Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung Nr.12 vom 07.06.2001, Seite 13

Maul- und Klauenseuche

Behandlung schlimmer als die Krankheit

Auf der ganzen Welt konnten die Fernsehzuschauer glauben, das ländliche Großbritannien sei von einer Plage biblischen Ausmaßes heimgesucht worden. Während sich die Maul- und Klauenseuche (MKS) zur "Krise" entwickelte und TV-Nachrichten von einer ungeheuren Anzahl geschlachteter Tiere berichteten, flimmerten schreckliche Bilder von riesigen Haufen verrottender oder verbrannter Tierkörper über den Bildschirm.
Der weitverbreitete Eindruck, in Großbritannien sei auf dem Land die Apokalypse eingebrochen, verstärkte sich noch durch bisher nicht gekannte Einschränkungen der Freizügigkeit der Menschen in ländlichen Gebieten (mit Bußgeldern bis zu 500 Pfund): viele öffentliche soziale, sportliche oder politische Veranstaltungen wurden "freiwillig" gestrichen, die britischen Parlamentswahlen von Mai auf Juni verschoben.
Mit einem Akt, der direkt dem Drehbuch eines japanischen Science-fiction-Films entnommen sein könnte, beauftragte die Labour-Regierung die Armee mit der Bekämpfung des Virus, der bekämpft wird wie Godzilla persönlich; an die Spitze der Einsatzgruppe wurde ein Offizier gestellt, der sich bisher als Spezialist in der "Terrorismus"-Bekämpfung einen Namen gemacht hatte.
Die Zuschauer mußten den Eindruck erhalten, die MKS-Epidemie sei eine ebenso große Bedrohung für die Menschheit wie die Beulenpest, das Ebola-Virus und BSE. Welch andere Begründung könnte eine Regierung für derartig schwerwiegende Beschränkungen der Grundrechte und für die Zerstörung der Lebensgrundlagen hunderttausender kleiner Farmer, Landarbeiter und Kleinunternehmer ins Feld führen?

