Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 23.05.2001, Seite 3

Talkshow als Politik

Guido Westerwelle wird Chef der Liberalen

In den 60er Jahren entstand das geflügelte Wort, wonach es in der BRD unmöglich sei, nicht von der FDP regiert zu werden. Und in der Tat hat jene Partei, deren Stimmenanteil bei Bundestagswahlen zwischen 12,8% (1961) und 5,8% (1969) schwankte, länger als jede andere in Bonn in der Regierung gesessen. Zunächst seit 1949 unter Adenauer und Erhard — mit der Unterbrechung der Jahre 1957—1961, als die Union über die absolute Mehrheit verfügte und einige FDP-Minister zur CDU überwechselten —, dann, nach den für die FDP sehr schwierigen Jahren der Großen Koalition von 1966—1969, von 1969 bis 1982 im Bündnis mit den Sozialdemokraten, und schließlich ab 1982 wieder zusammen mit der Union, diesmal unter deren Parteichef Kohl. Als einzige überlebte sie die Umarmungsversuche von Adenauer, die im Laufe der 50er Jahre zur Integration aller relevanten rechten Kräfte in die Union führten.
Die FDP war nie eine Programmpartei, sofern man ihr Credo "Marktwirtschaft über alles" nicht allein schon als Programm ansehen will. Ihre Funktion lag in der Rolle eines Scharniers, des "Mehrheitsbeschaffers" für die große bürgerliche Partei, die Union, in Sonderfällen aber auch für die SPD. Diese Rolle vermochte sie zu spielen, weil sie sich immer als Sachwalterin der Interessen von Unternehmertum und liberalem Mittelstand betrachtete, die von keinem "sozialen Korrektiv" gebremst wurde. Als die Union sich in der Frage der Beziehungen zum Osten und der DDR in ihrer starren Ablehnung eines "Tauwetters" verrannt hatte, vereinbarten Scheel und Genscher mit der SPD die Bildung der sozialliberalen Koalition.
Doch spätestens seit den 90er Jahren hat die FDP ein Problem: Durch die Grünen und die PDS ist ihr im Bundestag und vielen Landtagen eine Konkurrenz entstanden, wodurch sie aus ihrer Scharnierrolle verdrängt wurde. Die Ablösung von Wolfgang Gerhardt, der sich ziemlich bedingungslos auf eine "bürgerliche Koalition" festgelegt hatte, durch den früheren Generalsekretär Guido Westerwelle bedeutet zunächst einmal, dass es die Mehrheit der FDP für unwahrscheinlich hält, in Bälde mit der Union wieder im Bund an die Regierung gelangen zu können.
Daher muss sich die von Mitgliederverlusten geplagte und wegen der fehlenden "Regierungsverantwortung" finanziell dahinsiechende FDP neu positionieren, wenn sie nicht Gefahr laufen will, im Orkus der Geschichte zu verschwinden. Dies ist nicht unbedingt eine Frage von Inhalten, denn die FDP wollte immer "marktwirtschaftliches Korrektiv" sein, also Union und Sozialdemokraten von Staatseingriffen möglichst abhalten, oder, wenn es nicht anders ging, ihrer Klientel, den "Besserverdienenden" zumindest einiges zuschanzen.
Westerwelle und Möllemann sind sich, bei allen persönlichen Animositäten, somit einig, dass eine neue Strategie gefunden werden muss, damit die FDP erneut zum "Juniorpartner der Macht" aufsteigen kann. Besonders den gewendeten Grünen soll scharfe Konkurrenz erwachsen.

