Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.11 vom 23.05.2001, Seite 12

Wahlen in Italien

Bei näherem Hinsehen...

Wahlen haben immer zwei Seiten: ein politisch-institutionelles Ergebnis, das ein Kräfteverhältnis auf der Ebene der politischen Gremien, und ein zahlenmäßiges Ergebnis, das eine Stimmungslage in der Gesellschaft ausdrückt. Das Mehrheitswahlrecht verzerrt die Spiegelung der gesellschaftlichen Stimmungslage besonders stark. Der Wahlsieg Berlusconis, auf institutioneller Ebene erdrückend, erweist sich beim genaueren Studium der Stimmverteilung als differenzierter und fragiler. Dazu dient eine Analyse nach absoluten Stimmenzahlen. 37 Millionen Stimmen wurden insgesamt gültig abgegeben; 400.000 weniger als bei den letzten Parlamentswahlen 1996. Das Jahr 1996 dient als Vergleichsdatum für die Stimmentwicklung.

1. Das "Lager" der Rechten hat nicht zugelegt, sondern Stimmen verloren.
• Das rechte Bündnis "Haus der Freiheiten" hat gegenüber 1996 (19.548.557) 1,2 Millionen Stimmen verloren (18.348.557). Prozentual ist es um 2,7% der Stimmen zurückgegangen (von 52,2% auf 49,5%).
• Das "Lager" der Linken, der Olivenbaum, hat seine Stimmenzahl in etwa gehalten: 12.942.836 Millionen Stimmen in 2001 (13.017.001 in 1996). Allerdings nur, weil ihm 600.000 Stimmen von der Partei der italienischen Kommunisten (Armando Cossutta) zugeflossen sind, die sich 1998 von Rifondazione abgespalten hat.
• Rifondazione hat gegenüber 1996 1,3 Millionen Stimmen verloren: 600.000 hat Cossutta in den Olivenbaum mitgenommen, 700.000 gingen anders an die DS verloren.
Einen Stimmenaustausch zwischen dem rechten und dem linken "Lager" hat es nicht gegeben. Dafür gab es zwei andere Tendenzen: eine massive Umschichtung der Stimmen innerhalb der beiden Lager und ein Stimmenverlust von beiden Lagern an die beiden neuen bürgerlichen Parteien im Zentrum, die Europäischen Demokraten um den Gewerkschaftsführer Sergio D‘Antoni, und das Italien der Werte um Antonio Di Pietro — sie erhielten zusammen 2.329.000 Stimmen. Davon kamen etwa 1,3 Millionen vom Olivenbaum, etwa 1,2 Millionen vom Haus der Freiheiten.
Die beiden anderen Parteien, die sich weder dem rechten noch dem linken "Lager" zuordnen wollten, die Sonnenblume und die Radikale Partei, sind auf der Ebene der parlamentarischen Vertretung völlig abgesoffen, aber in absoluten Stimmen haben sie kaum verloren bzw. sogar zugelegt.
Rutelli hat also recht, wenn er sagt: Die Wahlen waren kein Plebiszit für Berlusconi. Es ist falsch, wenn gesagt wird: die Italiener haben Berlusconi in ihrer großen Mehrheit gewollt; 53% der Italiener haben Berlusconis Bündnis nicht gewählt, die Vorbehalte in der Gesellschaft ihm gegenüber bleiben sehr groß.

