
Zweitens bestehen die Verbindungen zwischen Großbritannien und den USA mehr durch ausländische Investitionen als durch Handel. Ein Niedergang des Werts der britischen Investitionen im Ausland, in Verbindung mit der Londoner City beeinträchtigenden finanziellen Instabilität, wird für das britische Kapital ernsthafte Probleme haben.
Es ist unmöglich vorauszusehen, wie ernst die gegenwärtigen Schwierigkeiten sein werden, mit denen der globale Kapitalismus konfrontiert ist. Aber was auch immer das künftige Resultat sein wird — diese Entwicklungen werden Sozialistinnen und Sozialisten zahlreiche Gelegenheiten bieten, ihre Sache vorzubringen.
Es wird in den nächsten Jahren schwieriger zu behaupten, dass der Markt die Probleme lösen kann, vor denen die Menschheit steht. Unter solchen Umständen wird es zunehmend möglich und wichtig, das Gegenteil zu verdeutlichen: dass für die Probleme der heutigen Welt in erster Linie die Rolle des Marktes und seine destruktiven Wirkungen verantwortlich sind.

Andy Kilmister

Aus: Socialist Outlook (London), Nr.44, April 2001.



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