Sozialistische Zeitung |
Die neoliberale Revolution, die wir seit den 80er und 90er Jahren in Europa erleben, wälzt sämtliche Bereiche des
öffentlichen Lebens um das gilt nicht nur für die Produktionsbeziehungen in der Wirtschaft und die Regulierungen in der Finanzwelt, das gilt auch
für das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik, zwischen gesellschaftlichen Ansprüchen und politischer Repräsentation. Entwicklungen, die
andere Ursachen haben, wie z.B. der Rückgang der Beteiligung an Wahlen, am Leben der Parteien und die damit verbundene Legitimationskrise von Parteien und
Parlamenten werden von den politischen Vordenkern des Neoliberalismus umgemünzt in eine Infragestellung der Rolle der Parteien als Mittler zwischen Gesellschaft
und Staat und der Rolle der Parlamente als durch allgemeine und gleiche Wahlen legitimierte Gesetzgeber.
Die Individualisierung von Interessen verlangt nach effizienter privater Interessenvertretung, die am Staat
vorbeigeht. Der Staat wird dabei nicht abgeschafft, er erhält eine neue Rolle als Moderator zwischen partikularen Interessen, die weitgehend selbständig
versuchen, unter sehr ungleichen Bedingungen auf gesellschaftliche Ressourcen zurückzugreifen und einen Teil des Kuchens zu ergattern. Jedes Konzept von
Gleichheit vor dem Gesetz und Gleichheit unter StaatsbürgerInnen bleibt dabei auf der Strecke.
Der nachfolgende Text stammt von einem Mitglied von ATTAC Frankreich. Er ist stark von den
politischen Grundsätzen und staatsbürgerschaftlichen Konzepten der Französischen Revolution geprägt, gegen die es von marxistischer Seite auch
eine Menge Einwände gab und gibt, die sich nicht erübrigt haben. Dennoch kann man nicht sagen, dass der "Sozialismus" an der Macht ein
glaubwürdiges Konzept universeller und dabei wirklich gleicher politischer Repräsentation und Beeinflussung der Staatsgeschäfte entwickelt hat. Der
untenstehende Artikel unterzieht die neoliberalen Konzepte politischer Repräsentation einer vernichtenden Kritik und rückt sie in die Nähe sei es der
Zensusdemokratie, sei es der Ständevertretung in faschistischen Ordnungen. Die Thesen mögen gewagt oder kritikwürdig erscheinen, sie sind allemal ein
wertvoller Beitrag zum Verständnis der Entwicklung der bürgerlichen Demokratien und eine Herausforderung an unsere Fähigkeit, Gegenkonzepte zu
entwerfen.
(ak)
Wer hat noch nie den Begriff "Governance" gehört? Mittlerweile lässt sich kaum ein Text der wichtigen führenden Institutionen der
Weltökonomie finden, in dem dieses Wort nicht mehrfach auftaucht: Als good governance, wenn der IWF die Länder des Südens kritisiert, die ein
Minimum an öffentlichen Dienstleistungen und ökonomischer Souveränität aufrechterhalten. Als Begriff mit einer lokalen Färbung, wenn
damit als Unternehmen, Verbände, Gruppen usw. bezeichnet werden, die als Ersatz für die öffentlichen Dienstleistungen, die nach der neoliberalen
Offensive verschwunden sind, in die Verwaltung der Gemeinden einbezogen werden. Oder als Regierungstechnik (was auch immer das Subjekt oder Objekt der Regierung
sein mag); sie nennt sich dann governability (Regierungsfähigkeit).
Von global governance ist die Rede, wenn die Vereinten Nationen vorschlagen, eine Weltregierung zu
bilden, die es nicht wagt, sich mit dem Namen der Exekutive der Großmächte und der Verwaltungsräte transnationaler Konzerne zu bezeichnen.
Im Allgeemeinen bezieht sich der Neologismus auf die Formen von Regierung, die es nicht wagen, sich
"Regierung" zu nennen, weil sie sonst ihren diktatorischen Charakter enthüllen würden. Es handelt sich also um einen Euphemismus. Wie jeder
Euphemismus verbirgt er etwas im Namen einer Ordnung, die um sich fürchten müsste, wenn dieses Etwas sich zeigte. Wir werden sehen, worum es sich dabei
handelt.
Alles begann vor Jahren in den USA, als Ronald Coase entdeckte, dass Beziehungen interner Kooperation innerhalb von Unternehmen erlauben,
Transaktionskosten (Kosten für Verträge, Verhandlungen, Qualitätsprüfung, Bestimmung von Qualitätsnormen, Suche nach den besten
Preisen usw.), die den Erwerb von Gütern und Dienstleistungen außerhalb des Unternehmens voraussetzen, zu beseitigen.1 Er zog daraus den Schluss, der
Daseinsgrund der Unternehmen liege genau in dieser Beseitigung der Transaktionskosten. Coase entdeckte auf diese Weise, dass es eine Arbeitsteilung in den Unternehmen
gibt, die sich nicht auf den Warenaustausch reduziert, wenngleich sie vollständig nach den Kriterien der Rentabilität analysierbar ist. Das Unternehmen, das bis
dahin ein relativ undurchsichtiges Objekt für die neoklassische Ökonomie war, unterwirft sich dank der Berechnung der Transaktionskosten der allgemeinen
Logik von vergleichendem Gewinn und Rentabilität.
In seinem Artikel "The Nature of the Firm" (Die Natur der Firma), in dem er die Grundlagen
dieser neuen Perspektive darlegte, entwarf Coase bereits 1937 die Grundzüge des Neoinstitutionalismus das ist eine Schule der Gesellschaftslehre, die die
gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die Geschichte (North, Williamson) und natürlich die sozialen Beziehungen im Unternehmen nach strikt
ökonomischen Kriterien (der Rentabilität und Effizienz, entsprechend der allgemeinen Methode der neoklassischen Ökonomie) interpretiert.
Diese neue Methode wird als "ökonomischer Imperialismus" bezeichnet, weil sie die
Methode der neoklassischen Ökonomie auf die gesamten Sozialwissenschaften ausdehnt.