Wege und Abwege der Liberalen

Der deutsche Liberalismus war im Gegensatz zu seinen westlichen Vorbildern nie aufmüpfig oder gar revolutionär ausgerichtet. Die ihn begründenden Kreise einer akademisch gebildeten Beamtenschaft und von gut situierten Mittelständlern waren fast immer Teil des Establishments. Vor allem im deutschen Südwesten hatten die Liberalen große Ähnlichkeit mit dem Schweizer Freisinn, "Kantönligeist" eingeschlossen.
Im Himmel der Ideen standen die Liberalen für eine selbstverantwortliche bürgerliche Öffentlichkeit möglichst ohne Staatseingriffe, doch auf Erden akzeptierte man die Rolle des Staates als Motor der Modernisierung. Die Marktgesellschaft war den deutschen Liberalen nie recht geheuer, denn man sah in ihr auch eine Gefahr für die eigene mittelständische Existenz und wollte vom Manna der Subventionen profitieren.
Dieser Widerspruch zwischen den hehren programmatischen Grundsätzen und der politischen Praxis der Liberalen zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Geschichte: Nicht umsonst hießen sie, seitdem Erich Mende trotz aller gegenteiligen Wahlversprechungen 1961 wieder zu Adenauer ins Koalitionsbett kroch, die "Partei der Umfaller".
Im preußischen Verfassungskonflikt gelang es Bismarck, die Liberalen eben an der Frage "Treue zur Nation" oder Treue zu den eigenen Grundsätzen, in diesem Fall die Verfassung, zu spalten: Die "nationalliberale" Mehrheit in Preußen entschied sich für den Verfassungsbruch.
Auch in den Kämpfen, die Bismarck nach der Reichseinigung 1871 zunächst gegen die "ultramontanen" Katholiken (Kulturkampf) und dann gegen die Arbeiterbewegung (Sozialistengesetze) ausfocht, stimmten beide liberale Parteien mit Bismarck und betrieben diesen Kampf mit allergrößtem Eifer.
Daraus entwickelte sich die spezifische Identität der deutschen Liberalen (auch ihres linken Flügels): Sie waren deutschnational, antiklerikal und antisozialistisch. Diese Einstellungen überdauerten Kaiserreich und Weimarer Republik und spielten bis Anfang der 70er Jahre in der BRD eine Rolle. Erst der Zusammenbruch der alten Lager und das Eindringen von Teilen der Studentenbewegung brachte die FDP auf einen anderen Kurs.
Das typische Milieu, in dem sich in Deutschland der Liberalismus ausbreiten konnte, war seit der Reichsgründung das protestantisch-nationalistische Kleinbürgertum, welches in erheblichem Maße das weit verbreitete Vereinwesen prägte. Dabei gab es je nach historischer Tradition Unterschiede zwischen der eher "sozialliberal" (im alten Wortsinn) gestimmten Anhängerschaft im deutschen Südwesten und den Hansestädten und den nationalliberalen Regionen in Franken, Hessen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Besonders in diesen Regionen wurden die Anhänger des Liberalismus, zumal Händler, Handwerker und Bauern, schon vor 1933 fast vollständig von den Nazis aufgesogen. Der Parteienforscher Peter Lösche schreibt: "Sozial- und mentalitätsgeschichtlich wurde die NSDAP zur Nachfolgepartei des Liberalismus." Nur im Südwesten und in den Hansestädten begaben sich eine Reihe von Führungspersönlichkeiten in die "innere Emigration" (Heuss, Maier) oder gingen außer Landes.
Die Neugründung der FDP 1945 wurde zunächst durch die letzteren vorgenommen, doch bald traten die Vertreter eines nationalistischen Kurses wieder auf den Plan. Sie wollten keine Partei der Mitte, sondern eine rechte Massenpartei ("Volkspartei") aufbauen.
Die Chancen für ein solches Unternehmen standen Anfang der 50er Jahre ziemlich gut, denn die Frustrationen von großen Teilen der (Klein-)Bourgeoisie waren erheblich: Man schimpfte auf die Alliierten und deren Entnazifizierungsprogramme, beklagte den Verlust der Ostgebiete und jammerte über das Elend der Vertriebenen.