2. Das Mehrheitswahlrecht hat die Tendenz zur Dominanz einer Partei innerhalb eines jeden Lagers verstärkt.
• Die Partei Berlusconis, Forza Italia, hat sich als die neue dominierende rechtsbürgerliche Kraft durchgesetzt — auf Kosten ihrer Bündnispartner. Sie hat 3 Millionen Stimmen gewonnen (von 7.721.149 Stimmen 1996 auf 10.921.335 Stimmen 2001). Die Faschisten um Alleanza Nazionale hingegen haben 1,4 Millionen Stimmen verloren; die Lega Nord über 2,3 Millionen und die beiden anderen Überreste der alten Christdemokratie (CdU und CCD) zusammen fast eine Million Stimmen.
• Der Olivenbaum hat in der Gestalt der Margerite, das Wahlbündnis des Oppositionsführers und früheren Bürgermeisters von Rom, Francesco Rutelli, eine zweite gleichstarke Wurzel erhalten. Die Margerite hat 5.374.266 Stimmen gewonnen, ca. 1,2 Millionen mehr als die vergleichbare Koalition 1996. Bei den Regionalwahlen im vergangenen Jahr kamen diese Parteien zusammen noch auf 8,6% der Stimmen; jetzt waren es 14,5% bei den Verhältniswahlen zu Kammer.
• Mit dem Anwachsen dieses neuen bürgerlichen Standbeins im Olivenbaum geht der Kollaps der Linksdemokraten (DS, Nachfolgerin der ehemaligen PCI) einher: Sie haben über 1,7 Millionen Stimmen verloren (und sind bei 6.145.569 gelandet). 1996 hatte die DS 21,1% der Stimmen; jetzt 16,6%.
• Zusammengenommen hat die Linke im eigentlichen Sinne — DS, PdCI, Rifondazione und Sonnenblume — gegenüber 1996 2,6 Millionen Stimmen verloren. Die DS sind zwar im Olivenbaum stärkste Partei geblieben, aber sie sind politisch, nicht nummerisch, die größte Verliererin der Wahl; die Lega Nord hat zwar mehr Stimmen verloren, befindet sich jedoch im Lager der Sieger; am anderen Ende hat Rifondazione ebenfalls Stimmen verloren, hat sich aber als einzige politische Kraft außerhalb der beiden "Lager" behaupten können; jenseits der Rechten und des Olivenbaums hat nur Rifondazione die 4%-Hürde geschafft.

3. Ist Rifondazione an der Wahlniederlage der Linken schuld?
Vor allem die am nächsten rechts von Rifondazione stehenden politischen Kräfte, die DS, aber auch die Zeitschrift Il Manifesto, haben Rifondazione vorgeworfen, am Wahldebakel der Linken schuld zu sein, weil sie sich überhaupt zur Wahl gestellt hat. Dazu ist zu sagen:
• bei den Wahlen zur Kammer, die zu einem Viertel per Verhältniswahl, zu drei Vierteln per Mehrheitswahlrecht gewählt wurde, hat Rifondazione nur Kandidaten auf der Verhältniswahlliste aufgestellt. Auf die Aufstellung von Wahlkreiskandidaten hat sie verzichtet;
• bei den Wahlen zu Senat hat sie in 137 Wahlkreisen Kandidatinnen und Kandidaten aufgestellt. Reich rechnerisch kann man sagen, daß bestenfalls in 30 Fällen Kandidaten des Olivenbaums gewählt worden wären, wenn Rifondazione nicht kandidiert hätte. In allen anderen Fällen ist in dem jeweiligen Wahlkreis entweder der Olivenbaum trotz der Kandidatur von Rifondazione durchgekommen, oder er hatte auch mit Rifondazione keine Chance.
Der Olivenbaum zählt im Senat aber 49 Sitze weniger als das Haus der Freiheiten. Das Argument stimmt also auch rechnerisch nicht.

Die Jugend hat für Berlusconi gestimmt.

Für die Kammer gilt das aktive Wahlrecht ab 18 Jahren, für den Senat ab 25 Jahren. Berlusconi und Fini haben in der Kammer 4 Millionen Stimmen mehr bekommen als im Senat; der Olivenbaum kam in beiden Häusern auf dieselbe Stimmenzahl; die Gewerkschaftsliste D‘Antoni sprach die Alten an — sie erhielt im Senat fast 900.000 Stimmen mehr als in der Kammer; bei Di Pietro war es umgekehrt; Rifondazione bekam in der Kammer 160.000 Stimmen mehr als im Senat.
In dieser Stimmverteilung schlagen sich zehn Jahre Dominanz der neoliberalen Ideologie nieder, wo das Unternehmen mehr gilt als die Arbeit, die Konkurrenz mehr als die Solidarität, der individuelle Aufstieg mehr als der Wohlfahrtsstaat nach Regionen. Es ist dieser Wandel im gesellschaftlichen Klima, der dem rechten Bündnis in der Kammer fast die Hälfte der Stimmen (49,4%) sichert, während es im Senat nur 42,5% sind.

Regionale Unterschiede

Das Haus der Freiheiten hat im Norden erheblich Stimmen eingebüßt — nicht nur wegen der Lega, auch AN und selbst Forza Italia waren rückläufig. Die unbestritten stärkste Bastion von Forza Italia ist Sizilien — dort hat die Partei jeden Wahlkreis gewonnen.
Hochburg des Olivenbaums (und der DS) ist nach wie vor Mittelitalien; hier und im Norden hat er (vor allem durch die Erfolge der Margerite) erheblich zugelegt; im Süden hingegen weiter an Stimmen verloren.

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