Im Rahmen dieser Schule spricht man seit den 70er Jahren, insbesondere in den Arbeiten von Oliver
Williamson, von Betriebsführung und Strukturen der Betriebsführung (corporate governance, governance structures) und bezeichnet damit die interne
Unternehmenspolitik, d.h. die Gesamtheit der Maßnahmen, die der Betrieb anwendet, um auf zwei Ebenen eine wirksame Koordination herzustellen: die der internen
Protokolle, wenn das Unternehmen hierarchisch gegliedert ist (in den Begriffen von Coase eine "Master-slave"-Hierarchie) oder die der Verträge,
vorübergehenden Verbindungen, des Gebrauchs von Normen, wenn das Produkt oder die Dienstleistung ausgelagert ist. Es ist eine Metapher aus der Politik, die in den
Begriffen des ökonomischen Imperialismus neu interpretiert wird.
Die institutionalistischen Ökonomen interessieren sich für die Rentabilitätsunterschiede
von Machtverhältnissen innerhalb und außerhalb von Unternehmen. Dieser Aspekt wurde beim Übergang vom Fordismus zum Toyotismus und zur sehr
modernen "Netzökonomie" zentral. Governance ist in dieser ersten Phase eine Metapher für Politik: die Politik in der Ökonomie, Politik
verstanden als Lenkung von Menschen in Hinblick auf den Profit.
Der zweite große Moment ist der des Übergangs des Begriffs Governance in den öffentlichen Bereich: die Governance ergreift die Stadt (urban
governance). Die Urban Governance ist anfänglich das Ergebnis von widersprüchlichen Versuchen britischer Bürgermeister in der Ära Thatcher,
die Kommunen mit drastisch zusammengestrichenen Haushaltsmitteln zu führen.
Wir sprechen von Widerspruch, weil wir es hier mit dem Versuch zu tun haben, Kürzungen und
Privatisierungen im öffentlichen Dienst mit Praktiken des Widerstands und der Solidarität der unteren Klassen, die sich gegen ihre Ausgrenzung und den Abbau
des sozialen Netzes wenden. Ein Widerspruch besteht auch darin, dass sich neoliberale und linke Bürgermeister auf verschiedene, sogar entgegengesetzte, Aspekte der
"Zivilgesellschaft" berufen, obwohl sie ganz darin übereinstimmen, Privatisierung oder Bürgerbeteiligung als Formen
"bürgernaher" Verwaltung darzustellen.
In jedem Fall führt die auf kommunaler Ebene stattfindende Krise des "Wohlfahrtstaats"
im Kleinen zu einer Aufgabe der Verantwortlichkeiten der lokalen Behörden zugunsten von all dem, was nicht öffentliche Macht ist und mit dem konfusen
Begriff der "Zivilgesellschaft" bezeichnet wird, auf den wir noch zurückkommen werden.
Die Metapher Governance macht so eine weitere Entwicklung durch; es geht darum, in Zeiten des Mangels
über ein effektives politisches Instrument zu verfügen, das auf ökonomisch vernünftige (d.h. kosteneffiziente) Weise auf die sozialen
Bedürfnisse antwortet. Diese moderne, ökonomische, Perspektive hat Konsequenzen: Weil die internen Kosten der öffentlichen Verwaltung sozialer
Dienstleistungen "zu hoch" sind, müssen letztere ausgelagert und dem privaten Sektor und der Zivilgesellschaft anvertraut werden. Man schlägt so
drei Fliegen mit einer Klappe: Man reduziert die öffentlichen Kosten, man erhöht den privaten Profit und man beseitigt weitgehend den Interventionsspielraum
der unteren Klassen bei der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten. Die Methoden der Unternehmenspolitik werden zuerst im kommunalpolitischen Raum
erprobt, bevor sie zum Ansturm auf die Gesamtpolitik ansetzen.
Wenn sich die Krise des Sozialstaats und der Legitimität des Fordismus auf einer der unteren Ebenen des Staates in eine direkte Intervention der
"Zivilgesellschaft" umsetzen, so geschieht dasselbe auf suprastaatlicher Ebene, wo die enorme Autonomisierung der Finanzmacht gegenüber nationalen
Gesetzen und Normen, die transnationale Verankerung der großen Unternehmen und die Entwicklung des Warenverkehrs und der Kommunikation im
Weltmaßstab Kennzeichen der "Globalisierung" sind.
Die Globalisierung von Wirtschaft und Finanzen ist das Ergebnis einer anhaltenden, nicht abgeschlossenen
Reihe von politischen Maßnahmen, die die Mehrheit der Regierungen weltweit seit den 70er Jahren bis heute praktiziert (Pinochet war ein Vorläufer), um die
Bewegungen aller Produktionsfaktoren, mit der wichtigen Ausnahme der Arbeitskraft, zu deregulieren. In der Dritten und in der Ersten Welt werden diese
Maßnahmen mit monetaristischen Programmen zur Bekämpfung der Inflation und zur "Konsolidierung" der öffentlichen Ausgaben,
besonders im sozialen, Bildungs- und Gesundheitssektor, kombiniert, um das Vertrauen der Investoren zu erhalten, d.h. eine hohe und sichere Rentabilität der
Investitionen und Kredite zu garantieren. Der Begriff der Weltbank und des IWF für die Gesamtheit dieser Maßnahmen lautet Good Governance.
Good Governance bedeutet in diesem Zusammenhang die disziplinierte Anwendung der
Strukturanpassungspläne, die von nun an radikaler werden und nach Orwellscher Manier in "Strategien zur Reduzierung der Armut" umgetauft werden.
Natürlich hat auch die Gesellschaft eine wichtige Rolle zu spielen, wenn der Staat seine Sozialpolitik und seine Pläne für eine eigenständigen
Entwicklung aufgibt: die Akteure der "Zivilgesellschaft", an die ständig appelliert wird, sind die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die sich beim
Versuch, die zerstörerischsten Auswirkungen des Systems zu lindern, in dessen Stützpfeiler verwandeln, oder unmittelbarer noch die an humanitären
"Angelegenheiten" interessierten Privatbetriebe.