Besonders bekämpfte die FDP die Kritik an Wehrmacht und Soldatentum und verkündete den Stolz auf die eigene Nation. Hessen und teilweise Nordrhein-Westfalen wurden zu Pionierländern der von Frontsoldaten geführten nationalen Sammlung. Auf den Parteitagen in München 1951, Bad Ems 1952 und Lübeck 1953 waren die vom Kölner Freiherr von Rechenberg und dem Düsseldorfer Middelhauve, der sein bei den Nazis abgeschriebenes "Deutsches Programm" gerne zum Parteiprogramm gemacht hätte, geführten Rechten durchaus in der Mehrheit. Bezeichnenderweise sangen die meisten Delegierten alle drei Strophen des Deutschlandlieds mit. Der rechte Flügel verzichte damals jedoch auf eine Kampfabstimmung, weil diese zu einer Spaltung der Partei und den Austritt der FDP-Minister aus Adenauers Kabinett geführt hätte.
Nachdem die Briten eine Reihe von Mitgliedern der NRW-Zentrale wegen nazistischer Umtriebe verhafteten, gelang es Parteichef Blücher, die Zügel wieder in die Hand zu bekommen. Aber weiterhin, zumal unter dem Parteivorsitzenden und "Ritterkreuzträger" Erich Mende, der die Partei zwischen 1960 und 1968 führte, bevölkerten zahlreiche Alt- und Jungnazis die Mitgliedsränge der FDP.
Erst mit den Wahlerfolgen der NPD und vor allem, als sich auf dem Freiburger Parteitag 1971 die "Linksliberalen" um Flach, Maierhofer, Hirsch und Baum durchsetzen konnten, verließen diese Gruppen die Partei. Aus diesen Gründen wurde es für die FDP auch nach dem Bruch der sozialliberalen Koalition 1982 unmöglich, den Weg der FPÖ zu gehen, sonst wäre eine Haiderisierung eine durchaus mögliche Perspektive für die FDP geworden. Derartige Ansätze — etwa Brunner und von Stahl — blieben somit auf Randgruppen beschränkt.
Traditionell waren die Mitglieder liberaler Parteien in Deutschland von starkem Individualismus bis hin zur Egomanie und von der Mentalität, zur "besseren Hälfte" der Gesellschaft zu gehören, geprägt. Ihre Opferbereitschaft für die Zwecke und Ziele der Partei war immer höchst begrenzt.
Bei den Mitgliedern der Weimarer DVP (Deutsche Volkspartei) oder DDP (Deutsche Demokratische Partei) handelte es sich in der Regel um Honoratioren, die kaum willens waren, ihre Partei finanziell nennenswert zu unterstützen, sondern ihre Parteikarriere häufig eher als Möglichkeit zur persönlichen Bereicherung begriffen.
Zu jeder Zeit gab es viele Seiteneinsteiger, die rasch Karriere machen konnten. Daher war es für beide Flügel der Liberalen immer von entscheidender Bedeutung, an Gelder von Interessensverbänden zu gelangen, ja im Vorstand von solchen Verbänden zu sitzen. So hatte z.B. der "Reichsverband der deutschen Industrie" in der DVP das Sagen und der Vorsitzende des "Reichsbundes der höheren Beamten" war viele Jahre lang ihr Fraktionsvorsitzender.
Die zur "Weimarer Koalition" (SPD und Zentrum) gehörenden "Linksliberalen" von der DDP waren ebenfalls fast völlig auf Spenden von Vereinigungen und Industrie angewiesen. Dadurch wurde eine Tradition begründet, die auch in der Bonner Republik gang und gäbe war: die meisten FDP-Abgeordneten verstanden sich auch als Verbandsfunktionäre.
Beispiele hierfür sind Friderichs, der nach seiner Ministerkarriere Chef der Dresdner Bank wurde, der Versicherungslobbyist Graf Lambsdorff oder die Pharmalobbyistin Irmgard Schwätzer. Ein Blick auf die bundesdeutschen Wirtschaftsminister der letzten 25 Jahre bestätigt diese Einschätzung. Martin Bangemann wechselte aus dem Parteivorsitz zur EU nach Brüssel, um seinen Aufstieg schließlich mit einem Posten im Management der spanischen Telefonica-Gesellschaft zu krönen.