Nicht gefährlich

Trotz der von bürgerlichen Massenmedien und Politikern entfachten Hysterie ist MKS keine gefährliche Krankheit — weder für das Vieh noch für Menschen. Die Massenschlachtung von Tieren sollte die Profite der Großindustrie retten, nicht Menschenleben.
Menschen können MKS nur sehr selten bekommen. Und wenn, dann treten bei Menschen die Symptome nicht ernster auf als bei einer stärkeren und länger anhaltenden Erkältung mit unangenehmen Schmerzen im Mundbereich. Seit der Mitte des 19.Jahrhunderts gibt es nur 45 bestätigte Fälle. Eine Übertragung von Mensch zu Mensch ist bisher nicht verzeichnet worden.
Die Krankheit ist auch für die überwältigende Mehrheit der infizierten Farmtiere nicht tödlich. Wenn sie nicht behandelt wird, sterben etwa 5% der Tiere — meist die sehr jungen, sehr alten und sehr schwachen. Der Rest leidet zwei bis drei Wochen an Mundgeschwüren und Blasen an den Klauen und erholt sich dann wieder.
Bei den Tieren lässt der Appetit nach und dementsprechend erreichen sie nicht ihre normale Größe. Milchkühe produzieren dauerhaft weniger Milch. In den meisten Dritt-Welt-Ländern heute, in Großbritannien bis Mitte des 19.Jahrhunderts und im restlichen Europa bis zum frühen 20.Jahrhundert akzeptierten die Kleinbauern die MKS einfach als eine vorübergehende Unbequemlichkeit.
Es sind die großen Agrarfirmen, die fast den gesamten Erlös von 1,2 Milliarden Pfund jährlich aus dem britischen Export von Fleisch und lebendem Vieh einstreichen, die hysterisch auf MKS reagieren.
Das moderne kapitalistische Agrobusiness betreibt seine Tierfarmen fabrikmäßig. Von jedem Tier wird erwartet, dass es am Ende seiner genau berechneten Lebensspanne eine genau berechnete Menge Fleisch abliefert. Jedes Kilogramm, das ein Tier unter dieser Zielmenge liegt, oder jeder zusätzliche Monat, dem man ihm zu leben erlaubt, bedeutet ein Mehr an Produktionskosten je Kilogramm. Die großen Supermarktketten kaufen ungeheure Mengen Fleisch von den billigsten Anbietern. So führt bereits eine geringfügige Senkung der Fleischproduktion zum Rückgang von Profiten und Märkten.
Ist die Auswirkung von MKS auf Tiere auch relativ mild, so ist die Krankheit doch sehr ansteckend. Sie kann durch Wind, durch die Bewegung infizierter Tiere oder durch Menschen, die mit dieser Krankheit Kontakt hatten, verbreitet werden.
Das britische Landwirtschaftsministerium besteht darauf, die beste Taktik, mit der Epidemie umzugehen, sei die, alle infizierbaren Tiere [Schweine und Wiederkäuer] innerhalb eines Radius von 2 Meilen um jede Farm, auf der MKS vorgekommen ist, zu schlachten. Bis zum 3.Mai wurden mehr als 2,4 Millionen Tiere geschlachtet. Die überwältigende Mehrheit war nicht infiziert. Auf etwa 1540 Farmen war zu diesem Zeitpunkt MKS aufgetreten, im übrigen Europa waren 22 Bauernhöfe betroffen.
Die Politik der Massenschlachtung wurde in Großbritannien bei MKS erstmals Anfang des 20.Jahrhunderts auf Betreiben reicher, aristokratischer Viehzüchter durchgeführt. Sie dachten nicht an die enormen Verluste der kleinen Farmer, wenn nur die Seuche ihre wertvollen Herden nicht erreichte. Selbstverständlich waren die Herden dieser Züchter von der Schlachtung ausgenommen und sie durften ihre Herden isolieren. Sie betrachteten MKS als eine Krankheit, die sie mit ernsten wirtschaftlichen Verlusten bedrohte, und sie hatten die politische Macht, ihre Ansichten gegenüber den anderen durchzusetzen.
Daran hat sich bis heute wenig geändert, außer dass es nun das Agrobusiness und die Supermarktketten sind, die das Sagen haben.
Abigail Woods, Historiker der Tiermedizin an der Universität Manchester, schrieb im Guardian (28.2.): "Es waren die Wirtschaftsinteressen von wenigen Einflussreichen, die ursprünglich den Ausschlag für eine staatliche Kontrolle über MKS gaben. Nachdem jedoch die ersten Erfahrungen mit diesen weitreichenden Maßnahmen gemacht waren — die Krankheit selbst konnte damit nicht unter Kontrolle gebracht werden — , wurden sie mit der Krankheit selbst identifiziert. Man begann, das Vorkommen von MKS als wirtschaftliches Desaster zu betrachten … weil damit die Zerstörung von Herden und die Verhinderung ihrer Vermarktung verbunden war." Die Behandlung der Krankheit war schlimmer als die Krankheit selbst.

Impfung

Selbst wenn man akzeptiert, dass infizierte Tiere getötet werden sollen, gibt es Alternativen zur verschwenderischen Massenschlachtung nichtinfizierter Tiere. Für den Tpy von MKS, der Großbritannien aufgetreten ist, steht ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung. Millionen von Impfdosen werden in Großbritannien und in der EU gelagert. Nichtinfizierte Tiere benötigen eine Spritze und sechs Monate später eine weitere. Schon wenige Tage nach der Impfung werden die Tiere gegen MKS immun.
In Tunesien, Marokko und Algerien war MKS 1999 ausgebrochen. Innerhalb von sechs Wochen war die Krankheit durch Impfungen unter Kontrolle. Gegenwärtig wird in Brasilien geimpft, um einen ersten Ausbruch von MKS in diesem Land unter Kontrolle zu halten. Die Methode war bis 1991 auch in Europa erfolgreich, bis die EU den britischen Vorschlag akzeptierte, die routinemäßige Impfung des Viehs zu stoppen und die Politik der Massenschlachtung zu übernehmen.
Nach dem New Statesman vom 2.April hätte die Durchführung von Impfungen während der jetzigen Epidemie in Großbritannien 15 Millionen Pfund gekostet, das Massenschlachten aber kostet schätzungsweise bis zu 200 Millionen Pfund.
Warum also haben die britische Regierung und der vom Agrobusiness dominierte britische Bauernverband die Impfpolitik zurückgewiesen? Weil die britischen Fleisch- und Viehexporteure nicht bereit waren, eine längere Unterbrechung ihres lukrativen Handels zu akzeptieren, wie hoch die Kosten für die britische Bevölkerung auch immer sein würden.
Laut dem New Scientist vom 31.März hätten die britischen Viehexporte in MKS-freie Länder wie USA, Japan, Australien und Neuseeland für zwölf Monate nach der letzten Impfung oder der letzten MKS-Infektion ausgesetzt werden müssen, wenn Großbritannien die Impfoption gewählt hätte. Werden die geimpften Tiere gekeult, erlangt Großbritannien den früheren "seuchenfreien" Status wieder. Lässt man die geimpften Tiere am Leben, wird der "seuchenfreie" Status zwei Jahre nach dem letzten Krankheitsfall wiederanerkannt.
Wenn Großbritannien geimpft hätte, wären die britischen Exporte auch nicht vollständig gestoppt worden. Die EU hätte Exportbeschränkungen für einzelne Regionen verhängt, in denen geimpft wurde, aber die EU verbietet nicht notwendigerweise alle Fleisch- und Viehimporte aus Ländern, in denen Impfungen stattfinden. Der Kotau der britischen Labour-Regierung vor dem Agrobusiness und den Supermarktketten hat zu enormen Umwelt- und wirtschaftlichen Kosten geführt.