Zur Governance, die im nationalen Maßstab die Auswirkungen der neoliberalen Politik puffert oder
vielmehr verwaltet, muss man die flexibel artikulierte weltweite ökonomische Governance hinzufügen, die im Weltmaßstab diese Politik koordiniert: zu
ihren Hauptagenten gehören der IWF, die Weltbank, die WTO, das Weltwirtschaftsforum und die Institutionen der Europäischen Union.
Darüber hinaus diejenigen, die tatsächlich die Geschicke des Planeten lenken: die
großen transnationalen Konzerne, die sich in mächtige politische Akteure verwandelt haben, die fähig sind, den Staaten kollektiv ihren Willen
aufzuzwingen, sei es über internationale finanzökonomische Institutionen, sei es direkt und im Alleingang: wie z.B. Monsanto, der Konzern, dem es gelang, der
brasilianischen und der US-Regierung die massive Einführung genetisch veränderter Kulturen aufzuzwingen.
Auf Weltebene ersetzen die NGOs staatliche Entwicklungsinstitutionen der Länder des Nordens, die
keinerlei Entwicklung mehr anleiten, und üben eine fundamentale Rolle in der Repräsentanz wenn nicht Stellvertretung der Zivilgesellschaft im Rahmen der
neuen globalen, regionalen und lokalen Governance aus. Ihre Rolle ist zweideutig: sicher sind sie Teil des neoliberalen Systems, insofern sie soziale Funktionen
ausüben, die einst in der Kompetenz der öffentlichen Gewalt lagen die von Milton Friedman und den Klassikern des Neoliberalismus vorgesehenen
"Almosen"; zugleich können manche von ihnen bisweilen dazu herhalten, Formen des politischen Widerstands der unteren Klassen oder der Völker
des Südens zu kanalisieren.
Ein letzter, zunehmend wichtiger Aspekt der globalisierenden Governance ist das Militär. Hier verschwindet die Grenze zwischen Öffentlichem und
Privatem, und die Intervention der "Zivilgesellschaft" und der Unternehmen ist offensichtlich. Zunächst sind die Subjekte des Krieges nicht mehr einzelne
Staaten, sondern Koalitionen von Staaten, internationale Organisationen, NGOs, zivile oder bewaffnete politische Gruppen, Unternehmen, die Dienste anbieten usw.
Darüber hinaus wird der Krieg nicht erklärt: dabei werden nicht nur unbekümmert
Verfassungen verletzt (siehe die Interventionen des "Westens" im Irak, in Jugoslawien usw.), selbst die Charta internationaler Organisationen (UNO, NATO)
wird nicht mehr respektiert. Der Handlungsrahmen der größten bestehenden militärischen Allianz, der NATO, ist heute weltumspannend, die Motive
ihrer Intervention nicht anders als "humanitär".
Die Vermischung von politischer und militärischer Sphäre, von Frieden und Krieg, von
Ökonomie und humanitärer Aktion sind die Zeichen einer flexiblen Governance, die auf maximale Effizienz und Rentabilität orientiert, ohne dass sich
jemand in einer politischen Instanz gefragt hat, welche Ziele damit verfolgt werden. Wesentlich für die Logik der Governance wie auch des Kapitals ist, dass die Frage
nach dem Zweck nicht gestellt wird: es zählen allein die Mittel.
Wenn wir die Theorie der Transaktionskosten und die ökonomische Rationalität des "imperialistischen" Modells auf die Politik
anwenden, muss eine wachsende Zahl der früher von öffentlichen Organen übernommenen Funktionen auf die Zivilgesellschaft oder auf den Markt
übergehen zumindest in dem Maße, in dem Konkurrenz und Ehrenamt niedrigere Transaktionskosten erfordern als die öffentliche Verwaltung.
Das ist die Logik, die hinter der Privatisierung und Ausgliederung öffentlicher Funktionen steht. Wenn diese Funktionen dem Markt oder freiwilligen Akteuren der
Zivilgesellschaft übergeben werden, wird ihre Gewährleistung von sachfremden Faktoren und der Zugang des Bürgers zu bestimmten Dienstleistungen
von seiner Fähigkeit abhängig, zur zahlungsfähigen Nachfrage zu gehören.
Die Theoretiker des Dritten Wegs betonen, Gesellschaft und Individuen müssten ihre Verantwortung
annehmen und dürften sich nicht permanent auf den Staat verlassen: Wir leben in einer "Risikogesellschaft". "Wir leben", sagt uns Anthony
Giddens, "in einer viel aktiveren Gesellschaft, in der es einen neuen Gesellschaftsvertrag gibt, der in der gesamten Gesellschaft und in der Politik Rechte und
Verantwortlichkeiten des Individuums umfasst. In den aktiver strukturierten sozialen Institutionen wollen wir oft die Menschen ermutigen, Risiken einzugehen, statt sie
daran zu hindern. Das Risiko ist die Grundlage der Innovation, und die Innovation ist die Grundlage für Unternehmensgeist."2
Governance bezieht sich in all diesen Fällen auf Formen der Verwaltung der öffentlichen
Angelegenheiten, die an das Eingreifen der "Zivilgesellschaft" appellieren und die Rolle der politischen Instanzen reduzieren. Dies kann auf allen Ebenen
geschehen: lokal, regional, national, weltweit, militärisch… Eine auf ein Minimum reduzierte Regierung soll die "Zivilgesellschaft" koordinieren und
orientieren, der eine dominierende Rolle bei der Ausarbeitung, Anwendung und Kontrolle der jeweiligen Politik zukommt.