Ende des Genscherismus

Mit der deutschen Vereinigung schien für die FDP eine neue große Zeit gekommen. Nicht nur gewann sie bei den Bundestagswahlen 1990 11% der Stimmen und ein Direktmandat in Halle, sondern auch 140000 neue Mitglieder und das beträchtliche Vermögen der eingegliederten Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands (LDPD).
Doch das Jahrzehnt nach Genscher, der faktisch 20 Jahre lang die Marschrichtung vorgegeben hatte, beutelte die Liberalen kräftig: Die Mitgliedszahlen sanken wieder auf die üblichen 70000 bis 80000, wobei v.a. im Osten der größte Teil der LDPD-Mitgliedschaft wegbrach. Seit 1993 scheiterte die FDP bei den meisten Parlamentswahlen, ausgenommen die Bundestagswahlen, an der 5%-Hürde und flog aus den Länderparlamenten. Auch in den Kommunen bietet sie mittlerweile ein tristes Bild. Inhaltlich und personell ist sie ausgezehrt.
Die FDP hatte schon schwere Krisen durchzustehen vermocht, v.a. 1969 bis 1972 nach dem Koalitionswechsel zur SPD und 1982/83 beim Wechsel zur Union, als es zu Massenaustritten kam, doch angesichts der weltweiten Umbrüche steht sie heute ziemlich nackt da: Weder kann sie sich als Hüterin der Ost-West-Entspannungspolitik gerieren, noch als rechtsstaatliche Gegnerin des bösen Franz-Josef Strauß und Konsorten profilieren. Ihre Parolen von der notwendigen "Steuersenkung", "Entbürokratisierung", "Privatisierung" oder "Umbau des Sozialstaats" klingen angesichts der ideologischen Vorherrschaft des Neoliberalismus nicht besonders originell.
Die durch den Machtverlust, vor allem aber durch den Spendenskandal in der CDU ausgelöste Krise brachte Westerwelle auf die Idee, die ältere Führungsgeneration um Gebhardt abzuservieren. Mit mausgrauen Mittelstandsfunktionären oder schwäbelnden Geheimdienstbeamten lässt sich eben kein Blumentopf gewinnen, vor allem nicht in den allabendlichen Talkshows der Privatsender oder bei Big Brother. Sie sind einfach langweilig.
Meinungsforscher bestätigten dem Jungtürken Westerwelle, dass er als einer der wenigen FDPler professionell mit den Medien umgehen kann. So wurde das FDP-Logo gleich dem Zeitgeist entsprechend "internetfähig" gemacht und ziert den Hintergrund seiner Auftritte. The medium is the message.
Die FDP muss sich unbedingt junge Wählerschichten erschließen und diese dauerhaft der Union und den Grünen abjagen, wenn sie eine Überlebenschance haben will. Angesichts des geringen politischen Bewusstseins hierzulande versucht sie, sich als Reklamegag (18%) zu verkaufen: Spaß haben und FDP wählen — das ist ihre Devise.
Da es mit Apparat und Organisation bei der FDP schon immer nicht zum besten stand, sie aber heute geradezu zerbröselt, setzt Westerwelle voll auf Medienpräsenz, um das Publikum, das er vor allem ansprechen will, zu agitieren: Die jungen, BMW-fahrenden Aufsteiger in Dior-Brille und Armani-Anzug, die die heutigen Reklamewelten bevölkern — oder aber jene, die gerne in solchen Welten leben würden. Plastic people in der Spaßgesellschaft eben. Der Nullpunkt der Politik ist nicht mehr fern.

Paul Kleiser

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