Vergiftung

Ende März warnte das National Environmental Technology Centre (NETC), dass durch die Verwendung von Benzin und Kerosin zum Verbrennen der toten Tiere karzinogene Dioxine in die Atmosphäre entweichen. Am 22.April berichtete der Independent, das britische Umweltministerium verfüge über Zahlen, die zeigten, dass die Verbrennung des gesamten gekeulten Viehs mehr Dioxin in die Luft jagt als die größten Fabriken Großbritanniens zusammengenommen in einem Jahr.
Das NETC gab auch eine Warnung heraus, dass vergrabenes Vieh die Wasserversorgung in ländlichen Gebieten vergiften könne. Hunderttausende aufgeblähte und verfaulende Kadaver wurden bis zu einer Woche lang im Freien liegen gelassen, bevor sie verbrannt und/oder vergraben wurden. Ratten, Füchse und Krähen haben von den verrottenden Überresten gefressen und verbreiten damit potenziell Krankheiten, die weit schlimmer sind als MKS.
Aus Angst, mit dem wachsenden Berg von nicht beseitigten Kadavern nicht fertig zu werden, stimmte das Landwirtschaftsministerium zu, das Vieh solle vergraben statt verbrannt werden — trotz Befürchtungen, dass dadurch die weitaus gefährlichere BSE- Seuche über das Grundwasser verbreitet werden könnte. Die Times berichtete am 4.April, 900 Schafe und Rinder, die auf einer Farm in der Grafschaft Durham geschlachtet worden waren, müssten ausgegraben werden, weil sie eine Frischwasserquelle vergiftet hatten.
Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung auf dem Lande — und die hysterischen Presseberichte über die Seuche — fügten der Tourismusindustrie im nördlichen England und in Schottland schweren Schaden zu. Man schätzt, dass der Tourismus in Großbritannien fünfmal so viel Arbeitsplätze unterhält wie die Landwirtschaft. In einigen Regionen gingen die Einkünfte aus dem Tourismus bis zu 80% zurück. Die Zahl der Besucher aus Übersee sank im März um 25—30%.
Am 22.März berichtigte das Wirtschaftsforschungsinstitut CEBR seine Prognose über das britische Wirtschaftswachstum für 2001 von 2,3% auf 2% und sagte voraus, der MKS-Ausbruch werde die Wirtschaft letzlich bis zu 7 Milliarden Pfund kosten. Allein der Verlust aus entgangenen Einnahmen aus dem Tourismus betrage 5 Milliarden Pfund.