Idealerweise soll Governance zum Verschwinden des Staates als einer Instanz führen, die das
öffentliche Interesse bestimmt, und zur Ersetzung gesetzlicher Normen durch flexible Formen der Regulierung. Dieses umfassende politische Programm lässt
sich im Titel eines bereits klassischen Werks zur Verteidigung von Governance zusammenfassen: Governing without Government Regieren ohne Regierung.3 Nur
ein Paradoxon, wie in der Mystik oder der negativen Theologie, kann das wahre Wesen der Governance ausdrücken. Wie der unaussprechliche EU-Kommissar Pascal
Lamy sagte: "Der Begriff Governance scheint mir glücklicherweise hinlänglich solide, um die Reflexion zu fördern, und ausreichend flexibel, um
die Konvergenz von Meinungen zu ermöglichen. Es ist ein wenig wie bei einer Fahrzeugkupplung: sie ist unerlässlich, aber in verschiedenen Versionen zu
haben."4
All dies hat ein jugendliches und libertäres Flair: Man will den Eindruck erwecken, dass die
Ersetzung des demokratischen Staates durch ein Geflecht vertraglicher Vereinbarungen größere Freiheit und mehr Fähigkeit zur Initiative für alle
bedeutet. Das Problem ist, dass diese Konzeption der Freiheit, die der Liberalismus uns einhämmern will, ungeheuer naiv ist: Die Freiheit wird als etwas
primär Gegebenes vorgestellt, das zu einem idyllischen Naturzustand gehört, der Staat wird als Hindernis für ihre volle Entfaltung betrachtet.
Was unsere neuen "Libertären" nicht berücksichtigen, ist, dass der demokratische
Staat gegenwärtig die einzige Garantie für die Gleichheit der Bürger darstellt, weil er seine Legitimität aus der Existenz eines öffentlichen
Raums bezieht, wo die Bürger gleiche Rechte haben. Jeder andere Raum, sei es die Zivilgesellschaft, und noch viel mehr der Markt oder das Unternehmen, ist ein Ort
der Ungleichheit und der Herrschaft einiger Individuen über andere.
Im Phänomen Governance wird oft eine bloße Veränderung im Regierungsstil gesehen, nicht die Tatsache, dass damit ein grundlegender
Wandel der politischen Prämissen verbunden ist. Governance macht den Staat angeblich effizienter, das soziale und wirtschaftliche Leben geschmeidiger. Auch in den
Augen von Anthony Giddens, den Theoretiker des Blairismus, dient sie dazu, "die Demokratie zu demokratisieren", indem sie sie von der Last des Sozialstaats
befreit und sie an die "Zivilgesellschaft" heranführt.
Die einfache Untersuchung ihrer erklärten Ziele zeigt jedoch, dass sie mit den grundlegenden
Konzepten und Institutionen der Demokratie unvereinbar ist. Volkssouveränität, Legalitätsprinzip, Gewaltenteilung, die Unterscheidung zwischen
Öffentlichem und Privatem all dies wird als alte Geschichten abgetan. Die Änderungen am politischen Modell, das Governance mehr oder weniger offen
eingestanden anstrebt, trägt die Kennzeichen eines politischen Konstitutionsprozesses, der die in 30 Jahren Neoliberalismus voluntaristisch geschaffenen sozialen und
ökonomischen Realitäten politisch und rechtlich zu sanktionieren sucht. Wir werden einige Merkmale der angestrebten neuen Verfassung darlegen.
Da sich die gegenwärtige Europäische Kommission in einen unbestrittene Motor der Global
Governance verwandelt hat, werden wir uns bei der Darstellung dieses Projekts zum großen Teil auf die "brillanten" öffentlichen
Äußerungen des EU-Kommissars Lamy (eines großen Ideologen und Akteurs der europäischen und weltweiten Governance) und des
Kommissionspräsidenten Romano Prodi sowie auf verschiedene Dokumente und Studien stützen, die bei der Ausarbeitung des Weißbuchs der
Europäischen Kommission über Governance in Europa als theoretischer Bezugspunkt dienten. Wir werden dabei hauptsächlich solche Aspekte angehen,
die nicht spezifisch europäisch, sondern im globalen Maßstab anwendbar sind.
1. Die Unterscheidung von Öffentlichem und Privatem
Die Unterscheidung zwischen dem, was öffentlich und dem, was privat ist, ist ein Kernaspekt der politischen Ordnung: Es gibt Angelegenheiten, die die
Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit interessieren, und andere, die Einzelpersonen oder besondere Gruppen interessieren. Der politische Entscheidungsrahmen ist ein
öffentlicher Rahmen, weil er die ganze Gemeinschaft interessiert; in einer Demokratie haben alle Bürger mehr oder weniger direkt Zugang zur kollektiven
Entscheidungsfindung in diesem öffentlichen Raum. Die BürgerInnen sind immer Individuen, die das Gesetz als Gleiche betrachtet. Diese real und direkt oder
indirekt und virtuell in einem öffentlichem Raum versammelten Bürger stellen in einer Demokratie das einzige kollektive Subjekt dar, dessen Willen
Gesetzeskraft hat.
Die Governance stößt diese Ordnung um: "Ich glaube", sagt Romano Prodi,
"dass wir aufhören müssen, in Begriffen hierarchisierter Gewalten zu denken, die durch das Prinzip der Subsidarität getrennt sind; wir
müssen uns vielmehr ein Netz vorstellen, in dem die verschiedenen Ebenen von Governance gemeinsam an Ausarbeitung, Vorschlägen und Umsetzung der
Politiken arbeiten." Er sagt weiter: "Es ist Zeit zu verstehen, dass Europa nicht nur von den europäischen Institutionen verwaltet wird, sondern auch von
den nationalen, regionalen und lokalen Behörden und von der Zivilgesellschaft."5
Wir haben es also mit einer machtvollen Horizontalität zu tun, die verschiedene Ebenen umfasst und,
unerklärt, die Abtretung der Prärogativen des Souveräns beinhaltet nicht an öffentliche Gewalten einer niedrigeren Ebene in Anwendung
einer vollständig demokratischen Form des Prinzips der Subsidarität, sondern an die "Zivilgesellschaft", d.h. an private und partikulare Interessen.
