Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 23.05.2001, Seite 11

Palästina

Sharons Projekt: Massaker und Vertreibung

Die Regierung von Ariel Sharon und Shimon Peres will die palästinensische Revolte definitiv beenden und setzt dabei jedes militärische Mittel ein. In diesen letzten Wochen überlagern sich verschiedene Elemente, die für kurze oder mittelfristige Lösungen keinen Raum lassen.
Der Druck auf die palästinensische Autonomiebehörde (PNA) hat drastisch zugenommen und Arafat zu dem Versuch veranlasst, die Basiskomitees aufzulösen, die die verschiedenen palästinensischen politischen Kräfte umfassen — sowohl diejenigen, die in den letzten Monaten aufgetaucht sind, als auch Hamas und Jihad — und die wahre politische Führung der Revolte bilden. Dies geschah in der Illusion, dass Israel und seine Verbündeten einem Kompromiss zustimmen würden, der es Arafat erlaubte, ehrenhaft zu kapitulieren.
Im Westen haben viele gejubelt, als die Nachricht umging, dass Arafat Befehl gegeben hatte, keine Mörserangriffe "auf die Siedlungen" zu unternehmen. Viele haben dem Märchen geglaubt, dass die Palästinenser von außen mit Waffen versehen werden, und so hat sich niemand aufgeregt, als die israelische Marine ein Schiff im libanesischen Hafen blockierte, dem internationalen Recht zum Trotz, das so oft heuchlerisch beschworen wird.

Israels Terror ist kein Vergeltungsakt

Die Mörserangriffe, die auf die Grenzen der Siedlungen zielten, haben in drei Wochen keinerlei Opfer gefordert. Die israelischen Repressalien, die Teppichbombardements auf Flüchtlingslager in Gaza und den Städten des Westjordanlands haben in denselben drei Wochen etwa 15 Tote und dutzende Verletzte gefordert. Auf jedes Bombardement folgt darüber hinaus die Zerstörung von Wohnhäusern und nicht nur, wie unsere Fernsehnachrichten behaupten, der Gebäude der palästinensischen Polizei.
Ist im Zusammenhang mit dieser Aggression anzunehmen, dass ein Ende der Mörserangriffe auch ein Ende der Bombardierungen und der Zerstörungen bedeutet? Nein!
Die Regierung Sharon/Peres, beides erfahrene Verbrecher, hat ein präzises Projekt: die Vertreibung der Palästinenser aus Gaza und dem Westjordanland.
Die Liquidierung zahlreicher Führer der Revolte durch gezielte Mordanschläge hat ein doppeltes Ziel: die Selbstorganisation der Volkswiderstandskomitees (PRC) zu treffen und gleichzeitig in entscheidender Weise die PNA zu schwächen, die sich um Glaubwürdigkeit auf diesem Gebiet bemüht.
Ein Führer der PRC von Gaza, Abu Baker Qassem, sagt zu den Versuchen seitens Arafats und der PNA, mit Israel in einen Dialog zu treten: "Was erhoffen sich unsere Führer von diesen Kontakten mit Israel? Es ist schließlich offensichtlich, dass sie zu nichts Gutem führen werden, denn die Grundlagen dieses Dialogs sind vollständig falsch. Israel will nur mit der Intifada Schluss machen und zu den Osloer Verhandlungen zurückkehren, die nach sieben Jahren nur Hunger und Zerstörung gebracht und die militärische Besatzung verstärkt haben … Kooperation zwischen den Sicherheitsdiensten? Es ist nur ein Plan, um die Intifada zu schlagen. Wenn uns die Israelis ihre Liste von Bateiligten an Massakern und von Verbrechern wie Ariel Sharon und Shimon Peres, dem Verantwortlichen des Massakers in Qana im Libanon 1996, übergeben, dann werden auch wir Palästinenser unsere Aufstellung gefährlicher Personen präsentieren. Dies ist die wirkliche Sicherheitskooperation, nicht jene, die die Palästinenser zwingt, ihre Kampfesbrüder zu verhaften, während die israelischen Verbrecher frei herum laufen."
Man muss betonen, dass Abu Baker Qassem kein islamischer Fundamentalist ist, sondern ein Universitätsdozent (dessen wirklichen Namen wir natürlich verschweigen, wie auch den der palästinensischen Universität, an der er lehrt), der nach sieben Jahren "Frieden" in der Revolte vom 28.September eine kostbare Gelegenheit für die Befreiung des palästinensischen Volkes gesehen hat und sich darin engagiert, da er sie als letzte Chance betrachtet.
Die wichtige Tatsache, die aus den Worten des PRC-Führers von Rafah ersichtlich wird, ist nicht nur das Entstehen (wie schon 1987) eines Netzes von Selbstorganisation, das es der Bevölkerung ermöglicht, gegen die militärische, ökonomische und politische Aggression Widerstand zu leisten, sondern vor allem die Tatsache, dass diese Basiskomitees sehr wohl wissen, dass nunmehr der Kampf nicht nur für die Befreiung von der Besatzung begonnen hat, sondern auch für die Bildung der Voraussetzungen, um die palästinensische Gesellschaft von der Bindung an die schwankende Zweideutigkeit von Arafat und der PNA zu befreien.
Das bedeutet nicht, dass man auf einen Bürgerkrieg hofft, um so weniger, als nicht zu erkennen ist, dass in diesen Monaten derselbe alte palästinensische Führer eine andere Entschlossenheit zeigen würde, als die, die man seit langem bei ihm gesehen hat. Aber es ist besorgniserregend, dass er gleichzeitig abwechselnd harte Worte, allein Worte, gegen Israel äußert und harte repressive Handlungen gegen die Palästinenser durchführt, die ihn in Frage stellen.
Wir denken an die Verhaftung von Rantisi, einem Führer des Jihad, der nach 1994 zum Fundamentalisten wurde, als er zusammen mit 415 anderen Palästinensern von der israelischen Regierung in jenen Landstreifen des Südlibanon ausgewiesen wurde, der zu dieser Zeit als "Niemandsland" bezeichnet wurde. Unter den 415 waren viele Alte und Behinderte, die Monate lang keine andere Unterstützung als die der lokalen Bevölkerung hatte, denn die israelischen Besatzungstruppen und die Söldnertruppen General Haddads hinderten das Rote Kreuz daran, das Notlager zu erreichen.
In dieser Zeit war Rantisi kein Fundamentalist, er war ein Dozent der Universität von Gaza. Zum Fundamentalisten wurde er erst bei seiner Rückkehr, nach etwa zweieinhalb Jahren des Exils, als Reaktion auf die Kompromisse und die Repression, die von den palästinensischen Sicherheitsbehörden gegen alle verübt wurde, die sich den Abkommen widersetzten. Heute ist er ein anerkannter Führer, in Gaza ebenso wie im Westjordanland, und seine Festnahme ist ein gefährliches Signal, um so mehr, als sie in einem Moment geschieht, indem er darüber nachdachte, den Jihad zu verlassen — nicht zuletzt dank des Einflusses von Iyyad Al-Sarraji, einem laizistischen Aktivisten für Menschenrechte in Gaza und Direktor eines Gesundheitszentrums in Gaza-Stadt.