Kapitalismus

Ein Monster geht um in den ländlichen Gebieten Großbritanniens, und es zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her, aber es ist nicht das MKS-Virus. Dieses Monster ist der Monopolkapitalismus.
80% der Produktion in Großbritanniens 168000 Farmen werden von Agrobusiness-Konzernen kontrolliert. Die 10% größten Schaf- und Rinderfarmen produzieren 35% des Outputs. Der Druck der Großunternehmen und die Politik der britischen Regierungen vertreiben die kleinen Farmer von ihrem Land. Vor zehn Jahren gab es noch 233000 Farmen.
Traditionelle Familienbetriebe mit Mischproduktion werden durch riesige Betriebe ersetzt, die einen monokulturellen Anbau oder intensive Viehhaltung betreiben — ihre Eigner sind die enthusiastischsten Förderer von genetisch veränderten Lebensmitteln).
Die neoliberale Politik der Deregulierung, Kürzung von Regierungsausgaben und Monopolbildung zerstören die ländlichen Gemeinden in England, Wales und Schottland. So wie die Anzahl der kleinen Farmen gesunken ist, so auch die Anzahl der damit verbundenen Kleinbetriebe und kleinen Geschäftsleute.
Lokale Bankfilialen, Postämter, Supermärkte, Schulen, Buslinien und kommunale Dienststellen wurden geschlossen. Seit 1991 hat die Zahl der örtlichen Schlachthäuser von 1000 auf 350 abgenommen.
Ganz im Sinne des Agrobusiness wird die MKS-"Krise" — und die "Not"maßnahmen der Regierung — der letzte Sargnagel für viele der noch verbliebenen kleinen Farmer in Großbritannien werden. Kleine Farmer, die ihre wertvollen Herden verloren haben, wurden mit Mindestmarktpreisen entschädigt. Weil MKS zu der Zeit auftrat, wo die Lämmer geboren werden, war der Beschluss des Landwirtschaftsministeriums, dass es für die ungeborenen Lämmer gekeulter trächtiger Schafe keine Entschädigung geben werde, ein weiterer harter Schlag. Es wird keine Entschädigung für die Kosten der Farmdesinfizierung geben. Viele kleine Farmer, die bei Banken hoch verschuldet sind, werden Bankrott machen.
Wie der Guardian (11.4.) berichtet, "plant die Regierung eine wesentliche Reduzierung der Anzahl der Farmen als Bestandteil eines Erholungspakets für die britische Landwirtschaft im Zuge des MKS-Ausbruchs … Die Minister erwarten, dass bis 2005 25% der Farmen — fast alle kleinen — geschlossen werden oder fusionieren, wobei 50000 Menschen gezwungen sein werden, die Landwirtschaft zu verlassen … Das Landwirtschaftsministerium ist der Meinung, dass große Farmen produktiver sind und wahrscheinlich erfolgreicher am Wettbewerb im zunehmend liberalisierten Welthandel mit Nahrungsmitteln teilnehmen können."
Laut dem Guardian sagt das Landwirtschaftsministerium voraus, dass die Zahl der Farmer bis 2006 um 3,5% pro Jahr zurückgehen wird. Sie könnte 2006 auf unter 300000 fallen, das sind 100000 weniger als 1994. Derzeit gibt es etwa 350000 Farmer in Großbritannien.
Es ist die zerstörerische Gier des Kapitalismus nach Maximalprofit, die den Weg für die MKS- "Krise" und andere Tierkrankheiten geebnet hat. Schafe und Rinder wurden einst innerhalb eines relativ engen Radius aufgezogen, getötet und konsumiert. Ausbrüche von Krankheiten konnten viel einfacher unter Kontrolle gehalten und ihre Ursache zurückverfolgt werden.
Heute werden ungeheure Mengen Tiere über große Entfernungen transportiert, um sie in weit abgelegenen Schlachthöfen zu töten oder sie lebend nach ganz Europa zu exportieren. Dadurch kann sich die Krankheit rasch verbreiten. Der durch den Transport über lange Strecken bei den Tieren hervorgerufene Stress schwächt überdies ihr Immunsystem erheblich.
Die fabrikmäßig betriebene moderne kapitalistische Landwirtschaft schafft die Bedingungen dafür, dass Krankheiten sich zu Seuchen entwickeln und verbreiten können. Große Mengen von Tieren werden gezwungen, auf eng begrenztem Raum zu leben. Auch dies verursacht Stress. Wenn eine Seuche ausbricht, werden dann noch mehr Tiere infiziert.
Gegen das zunehmende Krankheitsrisiko mischen die Produzenten Antibiotika ins Viehfutter. Aber dies trägt nur dazu bei, dass die Krankheitskeime gegen Antibiotika resistent werden.
Im Namen der "Liberalisierung des Handels" innerhalb der EU sind Gesundheitsüberprüfungen und andere Maßnahmen gegenüber importierten Tiere weggefallen. Es ist heute fast unmöglich für europäische Konsumenten, die Quelle des Fleischs, das sie kaufen, zu identifizieren — ein Lamm aus Großbritannien braucht sich nur zwei Wochen in Frankreich aufgehalten haben, und sein Fleisch kann von den Supermarktketten als "französisches Lamm" deklariert werden!

Norm Dixon

Gekürzt aus: Green Left Weekly (Sydney), Nr.448, 16.5.2001.



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