Das Arbeitsprogramm der EU-Kommission zum erwähnten Weißbuch schreibt dazu: "Die Definition von Governance vermerkt, dass sie die Regeln,
Prozesse und Verhaltensweisen bestimmt, die die Qualität der Ausübung der europäischen Gewalten bedingen: Verantwortlichkeit, Sichtbarkeit und
Effizienz. Dieses Herangehen fördert besonders die Vertiefung des europäischen demokratischen Modells im Allgemeinen und die Rolle der EU-Kommission
im Besonderen. Weil es von Situationen ausgeht, die von einer Vielfalt von Entscheidungszentren auf verschiedenen geografischen, öffentlichen und privaten Ebenen
der Union geprägt sind."6
Weil sie diese entstehende Vielfalt von Entscheidungszentren, in der die privaten auf derselben Stufe
stehen wie die öffentlichen, rechtfertigen wollen, sprechen sich Theoretiker und Propheten der Governance auch für eine Rückkehr der Religion ins
öffentliche Leben aus, was die Abkehr von der laizistischen Tradition der europäischen Demokratien bedeutet: "In der modernen Epoche war die
Trennung von Staat und Religion eine ebenso oft wiederholte wie trotz schöner Worte ignorierte, umgangene und nicht angewandte Doktrin. Diese Trennung war
ihrerseits ein Aspekt der Trennung zwischen dem ‚Privaten und dem ‚Öffentlichen, eine punktierte Linie, die in dem Maße verschwunden ist,
wie sich die Staaten zunehmend aus öffentlichen Angelegenheiten zurückziehen und die privaten Organisationen eine immer wichtigere Rolle bei der
Ausarbeitung der Politik spielen … In diesem Zusammenhang scheint es sehr wahrscheinlich, dass die Religion, definiert als organisierte Spiritualität, eine immer
bestimmendere Rolle in allen Bereichen übernimmt."7
Wir sind weder in Teheran noch in Kabul, sondern unglaublich, aber wahr in
Brüssel. Und dies ist nicht eine Utopie, sondern eine aktuelle politische Tendenz des Neoliberalismus: Die Regierung Bush hat gerade die Finanzierung einer Reihe
religiöser Organisationen beschlossen, damit sie grundlegende soziale Dienstleistungen übernehmen.
2. Die Zivilgesellschaft
Das Zauberwort, mit dem die Scheidelinie zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich eingerissen, aber trotzdem der Eindruck einer Ausweitung
der Demokratie erweckt wird, obwohl das Prinzip der Volkssouveränität dabei über Bord geht, lautet "Zivilgesellschaft". Zivilgesellschaft ist
ein "kultivierter" Begriff philosophischen Ursprungs: er bezeichnet bei Hegel die Sphäre, wo sich besondere Interessen ausdrücken, im Gegensatz
zur Sphäre des Staates, der das Allgemeine repräsentiert.8 Im Zusammenhang mit Governance bezeichnet der Begriff Zivilgesellschaft eine Wirklichkeit, die
zwischen privaten Vereinigungen mit Funktionen öffentlichen Interesses (NGOs, weltliche oder religiöse Wohlfahrtsverbände usw.) und dem Markt
steht. Der Idealismus des Ehrenamts und die Lockungen des Profits verbinden sich, um "wirksam" die Funktionen zu ersetzen, die vom neoliberalen Staat
aufgegeben wurden.
Die Zivilgesellschaft muss sich die Regierungsaufgaben mit den öffentlichen Gewalten teilen,
besonders die Aufgabe der Gesetzgebung mit dem Parlament. In manchen "linken" Varianten von Governance, die seit Seattle in Mode sind, unterscheidet man
die Zivilgesellschaft vom Markt, was zu einem System dreier Gewalten führt: Staat Zivilgesellschaft Markt. Grundsätzlich behält jedoch
der Begriff "Zivilgesellschaft" eine gekünstelte Zweideutigkeit er kann den Markt einschließen (die Zivilgesellschaft wird dann mit der
Gesamtheit der sozioökonomisch Handelnden gleichgesetzt) und ausschließen, je nachdem wie die Macht, die davon spricht, es gerade braucht.9
Wenn die Verantwortlichen der Governance mit der auf die Vertreter von NGOs, Gewerkschaften oder
sozialen Bewegungen reduzierten Zivilgesellschaft in einen Dialog treten, verschwindet der Markt als eigenständiger Akteur das geschieht deshalb, weil die
Interessen, die hier zum Ausdruck kommen, unter die "öffentlichen Gewalten" subsumiert werden, die als allgemeines Interesse das Privatinteresse der
Märkte oder der Kapitalien repräsentieren. So werden unserer Gesellschaft Ziele aufgezwungen wie die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, Sicherung
der Investitionsrentabilität, Reduzierung der Arbeitskosten usw., die Kernbestandteile neoliberaler Politik sind.
Oft wird die Zivilgesellschaft auf ihren sichtbarsten institutionellen Ausdruck reduziert: die NGOs, deren
Rolle für die neue Ordnung fundamental ist. Für Pascal Lamy, der seit Seattle, wo er die EU repräsentierte, unaufhörlich die Einbeziehung der
NGOs in den Prozess der Entscheidungsfindung fordert, "können die NGOs und die Zivilgesellschaft zur Legitimation beitragen, indem sie veschiedene
Kanäle der Aktivität (z.B. Mobilisierung, Repräsentation oder einfach nur juristische oder technische Unterstützung) bieten und damit auf
Anforderungen neuer sozialer Mittler reagieren, die nirgendwo sonst auf Resonanz stoßen".10
Die NGOs haben die Funktion der Legitimierung einer Situation, die nicht nur in den internationalen
Finanz- und Handelsinstitutionen, sondern auch in der EU nicht demokratisch ist. Genügt es, die NGOs in den Prozess der Entscheidungsfindung oder der Anwendung
von Normen einzubeziehen, damit wir mehr Legitimität oder Demokratie haben?
In diesem ganzen Prozess ist die Bevölkerung, verstanden als die Gesamtheit der Bürger, die
große Abwesende, so sehr, dass die Neue Ordnung bereits als eine "Regierung von Organisationen, durch Organisationen, für Organisationen"
bezeichnet wurde.11 Das große Paradoxon der Governance ist, dass vorgeschlagen wird, die Demokratie auf die Zivilgesellschaft auszuweiten, während letztere
gerade die Gesamtheit der Beziehungen darstellt, in der die Individuen keine Staatsbürger sind, sondern bloße Vehikel partikularer Interessen.