Gewalt oder Krieg?

In diesen Tagen wird im Westen weiter das Märchen wiederholt, dass die palästinensische "Gewalt" die israelischen Repressalien provoziere. Erst nach dem Tod eines vier Monate alten Mädchens — Iman Hijjio — in den Armen ihrer Mutter, die schwer verletzt wurde, hat man von einem nicht akzeptablen Akt gesprochen. Aber sofort hat man die heuchlerischen Entschuldigungen des Verbrechers Sharon, der von einem "Vorfall" sprach und davon, dass die Truppen "das Kind nicht töten wollten", akzeptiert.
Die Wirklichkeit sieht anders aus: Ben Eliazir, der General, der die Truppen in den besetzten Gebieten kommandiert, hat grünes Licht für Panzer gegeben, direkt auf Zivilisten zu schießen. Seit fast acht Monaten werden die Palästinenser beschuldigt, die Kinder zu benutzen, indem sie sie in den Tod schicken, um sie dann zu beweinen! Im vergangenen Oktober hatten zwei Mitarbeiter des Sozialdemokraten Barak geäußert: "Wir verzeihen den Palästinensern niemals, denn sie zwingen unsere Jungs, auf ihre Kinder zu schießen!" Schade, dass nach wenigen Tagen die israelische Journalistin Hamira Hass bei einem Interview mit einem dieser "Jungs" enthüllte, dass ein eindeutiger Befehl existierte, auf zwölfjährige Kinder zu schießen!
Mit bloßen Worten können die "Entschuldigungen" von Sharon seinen Verbündeten George Bush befriedigen, aber nicht diejenigen, die seit Monaten zu Hause, vor einem Laden oder auf der Straße massakriert werden. Und so, nicht auf Befehl von oben, sondern aus Verzweiflung geschehen die Racheakte, die Unschuldige treffen können.
Zum Beispiel wurden am 9.Mai zwei israelische Jungen von 13 und 14 Jahren, Bewohner einer Siedlung fanatischer Extremisten, in der Nähe von Nablus ermordet aufgefunden. Sie hatten die Schule geschwänzt und sich in eine etwa 700 Meter von ihrer Siedlung entfernten von Palästinensern besiedelten Zone gewagt. Ihre Eltern wussten, dass sie nach Jerusalem gegangen waren, um gegen die "Schwäche" Sharons zu demonstrieren. Die beiden Jungen hatten den Wahnsinn ihrer Eltern mit dem Leben bezahlt. Aber diese werden von niemandem verantwortlich gemacht.
Wie am 12.Oktober, nach dem Lynchmord an drei israelischen Soldaten in Ramallah, bestand die Repressalie in der x-ten Bombardierung des Flüchtlingslagers von Rafah und der Zerstörung vieler Häuser. Viele weitere palästinensische Jugendliche wurden verwundet, einige schwer, wie auch bei dem Bombardement, dessen Opfer Iman wurde, denn die Israelis haben auch die Schule des bevölkerungsreichsten Viertels von Rafah nicht verschont. Diese 13 Palästinenser waren in der Schule und nicht beim Steinewerfen.
Wenn diesem x-ten Bombardement weitere Mörserangriffe folgen werden, so wird dies keine Provokation sein, sondern ein verzweifelter Versuch der Verteidigung.
Wir wiederholen, dass die einzige Lösung darin besteht, dass das palästinensische Volk über sein Land selbst bestimmen kann, dass die Siedler nicht weiter Gaza und das Westjordanland in Streifen teilen können, als wenn es ihr göttliches Recht wäre, in einem Land zu leben, das ihnen nicht gehört.
Der Rest ist Wahnsinn und Heuchelei. Die überlassen wir den anderen!

Cinzia Nachira

Cinzia Nachira schrieb auch über die neue Intifada.



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