Staatsbürger ist man nur als Angehöriger des Volkssouveräns. Die Prärogativen, die das Gesetz als Ausdruck des Willens des Souveräns
über das Privatinteresse stellen, sind die einzige Garantie für die Staatsbürger, die das kollektive Subjekt des Souveräns verkörpern, gegen
die Ungleichheit und die Beherrschung der Schwächsten durch die Stärksten. Die augenscheinliche "Übertragung" der Gewalten auf die
Zivilgesellschaft, die die neoliberale Governance vornimmt, bedeutet somit faktisch, dass das Volk seiner Souveränität beraubt wird. Es handelt sich letzten
Endes um einen Staatsstreich, der im Augenblick ohne Blutvergießen stattfindet.
3. Das außerordentlich Große und das ungeheuer Komplexe
Jede Macht lässt ihre Untertanen glauben, dass sie sie mit Wissen und Kenntnisse, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Die verschiedenen Religionen haben
dies jahrhundertelang getan, indem sie sich als Wahrer einer göttlichen Offenbarung präsentierten, deren sehr komplexe Interpretation ein subtiles Wissen,
wenn nicht eine Offenbarung des Schöpfers verlangte. Diese Vorstellung, wonach der einzelne Bürger unfähig ist, die große Komplexität
der sozialen und ökonomischen Realität zu verstehen und sich daher damit zufrieden geben muss, seine Entscheidungsgewalt an eine Kaste von
Entscheidungsträgern zu delegieren, ist ein wesentliches Element des Systems der Governance.
Die konstitutive Offenbarung der Governance, die das Subjekt der europäischen und der global
Governance wie eine Zauberformel wiederholt, besteht darin, dass das Individuum sich heute einer Realität gegenüber sieht, die seine Fähigkeiten in
jeder Hinsicht überschreitet und an die sich die demokratischen Institutionen und das Individuum selbst anpassen müssen. In den Worten von Tom Burns, dem
Autor eines Berichts über die Zukunft der parlamentarischen Demokratie in Europa: "Einer der Hauptgründe dafür, dass die parlamentarischen
Systeme in der modernen Politik und Governance zunehmend marginalisiert werden, ist die Tatsache, dass sich die westlichen Gesellschaften hochgradig differenziert haben
und zu kompliziert geworden sind, als dass ein Parlament oder eine Verwaltung sie kontrollieren und ausreichende Kenntnisse und Kompetenzen erlangen könnte,
über sie zu befinden.12
So werden die Auswirkungen von 20 Jahren Neoliberalismus als ein Naturereignis dargestellt, und die
Privatisierung zahlreicher Entscheidungswege und der öffentlichen Interessenpolitik liefert die wesentliche Rechtfertigung für eine neue, vielleicht
endgültige, Welle von Privatisierungen. Was ist diese berühmte "Komplexität", wenn nicht die Folge der Privatisierungen und der
verallgemeinerten Deregulierung?
In derselben Weise drückt sich das 1999 von der Europäischen Kommission organisierte
Seminar von Genval aus: "Die kommenden Reformen werden nur in dem Maße verwirklicht werden können, wie sie auf die Erwartungen der
Zivilgesellschaft gegenüber dem europäischen politischen Prozess antworten. Die Komplexität der Probleme und die Verschiedenartigkeit der
Zivilgesellschaft sind jetzt derart, dass das Modell der repräsentativen Demokratie nicht mehr als ausreichende Quelle der Inspiration dienen kann. Der Reformprozess
muss sich notwendigerweise innovativen Optionen öffnen."13
Dem Komplexen hat sich in letzter Zeit das Enorme zugesellt, dessen Name natürlich
"Globalisierung" lautet. Die Globalisierung existiert wie der jüdisch-christliche Gott aus sich heraus und hat keine Ursache: die Kreatur muss sich allein
vor der unbesiegbaren Kraft dieser neuen "Realität" beugen, die doch nur das Resultat der systematischen Deregulierung der ökonomischen und
finanziellen Aktivitäten während der drei Jahrzehnte des Neoliberalismus ist. Alles ist recht uns glauben zu machen, dass unsere Demokratien aus
Gründen, die das menschliche Vermögen übersteigen , unfähig sind, sich der öffentlichen Sache anzunehmen. So kann Kommissar
Lamy behaupten, dass die Globalisierung "eine wahrhaft radikale Kraft geschaffen hat, im wirklichen Sinne des Worts. Sie hat eine Wirkung von enormer Tragweite
auf die Souveränität gehabt, innerhalb wie außerhalb Europas: auf Fragen der demokratischen Legitimität und Verantwortung, vor allem aber auf
die wirkliche Ökonomie und die wirklichen Personen."14
Die Staatsbürgerschaft, die zwischen dem extrem Großen und dem ungeheuer Komplexen
verloren gegangen ist, muss akzeptieren, dass sie in der neuen Ordnung ihrer Souveränität beraubt wird. Diese Ordnung bekommt viele Namen:
postparlamentarische Governance, partizipative Demokratie oder, mit einem bewundernswerten historischen Sinn, "organische Demokratie"15. In jedem Fall
trifft die Macht, die in der Governance einen offenen Charakter hat, ihre Entscheidungen jenseits des politischen Rahmens und in jedem Fall am Rande der
Volkssouveränität und der Institutionen, die sie allein verkörpern.
4. Jenseits der parlamentarischen Demokratie oder der Demokratie überhaupt?
Vom Standpunkt der Volkssouveränität machen diese diffusen Souveränitäten keinen Sinn: Die politische Legitimität geht vom
Volk aus; eine Entscheidung oder eine öffentliche Norm ist nur legitim, wenn sie von den Organen angenommen wird, die die Volkssouveränität
ausdrücken (die drei Gewalten von Montesquieu), und sie ist es keinesfalls, wenn sie von einem Privatinteresse diktiert wird.
Dass die NGOs, die nur private Organisationen sind, in einen "gesetzgebenden" Prozess
intervenieren, dessen Kerninhalt von privaten ökonomischen Interessen unter den Augen eines postparlamentarischen Staates bestimmt wird, ändert nichts an
der radikalen Illegitimität des Verfahrens. Dasselbe gilt, wenn sich auf Weltebene NGOs im Namen der "Zivilgesellschaft" mit "sozialen"
oder "humanitären" Aspekten beschäftigen, im vergeblichen Ansinnen, die demokratische Illegitimität von WTO, OECD, IWF oder NATO
zu "mäßigen". In diesen Organisationen entscheiden tatsächlich autonomisierte Exekutiven im Namen ihrer Länder, ohne das
mindeste Mandat der Bevölkerung und oft unter Verletzung der von der Verfassung vorgeschriebenen Verfahren wie bei den Verhandlungen über das
Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) im Rahmen der OECD oder beim "Krieg" gegen Jugoslawien.
Sich dieser Illegitimität bewusst, versuchen die europäischen Verfechter der Governance
die nicht mehr vom "europäischen Demokratiedefizit" sprechen , sie im Namen des sakrosankten Prinzips der Effizienz zu rechtfertigen,
indem sie eine Theorie der doppelten Legitimierung durch "Input" (Ursprung der Legitimität, u.a. der demokratischen Legitimität) und
"Output" (die Resultate) entwickeln.16 Natürlich wird überwiegend die Legitimität des Outputs, der Resultate oder Folgen, bemüht.
Für Romano Prodi "ist die Effizienz der Aktion der europäischen Institutionen die Hauptquelle ihrer Legitimität"17.
Franco hätte das in Bezug auf seine charismatische Funktion als Caudillo nicht anders gesagt
deren Legitimität gründete laut einer von Max Weber und Carl Schmitt übernommenen Formel auf der "Ausübung" seiner Funktionen.
Niemand wird nach dieser Theorie die "Outputlegitimität" in Frage stellen angesichts der ökonomischen Entwicklung, die Spanien unter dem
Franquismus erfahren hat, oder der Effizienz, die Hitler beim Bau von Autobahnen… und der Vernichtung von Millionen Menschen an den Tag gelegt hat.
Aber nicht nur die "Outputlegitimität" erinnert an diese unseligen Zeiten , auch die
"Inputlegitimität" speist sich aus ähnlichen Quellen. Der mit dem Motiv der Effizienz gerechtfertigte Antiparlamentarismus läuft auf eine
ursprüngliche Formel von "Demokratie" hinaus: "organische Governance oder auch "organische Demokratie" genannt. Dieser Begriff,
der vom Franquismus seit den 50er Jahren benutzt wurde, taucht jetzt wieder auf, um den zur Governance gehörenden Typus der indirekten Beteiligung zu
bezeichnen. Tom Burns: "Angesichts der wachsenden Komplexität und Dynamik und der Grenzen und Unzulänglichkeiten parlamentarischer
Formen entstehen neue Formen der Regulierung und Governance. In Teilbereichen sehen wir uns verschiedenen Netzwerken oder stabilen Gemeinschaften
gegenüber, die in die Politik von Sub-Regierungen und Regierungen privater Interessen intervenieren und zu denen Interessengruppen gehören, die mit Fragen
oder Problemen besonderer Aspekte oder Teilbereiche von Politik zu tun haben. Ich nenne die Gesamtheit dieser Formen organic governance."19
Die Regierungen privater Interessen wie auch andere ebenfalls private Gemeinschaften oder Netzwerke
sind wirksamere Sachwalter des Unternehmerwohls als die öffentlichen Gewalten und erscheinen somit als fortgeschrittenster Ausdruck des Neoliberalismus. Wir
gelangen so zu einer Universalisierung des Konzepts von corporate governance, zu einer allgemeinen Umwandlung des Privaten in Öffentliches unter der
unbestrittenen Hegemonie von Wirtschaftsmächten, die das Volk seiner Souveränität berauben wollen. Es bleibt nur noch, diesen Gewalten einen Platz
im neuen konstitutionellen Rahmen zuzuweisen, in dem die verkrüppelten Parlamente sie als normative Gewalt anerkennen: "Wir müssen das Konzept
der Staatsbürgerschaft von Organisationen im Rahmen einer Verfassung von Organisationen erklären, die deren Rolle in der Governance definiert und
ausdrückliche oder öffentliche Normen für ihre Reglementierung festlegt."20
Stehen wir vor einer neuen Zensusdemokratie, wo nur der "aktive Teil" der Gesellschaft das
Recht hat, über die öffentlichen Angelegenheiten zu entscheiden, weil die Mehrheit der Gesellschaft und ihrer Repräsentanten angeblich unfähig
ist, auf der Höhe der neuen Verhältnisse zu stehen? Oder stehen wir vielleicht vor noch brutaleren Formen der Klassendiktatur? Handelt es sich um eine
Rückkehr zum 19.Jahrhundert oder zu den 30er Jahren? Sicher ist, dass sich die Demokratie in einer üblen Lage befindet.
Die Governance stellt sich als das dem Neoliberalismus am besten angepasste Konzept für seine politische Verfassung dar. Für dieses System der
Herrschaft, das immer schon über die bloße Sphäre der Wirtschaft hinausging, ist die Stunde gekommen, jedes politische Risiko zu eliminieren. Wenn
sich mit dem MAI die öffentlichen Gewalten dem Diktat der Finanzmächte unterwerfen und auf jede Handlung verzichten sollten, die diesen bei der
Verfolgung ihrer Interessen hätten zuwiderlaufen können, wird die Governance weiter gehen und beanspruchen, auch die letzten Möglichkeiten, so
formal sie auch sein mögen, zu beseitigen, dass die Mehrheit der Gesellschaft ihre Stimme zu Gehör bringt. Es genügt nicht, sich dazu in Qatar zu
versammeln. Man muss die Grundlagen der Demokratie selbst liquidieren, und das mit einem jungen und libertären Anschein. Das Projekt der Übertragung der
Macht an die Zivilgesellschaft bedeutet entgegen dem Augenschein das Verschwinden des öffentlichen Raums, wo sich die politische Beteiligung der Bürger
vollzieht. Der öffentliche Raum wird ersetzt durch den privaten Raum, konstituiert durch den den Markt und die "Zivilgesellschaft". Handel und private
Abkommen, die ihren Platz in der Zivilgesellschaft haben, erstzen so alte Bagatellen wie das Gesetz und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit.
Die traditionelle Gewaltenteilung von Montesquieu wird durch eine Triade ersetzt, in der dem Staat zwei
Ausdrucksformen des besonderen Interesses gegenüber stehen (kein Zweifel, dass eine NGO oder eine Gewerkschaft ein besonderes Interesse repräsentiert, so
legitim dieses auch sein mag). In diesem Schema drückt der Staat selbst keinerlei allgemeines Interesse aus, er beschränkt darauf, zwischen verschiedenen
partikularen Interessen den Schiedsrichter zu spielen und repräsentiert dabei nur das sehr besondere Interesse seiner Bürokratien.
Aber diese Neue Ordnung der Governance ist ganz und gar nicht neu. Vor Jahrzehnten schon triumphierten
seine Thesen in Europa:
"Man muss die autonomen Werte des Individuums fördern, entwickeln und verteidigen sowie
jene, die mehrere Individuen gemeinsam haben und die sich in organisierten Kollektivpersonen (Familien, Kommunen, Korporationen usw.) ausdrücken …
Der Staat muss auf seine wesentlichen Funktionen der politischen und juristischen Ordnung reduziert
werden. Der Staat muss die Verbände mit Kompetenz und Verantwortung ausstatten, indem er den Wirtschafts- und Ständeorganisationen das Recht gibt, an der
Wahl der Nationalen Technischen Räte teilzunehmen. Dementsprechend wird man die Vollmachten und Funktionen, die gegenwärtig dem Parlament
zugewiesen werden, begrenzen müssen. In den Zuständigkeitsbereich des Parlaments werden die Probleme fallen, die sich auf das Individuum als
Staatsbürger und auf den Staat selbst als Organ der Verwirklichung und des Schutzes der höchsten nationalen Interessen beziehen; in die Kompetenz der
Nationalen Technischen Räte werden die Probleme fallen, die sich auf verschiedene Formen der Aktivität der Individuen in ihrer Eigenschaft als Produzenten
beziehen."21
Weniger Staat, weniger Parlament, Förderung von Verbänden und kollektiv organisierten
Personen und ihre Teilnahme am Prozess der Ausarbeitung der Normen: genau dies ist die neoliberale Governance. Der große Unterschied ist, dass ihre
Vorläufer in den 20er Jahren sorgsamer auf ihre Sprache achteten.
John Brown
1. Außerhalb der Firma lenken Preisbewegungen die Produktion, die durch eine Reihe von Austauschvorgängen auf dem Markt koordiniert wird. Innerhalb
einer Firma werden diese Markttransaktionen eliminiert und an die Stelle der komplizierten Marktstruktur mit Austauschvorgängen tritt der Unternehmer/Koordinator,
der die Produktion lenkt … Wir können diesen Teil des Arguments zusammenfassen, indem wir sagen, dass die Operation eines Marktes etwas kostet und dass durch
die Bildung einer Organisation und der Erlaubnis für eine Autorität (‚Unternehmer), die Ressourcen zu lenken, gewisse Marktkosten eingespart
werden." (Coase, 1937.)
2. A.Giddens, Arnold Goodman Charity Lecture, 15.6.1999.
3. W.H.Reinicke, Global Public Policy. Governing without Government?, Washington 1998.
4. Intervention von Pascal Lamy, 30.1.2001.
5. Romano Prodi, Rede vor dem Europaparlament, 15.2.2000.
6. Livre Blanc sur la Gouvernance Européenne (2000), S.20.
7. H.Cleveland/M.Luyckx, "Civilizations and Governance", Arbeitspapier für das Seminar Governance and Civilizations, Brüssel 1998.
8. "In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke
nicht erreichen; die anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen." (G.W.F.Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §182.)
9. Was ist diese Zivilgesellschaft? Sie ist das Gewebe zahlloser Gruppen, Organisationen und Bewegungen. Diese Netzwerke werden nicht vom Staat kontrolliert,
obwohl sie in größerem oder geringerem Ausmaß durch den Staat beeinflusst oder reguliert werden können und daher eine Schnittstelle mit
staatlichen Organen aufweisen. Offensichtlich ist die Zivilgesellschaft auf kapitalistische oder Marktbeziehungen zu reduzieren. Sie betrifft auch Familie,
Religionsgemeinschaften, Berufsgruppen, Akademien u.a. Die Zivilgesellschaft ist komplex, dynamisch, organisch nicht bloß eine unzweideutige Quelle des
Guten (oder Bösen)." (T.Burns, "The evolution of parliaments and societies in Europe: challenges and prospects", European Journal of Social
Theory, Nr.2, 1999.)
10. P.Lamy, a.a.O.
11. S.Andersen/T.Burns, "The European Union and the Erosion of Parliamentary Democracy", in: Study of Post-Parliamentary Governance in the European
Union, London 1996, S.229.
12. Ebd.
13. N.Lebessis/J.Paterson, "Accroître lefficacité et la légitimité de la gouvernance de la Union européenne", Commission
européenne, Cellule de prospektive, Brüssel 1999.
14. P.Lamy, Rede in der London School of Economics, 1.2.2001.
15. T.Burns, "The future of parliamentary democracy: transition and challenge in European Governance", Papier für die Conference of the Speakers
of EU Parliaments, September 2000.
16. P.Lamy, Rede in der FU Berlin, 8.2.2001.
17. Prodi, a.a.O.
18. Burns, a.a.O.
19. Burns, a.a.O.
20. Andersen/Burns, a.a.O.
21. B.Mussolini, Punti programmatici del Partito Nazionale Fascista, 1921.
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